„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. April 2016

Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015

(Merve Verlag, 17,00 €, 176 Seiten)

1. Naivität und Kritik
2. Vervierfachung der Objekte
3. Gestalt
4. Autonomie (oder auch nicht)
5. Lebenswelt und Seele
6. Karikaturen statt Expressionen

Harmans objektorientierte Ontologie enthält einige rätselhafte Momente, die für mich nur schwer nachvollziehbar sind, auf die ich mir aber im Rahmen dieser Besprechung irgendwie einen Reim machen muß. Das größte Rätsel für mich ist die Funktion des von Harman vertretenen „Panpsychismus“, den er selbst allerdings bloß als „Polypsychismus“ verstanden wissen will (vgl. Harman 2015, S.150), ohne dabei aber näher zu erläutern, wo für ihn die Grenze zwischen dem Panpsychismus und seinem Polypsychismus verläuft.

Der Panpsychismus scheint für Harman insofern ein wichtiges Moment in seiner Ontologie zu spielen, als die realen Objekte getrennt voneinander und beziehungslos nebeneinander her existieren. Sie können nur indirekt über die sinnliche Oberfläche sinnlicher Objekte miteinander interagieren. Sinnliche Objekte gibt es aber nur für ein Bewußtsein, das sie wahrnimmt und erlebt; deshalb sind es ja auch sinnliche Objekte und nicht reale Objekte. Um also zwei sinnliche Objekte wie Baumwolle und Feuer einander begegnen zu lassen, so daß die Baumwolle in Flammen aufgeht (vgl. Harman 2015, S.57), bedarf es eines Bewußtseins, das den Raum für diese Begegnung eröffnet. Für diese Funktion bildet das menschliche Bewußtsein, das das einzige Bewußtsein ist, das wir kennen, nur ein Modell; denn auch die realen Objekte selbst sind Harman zufolge mit Bewußtsein ausgestattet. Es reicht also, daß irgendein reales Objekt als Brücke für die Begegnung von zwei sinnlichen Objekten dient: „... im Falle zweier sinnlicher Objekte wissen wir, dass sich Vertreter ihrer Art nicht berühren, sondern bloß in der Erfahrung eines realen Objekts, das ihnen als Brücke dient, aneinander angrenzen.“ (Harman 2015, S.96f.)

Wenn man davon ausgeht, daß jedem sinnlichen Objekt ein reales Objekt entspricht – Harman selbst äußert sich nicht dazu –, dann interagieren also zwei ansonsten voneinander getrennte reale Objekte mithilfe zweier sinnlicher Objekte, denen ein drittes reales Objekt als Brücke bzw. Medium dient.

Das alles ist, wie gesagt, äußerst rätselhaft. Kommen wir nochmal auf das menschliche Bewußtsein als Modell für eine solche Brückenfunktion zurück. Im Grunde mediatisiert Harman das Bewußtsein. Es erfährt nicht selbst irgendwelche Begegnungen, sondern es ermöglicht sie nur, indem es als Medium für meinen ‚Geist‘, also mein Wahrnehmungs-Ich, und für das sinnliche Objekt dient, mit dem ich es gerade zu tun habe: „Mein Geist und sein Objekt sind in der Intention zwei gleichberechtigte Partner, und die vereinheitlichende Instanz muss beide enthalten. ... beide existieren innerhalb des Objekts, das durch die Relation zwischen mir und dem realen Baum gebildet wird, der sich von den Bäumen, denen man im Alltag begegnet, deutlich unterscheiden kann.“ (Harman 2015, S.143)

Das Bewußtsein ist also die „vereinheitlichende Instanz“ bzw. ein drittes „Objekt“, die bzw. das  meinen ‚Geist‘ und das von mir wahrgenommene sinnliche Objekt ‚enthält‘. Auf dieser sinnlichen Bühne interagiere ich, als reales Objekt, beispielsweise mit einem realen Baum mithilfe jener sinnlichen Objekte, die sich auf dieser sinnlichen Bühne, also in meinem Bewußtsein, tummeln. Tut mir leid: ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken könnte, und wirklich verstehen kann man das sowieso nicht.

Dabei dürfen wir Harman zufolge auch nicht vergessen, daß diese Funktion, die mein Bewußtsein innehat, jederzeit auch von einem anderen realen Objekt übernommen werden kann, „wenn ich nicht als Brücke zwischen sinnlichen Qualitäten diene“. (Vgl. Harman 2015, S.98) Aufgrund des Panpsychismus sind alle realen Objekte mit Bewußtsein versehen und können diese Brückenfunktion übernehmen, ohne daß es dazu der Anwesenheit eines Menschen bedarf. Vielleicht kann man sich das bei der brennenden Baumwolle so vorstellen, daß ein drittes (reales) Objekt anwesend ist, nämlich Sauerstoff, das die Begegnung von Baumwolle und Feuer ermöglicht, indem er diesem Autodafé beiwohnt? – Vom Sauerstoff weiß man, daß es selbst nicht brennt, sondern die Verbrennung nur fördert. Es verhält sich Graham zufolge genauso wie auch das Bewußtsein.

Oder bildet sich vielleicht ad hoc im Feuer ein Bewußtsein, das die Baumwolle und sich selbst als Flamme enthält? Oder andersrum: ist es das Bewußtsein der Baumwolle, das sich selbst als brennbare Materie imaginiert, so daß das Feuer sie verzehren kann? – Ich weiß es nicht. Detailliertere Erörterungen zu dieser Problematik fehlen.

Es ist jedenfalls offensichtlich, daß für Harman das Bewußtsein vor allem als Medium fungiert. Das ist der Kern des Panpsychismus, den er propagiert. Wie ich schon in einem der vorangegangenen Posts festgestellt habe, haben Medien Inhalte, die irgendwie ‚übersetzt‘, d.h. in Phänomene des Bewußtseins verwandelt werden müssen. (Vgl. meinen Post vom 16.03.2016) In Harmans objektorientierter Ontologie ist es umgekehrt: bei ihm müssen die realen Objekte in ‚Inhalte‘ des Bewußtseins übersetzt werden, das selbst bloß ein Medium ist. Dabei verwandeln sie sich in „Karikaturen“: „Die realen Objekte, die sich jedem Kontakt entziehen, müssen irgendwie in die sinnlichen Karikaturen ihrer selbst übersetzt werden, und diese übertriebenen Profile müssen jene kausalen Relationen befördern, die zwischen verborgenen realen Dingen unmöglich sind.“ (Harman 2015, S.95)

Nur wenige andere Worte werden in Harmans Buch so oft oder öfter verwendet wie bzw. als das Wort ‚Karikatur‘. (Vgl. Harman 2015, S.56, 61, 67, 95, 148f.) Damit macht Harman einerseits deutlich, daß auch er ähnlich wenig von den sinnlichen Phänomenen hält wie Heidegger. (Vgl. Harman 2015, S.77) Zugleich wird damit aber auch das menschliche Bewußtsein entwertet. Denn alles was es zu den weltlichen Relationen beizutragen vermag, sind Harman zufolge „übersetzte oder verzerrte Versionen von anderen Objekten“. (Vgl. Harman 2015, S.149) Das subjektive Bedürfnis des menschlichen Bewußtseins, sich vor sich selbst und vor anderen seinesgleichen verständlich zu machen, mündet nicht etwa in die verschiedenen Ausdrucksformen der Kultur und der Liebe, sondern in Karikaturen. Die ganze Formenvielfalt der menschlichen Expressivität wird ignoriert.

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6 Kommentare:

  1. Das Wesen des Menschen, welches ja trotz alledem ein gutes Wesen zu sein hat, macht das phänomenologisch sichtbare des Menschen zur schlichten Karikatur, aus der man eben nichts ableiten darf, was mit dem eigentlichen Wesens des Menschen zu tun hat. Das macht den Eindruck eine Denkverbotes. Und Harmans vierfaches Objekt macht aus diesem Denkverbot eine allumfassende Theorie, die dann gleich alles Phänomenologische miteinbezieht. Auch eine Art, mit Widersprüchlichkeiten umzugehen.

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    1. Es gehört wohl zur Crux des metaphysischen Ansatzes, daß es sich nur im Zirkel des Denkens begründen kann. Aus dem Setzen eines Axioms, der prinzipiellen Unzugänglichkeit der realen Objekte, ergibt sich alles andere denknotwendigerweise. Damit ist unmittelbar ein Denkverbot verbunden: daß man nämlich auch andere Axiome setzen könnte. Das Setzen der Axiome wiederum ist allerdings beliebig. Der Denkzwang ergibt sich erst durch die Setzung.

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  2. Die Aussage, dass Gott ein liebender Vater sei, ist dermassen von akzidentellen Vorstellungen von Gott abgeleitet, dass Harman diese Aussage als absichtliche und bewußte Lüge über Gott bewerten muss. Wie peinlich...

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    1. Ich verstehe nicht ganz, wie Du auf dieses Beispiel kommst. Aber trotzdem paßt es irgendwie. Denn als Vorstellung ist Gott genauso real wie Drachen, Armeen, Nationen und Telephonmasten, denn Graham unterscheidet nicht zwischen physischen und fiktiven Objekten. Mit welchen Eigenschaften ich diesen ‚Gott‘ nun versehe – auch die eines liebenden Vaters –, ist ganz meiner Vorstellung von ihm geschuldet. Graham könnte also gar nicht behaupten, daß diese Eigenschaften nur akzidentell wären.

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    2. Das phänomenologische vermittelt doch nur Akzidentelles nach Graham und ich behaupte jetzt mal einfach, das jegliche Vorstellung von etwas sich am phänomenologischen orientiert oder aus diesem abgeleitet ist. Und gläubige Menschen setzen Gott als real existierend an, was ihn in der Vorstellung zum Objekt macht. Eigentlich passt Grahams Theorie nur im Bezug auf Gott, denn sein Wesen ist uns axiomatisch verschlossen. Und behauptete Wahrnehmungen von Gott unterliegen dem allgemeinen Mißtrauen. Das Wesen des Menschen ist fast eine Entsprechung dazu. Da würde ich eigentlich Grahams Motiv suchen, wenn es nicht so fürchterlich platt wäre. Andererseits ist diese "neue Philosophie" eine Rundumbefreiung vom ernsthaften und verantwortungsvollen Philosophieren.

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  3. Die Wahrnehmung – Du sprichst vom ‚Phänomenologischen‘ – vermittelt nicht einfach nur Akzidentelles. Zur Wahrnehmung gehört ganz wesentlich die Differenz zwischen Innen und Außen. Wir unterscheiden ständig zwischen dem, was wir nur denken, und dem, was wirklich da ist. Sogar die Gläubigen wissen, daß ihr Gott nicht wirklich da ist, wie ein Tisch oder Stuhl. Es sei denn, sie sind völlig plemmplemm. Sie behaupten einfach, daß er wirklicher bzw. realer ist als irgendein Tisch oder Stuhl. So behauptet auch Graham, daß seine „realen Objekte“ realer sind als so ein Tisch oder Stuhl, den wir wahrnehmen können. Dennoch operieren sie alle auf der Basis einer Differenz zwischen dem, was wir wahrnehmen können und was nicht, also zwischen außen und innen. Ansonsten hast Du natürlich recht: mit ernsthafter Philosophie hat das alles nichts mehr zu tun.

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