„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Juni 2016

Adam Czirak/Gerko Egert (Hg.), Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016

(Neofelis Verlag, 26.00 €, Softcover, 276 S.)

(Adam Czirak / Gerko Egert, Dramaturgien des Anfangens. Einleitung, S.7-22; Gerald Raunig, Aller Anfang ist dividuell, S.23; Jörn Etzold, Rousseau und der Anfang des Theaters; S.35; Karin Harrasser, Fall in den Zeitkristall. Choreographien des Anfangens und Weitermachens, S.59; Julia Bee, Dramatisierungen des Anfangens. Die Intros von Homeland, True Blood und True Detective, S.75; Christoph Brunner, Relationaler Realismus? Zur politischen Ästhetik der Dramatisierung, S.107; Heike Winkel, Jenseits von Tragödie und Farce. Neues politisches Kino in Russland und seine Popularisierung: Chto delat und Svetlana Baskova, S.131; Leena Crasemann, Leere Leinwand, weißes Blatt. Der Anfangsmoment künstlerischen Schaffens als topisches Bildmotiv, S.161; Matthias Warstat, Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater, S.185; Krassimira Kruschkova, Performance für Anfänger. Nicht(s)tun, S.203; José Gil Tanz – Prolog, S.219; Erin Manning, Den nächsten Schritt beginnen, S.235; Sibylle Peters, Starting over. Der Unwahrscheinlichkeitsdrive. Ein Forschungsbericht, S.253)

Ich beginne meine Rezension mit einem Verweis darauf, wie die Herausgeber Adam Czirak und Gerko Egert ihre Einleitung zu „Dramaturgien des Anfangens“ (2016) mit den Schwierigkeiten beginnen, die Lacan immer gehabt hatte, seine Seminare zu beginnen. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.7f.) Jedem Anfang wohnt ein Risiko inne: nämlich einen Fehler zu machen. Und so ist es nur weise, diese Fehler jemand anderes machen zu lassen und ihm dabei zuzuschauen, so wie jener römische Feldherr, dem man den Beinamen „Cunctator“ (ca. 275-203 v.Chr.) verliehen hatte.

Rezensenten haben da einen entscheidenden Vorteil, um den sie ein Foucault, der lieber in einen schon laufenden Diskurs einstieg, als ihn zu beginnen (vgl. Czirak/Egert 2016, S.9), hätte beneiden können, wenn er ihnen auf die Schliche gekommen wäre. Denn auch Rezensenten fangen niemals selber an, sondern sie befassen sich stets mit dem, was schon andere ohne sie angefangen haben.

Auch Czirak und Egert problematisieren das Anfangen als ein schwieriges Unterfangen. Anfänge, so stellen die Herausgeber fest, „sind immer auch durchwaltet von einer weniger beherrschbaren performativen Kraft des Diskurses, die den initiierenden Charakter der Rede gefährdet und aufbricht“. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.8) – Diese Feststellung gilt sicher nicht nur für die performative Kraft des Diskurses. Es ist allemal sicherer, jemand anderes anfangen zu lassen, wie der erwähnte römische Feldherr. Tatsächlich gibt es einen Beitrag in diesem Buch, der den Wert des Zauderns auch in einer umfassenderen Perspektive würdigt. (Vgl. Krassimira Kruschkova, S.203-218)

In allen Bereichen des menschlichen Denkens und Handelns befinden wir uns immer schon in einem unübersehbaren Fluß von Ereignissen und in einer unendlichen Reihe von Werken, die schon vor uns begonnen haben und die wir allenfalls fortsetzen können, so originell uns unser eigenes Projekt aktuell auch zu sein scheint. Jeder scheinbare Anfang wird auf diese Weise fragwürdig, was sogar für Gottes Schöpfungsakt gilt. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.14) Allerdings zitieren Czirak und Egert die betreffende Textstelle aus der Genesis nicht nach der Buber-Rosenzweigschen Bibelübersetzung, sondern aus der „Stuttgarter Erklärungsbibel“, so daß ihnen bei ihrer Pointe entgeht, daß schon die Bibelautoren um die Schwierigkeiten des Anfangens gewußt hatten. Der „Stuttgarter Erklärungsbibel“ zufolge schuft Gott Himmel und Erde am Anfang, während er Buber/Rosenzweig zufolge die Erde im Anfang schuf. Und genau dieses „im“ Anfang macht nach Czirak und Egert den Unterschied aus, denn wer sich im Anfang befindet, ist in ein Geschehen involviert, das schon ohne ihn begonnen hat: „Szenarien des Anfangens rücken also Handlungen in den Blick, die die Subjekte eines Anfangens erst konstituieren – und nicht umgekehrt: Subjekte im und nicht am Anfang.“ (Czirak/Egert 2016, S.22)

Die Einleitung von Czirak und Egert ist wirklich lesenswert und zeugt von einer profunden Kenntnis der Literatur. Dennoch möchte ich hier auf einen Dissens zwischen mir und den beiden Herausgebern zu sprechen kommen. Mit Verweis auf den „Theatermacher Antonin Artaud“ fokussieren sie die Anfangsproblematik darauf, wie das Denken mit dem Denken beginnt bzw. wie das Denken das Denken „erzeugt“. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.14) Demnach scheint es vor allem zwei Arten des Denkens zu geben: eines, das sich von einem „präexistente(n) Denken“ her motivieren läßt, also ein primär intuitives Denken, und eines, das „das noch nicht Existierende“ allererst hervorbringt und deshalb nicht „kausal auf etwas Vorausliegendes“ reduziert werden kann. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.14) Dieses zweite Denken beinhaltet einen Konstruktivismus, und Czirak und Egert interessieren sich im Namen der „Differenz“ vor allem für diese Denkform; und genau mit dieser gegen das intuitive Denken gerichteten Ausschließlichkeit habe ich ein Problem.

Cziraks und Egerts Interesse an der Differenz des subjektiven Denkakts hat gute Gründe. Mit der Differenz geht es nämlich um eine Lücke in der Reihe der Anderen, die es dem Einzelnen ermöglicht, in sie einzusteigen und seinen eigenen Beitrag hinzuzufügen. Ich habe mich dazu schon in diesem Blog geäußert. (Vgl. zur Montagetechnik von Narrationen meine Posts vom 20.03.2011, 24.02.2013 und vom 06.08.2014) Czirak und Egert kommen mehrmals explizit auf diese performative Funktion der Lücke zu sprechen. Sie bzw. die Differenz ‚bricht‘, so schreiben die beiden Herausgeber, die „lineare(n) Narrationen“, die Folge auf Folge lückenlos aneinanderreihen, auf und lädt den Zuhörer, Zuschauer bzw. Leserin und Leser dazu ein, am gemeinsamen Handeln, Erleben und Denken teilzunehmen. (Vgl. Czirak/Egert 2016, S.17) Der ‚Anfang‘, um den es hier geht, besteht also nicht darin, mit fundamentalontologischer Emphase auf der singulären Ursprünglichkeit eines Ereignisses zu beharren (vgl. Czirak/Egert 2016, S.16), sondern das Ereignis, um das es hier geht, bezeichnet lediglich „das Eintreten des Betrachters in den Vorführungsraum“ (Czirak/Egert 2016, S.18) bzw. den Moment des Eintretens eines Subjekts in die aktuelle Folge eines schon zuvor begonnenen Geschehens. Zugleich bildet dieses Ereignis den Moment, qua Eintritt in die Lücke, an dem sich das Subjekt als Subjekt allererst konstituiert. (Vgl. das entsprechende Zitat weiter oben (Czirak/Egert 2016, S.22))

Die Differenz des Subjekts wird also nicht durch das Subjekt in die bestehende Reihe eingebracht, sondern durch die Reihe selbst erzeugt bzw. ‚konstituiert‘. Damit aber ordnen Czirak und Egert das menschliche Subjekt einer bestehenden Reihe von Ausdrucksformen bzw. ‚Anfängen‘ nicht einfach nur zu, sondern unter. Die Position, die die beiden Herausgeber vertreten, wäre also selber ontologisch. Die Anfänge, durch die sie das Subjekt allererst konstituiert sehen, verlagern sich in ihrer Reihung immer weiter rückwärts und verweisen mit diesem Regreß implizit auf einen allerersten Ursprung. Wir haben es mit einer unvermeidbaren Mythologisierung der Anfänglichkeit zu tun, wie sie mit jedem infiniten Regreß einhergeht.

Tatsächlich aber zeigt sich in einigen der folgenden Beiträge des Herausgeberbandes, daß die betreffenden Autorinnen und Autoren mit Gilles Deleuze (1925-1995) die ‚Lücke‘ als Mitte eines umfassenden Vermittlungsprozesses verstehen, in dessem Gravitationszentrum alle Reihen konvergieren. Positiv gewendet, im Sinne eines Humanismusses, bildet diese Mitte den subjektiven Fokus einer gleichermaßen individuellen wie intersubjektiven Perspektive. Die Autorinnen und Autoren argumentieren aber in eine andere Richtung: es ist diese Mitte selbst, als Inszenierung bzw. Dramaturgisierung, die die subjektive Aufmerksamkeit einfängt, mediatisiert und die Individuen in ihren kollektivierenden Mahlstrom lenkt.

Ich halte dagegen, daß der subjektive Akt des Eintritts in eine aktuelle Reihe der Sinnvermittlung seine eigene phänomenale Würde behalten und weder einem Regreß noch einer anonymen Mitte anheimfallen sollte. Dazu gehört, daß jenes intuitive Moment des Denkens, das auf ein dem expliziten Denken vorgelagertes Denken verweist, dem konstruktiven Moment der Erzeugung neuer Gedanken nicht einfach nur unvermittelt gegenübergestellt werden sollte. Beides – Intuition und Differenz – bildet vielmehr eine Einheit, und diese ist über das individuelle Sinnverstehen vermittelt, das niemals mit sich identisch ist. Jedes Sinnverstehen stiftet neuen Sinn. Der Philosoph Franz Fischer (1929-1970) hat die Struktur dieses Sinnverstehens als Prozeß des Sinns von Sinn beschrieben, der durch die Dialektik von Intuition und Differenz in Gang gehalten wird.

Diese Problematik zieht sich vor allem durch vier der ersten fünf Beiträge des Herausgeberbandes, ausgenommen der Beitrag von Jörn Etzold. Diese Beiträge stammen aus dem Bereich der Theater- und Filmwissenschaften, was ja auch der Titel des Herausgeberbandes nahelegt. Sprache und Denken dieses Fachgebiets sind mir fremd. Der mediale Zugang zur Gesellschaft und zum Menschen vernachlässigt dessen individuelle Subjektivität, wie sich gleich im ersten Beitrag von Gerald Raunig zeigt, der den Menschen vollständig dehumanisiert.

Einen nicht unerheblichen Anteil daran hat die Philosophie von Gilles Deleuze, auf den die betreffenden Autorinnen und Autoren immer wieder zurückgreifen und der sich, wie viele französischen Philosophen, nicht sehr darum kümmert, ob seine Leser verstehen können, was er schreibt. Meine Kritiken bewegen sich bei diesen Beiträgen deshalb immer wieder am Rande des Verstehens entlang, und ich greife auf eine sprachanalytische Vorgehensweise zurück, in der ich weniger auf die Begriffe selbst als vielmehr auf ihre Verwendungsweise eingehe.

Andere Beiträge im vorliegenden Herausgeberband verstehe ich dafür umso besser, im kritischen wie im affirmativen Sinne. Ihre Heterogenität fordert mich zu immer neuen Stellungnahmen heraus. So anstrengend das im einzelnen auch für mich gewesen sein mag: Aufs Ganze gesehen, mit einer kleinen Überraschung am Ende, lohnt es das Buch.

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