„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. April 2016

Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015

(Merve Verlag, 17,00 €, 176 Seiten)

1. Naivität und Kritik
2. Vervierfachung der Objekte
3. Gestalt
4. Autonomie (oder auch nicht)
5. Lebenswelt und Seele
6. Karikaturen statt Expressionen

Wenn Graham Harman vom „vierfachen Objekt“ spricht, sind damit zwei Arten von Objekten und zwei Arten von Qualitäten gemeint. Bei der Differenzierung dieser vier Strukturelemente greift er auf Edmund Husserl (1859-1938) zurück, dessen Phänomenologie Harman zu den „bedeutendsten philosophischen Schulen des zwanzigsten Jahrhunderts“ zählt (vgl. Harman 2015, S.29), die er an anderer Stelle als eine „Bewegung“ bezeichnet, die er stets „geschätzt“ habe (vgl. Harman 2015, S.170).

Als Husserls größten „philosophischen Durchbruch“ wertet Graham die Entdeckung „intentionaler Objekte“ im Innern des menschlichen Bewußtseins und deren Beschreibung. (Graham 2015, S.36) Dabei umfaßt der Begriff „intentionales Objekt“ die ganze Bandbreite aller möglichen Objekte in Bezug auf das menschliche Bewußtsein und so weit dieses Bewußtsein sie erlebt bzw. erfährt. Husserl gehört also zu den Korrelationisten bzw. zu den Idealisten, wie Harman sie nennt (vgl. Harman 2015, S.19 und S.30), die sich nur für das menschliche Bewußtsein interessieren und nicht für die Objekte selbst: „Denn so sehr die Phänomenologie behauptet, jenseits des vermeintlichen ‚Pseudoproblems‘ von Realismus und Idealismus zu stehen, stellt sie sich in dem idealistischen Streit voll und ganz auf die idealistische Seite.“ (Harman 2015, S.44)

Dennoch gesteht Harman Husserl wichtige Einsichten in die Struktur intentionaler Objekte – die er selbst lieber als „sinnliche Objekte“ bezeichnet (vgl. Harman 2015, S.36) – zu. Husserl unterscheidet zwischen den eidetischen und den akzidentellen Merkmalen bzw. Qualitäten von intentionalen bzw. sinnlichen Objekten. (Vgl. Harman 2015, S.37)  Eidetische Merkmale gehören zum ‚Wesen‘ eines Objekts, während akzidentelle Merkmale nur den Umständen (Lichtverhältnisse, subjektive Befindlichkeiten etc.) geschuldet sind, unter denen uns ein Objekt gegeben wird.

Harman übernimmt diese Unterscheidung zwischen eidetischen und akzidentellen Merkmalen und macht sie als reale und sinnliche Qualitäten zu Elementen der vierfachen Struktur des Objekts, wobei die sinnlichen Objekte ihre eidetischen bzw. realen Qualitäten mit den realen Objekten gemeinsam haben. Dasselbe gilt auch umgekehrt, denn auch reale Objekte können sinnliche Qualitäten haben. (Vgl. Harman 2015, S.62 und S.123) Allerdings, so Harman, interessiert sich Husserl nicht für reale Objekte, die Harman zufolge vor allem dadurch gekennzeichnet sind, daß sie sich dem menschlichen Zugriff grundsätzlich entziehen. Für Husserl, so Harman, gibt es „überhaupt keine Verborgenheit“: „Stattdessen begegnen wir Husserl zufolge dem intentionalen Objekt immer schon direkt in der Erfahrung und verwenden unsere Energie darauf, es ernst zu nehmen.“ (Harman 2015, S.35)

Für Husserl gibt es also nur eine dreifache Struktur des Objekts, die aus den sinnlichen Objekten und ihren eidetischen bzw. realen und ihren akzidentellen bzw. sinnlichen  Qualitäten besteht. Es ist vor allem Martin Heidegger (1889-1976), der sich dann dem verborgenen realen Sein der Objekte zuwendet, und aus der Dreifach- eine Vierfachstruktur macht. (Vgl. Harman 2015, S.46ff. und S.66ff.) Harman schließt mit seinem vierfachen Objekt an Heideggers „Geviert“ an (vgl. Harman 2015, S.119ff.) und kritisiert ihn zugleich dahingehend, daß Heidegger sich nur noch für dieses verborgene ‚Sein‘ der Objekte interessiert und sich von den ‚bloß‘ sinnlichen Objekten verächtlich abwendet: „In der Tat ist (Heideggers) Angriff auf (die) Präsenz so gut wie überall in seinen Werken so konstant, dass der zentrale Terminus technicus in Heideggers gesamter Philosophie vielleicht nicht Sein, Zeit, Nichts oder Ereignis ist, sondern ‚bloß‘.“ (Harman 2015, S.77)

Es ist interessant, wie Harman das Verhältnis der realen und sinnlichen Objekte zu ihren realen und sinnlichen Qualitäten als einen dramatischen Konflikt inszeniert, in dem die Objekte ihre Qualitäten zugleich haben und nicht haben. (Vgl. Harman 2015, S.28) Das erinnert an Helmuth Plessners Körperleib, den wir ja auch zugleich haben und nicht haben. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Diese Doppelaspektivität ist mit der Kluft bzw. mit dem Hiatus zwischen dem Menschen und der Welt verbunden und hängt also mit dem von Harman abgelehnten Korrelationismus zusammen. Harman lehnt die anthropologische Exklusivität dieses Hiatus ab und positioniert nicht nur das Objekt, das der Mensch ist, sondern auch alle anderen Objekte exzentrisch. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Harman den Panpsychismus befürwortet. (Vgl. Harman 2015, S.146ff.)

Dabei verwickelt sich Harman allerdings in Widersprüche, denn er verteilt Haben und Nicht-Haben auf die sinnlichen und realen Objekte unterschiedlich. So ist das sinnliche Objekt fest an seine Qualitäten gebunden, und es ist ohne sie gewissermaßen gar kein Objekt: „Das sinnliche Objekt hat keine Wahl, als in einem Spannungsverhältnis zu seinen sinnlichen Qualitäten () und seinen realen Qualitäten () zu existieren, da das sinnliche Objekt nie etwas wirklich Autonomes ist.“ (Vgl. Harman 2015, S.156)

Während also die Verbindung zwischen dem sinnlichen Objekt und seinen realen und sinnlichen Qualitäten sehr eng ist, besteht Harman zufolge zwischen dem realen Objekt und seinen realen und sinnlichen Qualitäten überhaupt keine Verbindung. (Vgl. Harman 2015, S.133) Dennoch ‚strahlen‘ auch die realen Objekte ‚ihre‘ Qualitäten auf irgendwie indirekte Weise in die sinnliche Sphäre des Bewußtseins aus. (Vgl. Harman 2015, S.62 und S.123) Wo den sinnlichen Objekten die Verbindung mit ihren Qualitäten wesentlich ist, ist den realen Objekten die Trennung von diesen Qualitäten wesentlich. Es sind die sinnlichen Objekte, die Qualitäten haben, und es sind die realen Objekte, die Qualitäten nicht haben.

Davon, „dass das Objekt diese Merkmale zugleich hat und nicht hat“ (Harman 2015, S.28), kann also keine Rede sein. Es sei denn, daß Harman davon ausgeht, daß sinnliche Objekte und reale Objekte letztlich zwei getrennte Aspekte derselben Sache bilden, im Sinne einer „Variante des Körper-Geist-Problems“, wie Harman an anderer Stelle schreibt (vgl. Harman 2015, S.89). Dann hätten wir es aber nicht mit zwei, sondern nur mit einem Objekt zu tun. Das würde dann auch erklären, warum Harman an keiner Stelle auf die Frage eingeht, ob es genauso viele reale Objekte wie sinnliche Objekte gibt.

So sehr Harman also die „Kluft“ zwischen Objekt und Qualität (vgl. Harman 2015, S.25 u.ö.) dramatisiert und sogar von einem „Zweikampf“ (Harman 2015, S.33f.) spricht, dessen Arena das menschliche und nicht-menschliche Bewußtsein bilden, so wenig kann das darüber hinwegtäuschen, daß wir es hier nicht mehr mit einem gleichzeitigen, sondern mit einem auf zwei verschiedene Objektarten verteilten Haben und Nicht-Haben von Qualitäten zu tun haben.

Die enge Verbindung zwischen dem sinnlichen Objekt und seinen  Qualitäten wirft eine weitere Frage auf: Vervielfacht Harman nicht unnötigerweise die Objekte und ihre Qualitäten im Vergleich zum Aristotelischen Hylemorphismus, der Einheit von Stoff und Form? (Vgl. meinen Post vom 09.07.2013) Das sinnliche Objekt und sein Eidos sind nicht einfach nur eng mit einander verbunden, sondern tatsächlich schon immer eins. Eine Trennung zwischen beidem, die zur Hypothese eines von allen Qualitäten getrennten autonomen Objekts führt, ist zutiefst denkwidrig. Auch hier bilden also sinnliche Objekte und ihre realen (eidetischen) Qualitäten denknotwendigerweise ein Objekt.

Harman verwendet die Begriffe ‚Qualität‘ und ‚Relation‘ synonym. Qualitäten sind Relationen und Relationen sind Qualitäten. Harman zufolge befinden sich reale Objekte immer ‚außerhalb‘ jeglicher ‚Relation‘ und damit außerhalb jedes Bewußtseins, das allen Relationen Raum gibt. Sinnliche Objekte befinden sich hingegen immer innerhalb eines Bewußtseins und in Verbindung mit anderen sinnlichen Objekten. Nur deshalb haben sie Qualitäten, denn Qualitäten ermöglichen eine Verbindung (Relation) zwischen den sinnlichen Objekten. Wir haben es also bei sinnlichen und realen Objekten mit einer krassen Disjunktion zwischen einem phänomenalen Innen und einem realen Außen zu tun. Wie schon beim auf die beiden Objektarten verteilten Haben und Nicht-Haben von Qualitäten haben wir es hier mit einer Trennung und Aufteilung von Innen und Außen zu tun. Entweder wir befassen uns mit realen Objekten und dann haben wir überhaupt keinen Zugang zu ihnen, weil sie sich prinzipiell außerhalb des Bewußtseins befinden (wobei sich die Frage stellt, wie wir dann überhaupt etwas von ihnen wissen können); oder wir haben es mit sinnlichen Objekten zu tun und dann befinden sie sich immer innerhalb des Bewußtseins.

Ein Vorwurf, den Harman gegen Husserl erhebt, besteht darin, daß sich seine intentionalen (sinnlichen) Objekte nur im Innern des meditierenden Philosophen befinden, während er ihre Realität einklammert. Husserl, so Harman, interessiert sich nicht für das Außerhalb seiner intentionalen Objekte: „Vergeblich protestieren seine Jünger, dass das Bewusstsein niemals eine isolierte Entität ist, sondern immer schon außerhalb seiner selbst durch seine intentionalen Akte des Beobachtens, Urteilens, Hassens und Liebens. Denn in der Phänomenologie haben diese Objekte keine Autonomie vom Bewusstsein.“ (Harman 2015, S.31)

Tatsächlich aber leugnet Husserl keineswegs das Außerhalb des Bewußtseins. Er verweist lediglich mit dessen Einklammerung darauf hin, daß sowohl innere wie äußere Gegenstände in Bezug auf das Bewußtsein dieselbe intentionale Struktur aufweisen. In beiden Fällen ist das Bewußtsein mit seinen Gegenständen weder identisch noch hat es diese Gegenstände in seiner Gewalt. Es kann sie nicht beliebig manipulieren. Helmuth Plessner ist es, der das Bewußtsein konsequent auf der Grenze zwischen Innen und Außen verortet. Es ist ein fundamentales Bedürfnis des Bewußtseins, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Es selbst befindet sich aber weder innen noch außen. Plessner bezeichnet das als Doppelaspektivität.

Indem Harman die Einheit des Objekts in ein reales und ein sinnliches auseinanderreißt, befindet es sich jetzt nur noch entweder ‚innen‘ oder ‚außen‘, und damit fällt Harman letztlich hinter den Erkenntnisstand von Husserl zurück. Husserl hatte die äußere Realität nur eingeklammert, um die Phänomene so seinen eidetischen Variationen unterziehen zu können. Welchen Zweck Harmans endgültige Trennung der beiden Sphären hingegen haben soll, bleibt sein Geheimnis, denn brauchbare Erkenntnisse liefert sie nicht.

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