„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 20. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

In diesem Post möchte ich nochmal detailliert auf Orte und Personal in Michael Endes „Jim Knopf“ (1960/62) eingehen. Da ich schon im vorigen Post auf das Meerkönigreich, auf Mandala und auf Kummerland sowie auf Jim Knopf und auf LiSi zu sprechen gekommen bin, werde ich diese Orte und Personen hier nur noch am Rande erwähnen.

Die Handlungsorte bilden insgesamt Bereiche oder auch Formen des menschlichen Bewußtseins. Jim Knopfs und Lukas’ Reisen finden also nicht in der äußeren Welt, sondern im Inneren des menschlichen Bewußtseins statt. In der Chronologie der Ereignisse treten nach Mandala als nächste Handlungsorte der Tausend-Wunder-Wald und das Tal der Dämmerung auf. Der überdimensionale Schlüssel und die vier mal zwölf (!) Torwächter an der großen Mauer an Mandalas Grenze deuten darauf hin, daß der Tausend-Wunder-Wald so etwas wie das Unbewußte von Mandala zu sein scheint. (Auch die Piraten werden nach ihrer ‚Bekehrung‘ zu zwölf Torwächtern, die dem Meer die Tore öffnen, so daß es eindringen und das Land, das nicht sein darf, überfluten kann.) Mandala ist eine sehr saubere, ordentliche und bürokratische Welt, während der Tausend-Wunder-Wald einen pfadlosen Dickicht darstellt. Die Bewohner und die Bäume des Waldes ähneln im übrigen vielen Dingen in Mandala.

Das „Tal der Dämmerung“, durch das die beiden Abenteurer als nächstes kommen, ähnelt wiederum dem „Ende der Welt“. Beides sind Spiegelwelten. Im Tal der Dämmerung werfen die steilen Wände des Tals die Geräusche, die die Lokomotive Emma macht, tausendfach verstärkt zurück. Die Echos stehen möglicherweise für ein narzißtisches Selbstverhältnis, das den Betroffenen unter seiner eigenen Last vergräbt. Beide Handlungsorte, der Tausend-Wunder-Wald und das Tal der Dämmerung, werden von keinen weiteren Protagonisten bewohnt, die in den späteren Abenteuern von Jim Knopf und Lukas nochmal auftauchen und Einfluß auf die weitere Handlungsentwicklung nehmen.

Das Gegenstück zum Tal der Dämmerung bildet der „Mund des Todes“ in der Region der schwarzen Felsen. In diesem ‚Mund‘, einem Felsentor, werden keine Echos verstärkt zurückgeworfen, sondern alles Licht wird so vollständig verschluckt, daß totale Finsternis herrscht. Nur die Kombination aus zu Schneeflocken kristallisierendem Wasserdampf und dem Lampenlicht der Lokomotive Emma, in dem die sich aus den herabfallenden Flocken bildende Schneedecke aufleuchtet, ermöglicht eine sichere Fahrt durch den Mund des Todes. So wird Emma im Unterschied zu Echo und Narziß zum Symbol eines gelingenden Selbstverhältnisses, in dem der Wasserdampf (Emotionalität) und das Lampenlicht (Vernunft) positiv zusammenwirken.


Vor dem „Mund des Todes“ müssen Jim und Lukas aber noch die Wüste „Das Ende der Welt“ durchqueren. Hier stoßen wir auf zwei neue Protagonisten, auf Herrn Turtur, den Scheinriesen, und auf Nepomuk, den Halbdrachen. Bei dem „Ende der Welt“ handelt es sich um eine große Sandwüste, die von Fata Morganen heimgesucht wird. Diese Fata Morganen spiegeln alle möglichen Ereignisse wider, die irgendwo auf der Welt stattfinden. In dieser Wüste wohnt Herr Turtur, der ängstliche Scheinriese, vor dem sich alle fürchten, weil er von Ferne als sehr groß erscheint. Niemand läßt ihn nah an sich herankommen, so daß er erkennen könnte, daß Herr Turtur, wenn er näher kommt, immer kleiner wird, bis er schließlich eine normale Körpergröße hat.

Das Ende der Welt symbolisiert die Phantasie. Auch die Phantasie überzeichnet gerne und läßt uns Dinge als größer erscheinen, als sie sind. Einerseits steht die Phantasie, wie die Fata Morganen zeigen, mit dem ganzen Bewußtsein in Verbindung, aber andererseits ist sie wie Herr Turtur isoliert. Diese Isolation kommt im Wüstencharakter dieser Welt zum Ausdruck. Er entspricht dem sich ausbreitenden Nichts in Phantásien („Die unendliche Geschichte“ (1979)). Da die Phantasie ihr Potential in der ‚Welt‘ des Bewußtseins nicht entfalten kann, verdorrt sie zu einer ‚Wüste‘.

Jim Knopf findet aber eine Lösung, indem er Herrn Turtur nach Lummerland holt und ihn dort als Leuchtturm einsetzt. Turtur und Lummerland bilden eine Polarität: Turtur ist kleiner, als er aussieht, und Lummerland – als Bergspitze vom im Meer versunkenen Jamballa – ist größer, als es aussieht. Indem Turtur das kleine Lummerland scheinbar vergrößert, ist die kleine Insel nicht mehr in der Gefahr, von großen Schiffen übersehen und angerempelt zu werden. Es kommen also wieder zwei Bewußtseinsbereiche zusammen, die vorher getrennt und deshalb nutzlos (Ende der Welt/Herr Turtur) und gefährdet (Lummerland) gewesen waren.

In „Das Ende der Welt“ treffen Jim Knopf und Lukas auch auf Nepomuk, dem Halbdrachen, der von den rassereinen Drachen in Kummerland aus ihrer Stadt vertrieben wurde. Nepomuk ist ein Mischling aus Drache und Nilpferd, also halb Feuer und halb Wasser. Auch sein Name „Nepomuk“ deutet auf eine verbindende Funktion zwischen zwei Welten hin, denn es handelt sich dabei um den Namen des aus Pomuk bei Pilsen stammenden Brückenheiligen Johannes Nepomuk (1350-1393). Der Halbdrache Nepomuk freundet sich später mit dem Schildnök Uschaurischuum an, der ebenfalls ein Mischwesen aus Wasser und Land (Schildkröte) ist, so daß sich die beiden gewissermaßen auf halbem Wege entgegenkommen und die jahrhundertealte Feindschaft zwischen Wasserwesen und Feuerwesen beenden können. Die beiden erschaffen das Kristall der Ewigkeit.

Auf Kummerland und die Drachenstadt muß ich hier jetzt doch noch einmal etwas detaillierter eingehen. Bemerkenswert ist vor allem, wie sehr sich die Drachen und die Lokomotive Emma gleichen. Zwar ist Emma zuvor von Jim Knopf und Lukas als Drache verkleidet worden, aber es ist trotzdem erstaunlich, wie die Drachen Emma von Anfang an als ihresgleichen akzeptieren. So brauchen beide, die Drachen und die Lokomotive, Kohle, um ihr Feuer am Leben zu erhalten. Auch die Drachenstadt scheint eigens für Emma gebaut zu sein. Die Drachen benutzen keine Treppen, sondern Rampen, so daß Emma sogar in die Häuser hineinfahren kann, bis direkt ins Klassenzimmer von Frau Mahlzahn, wo sie sie in einem Kampf besiegt. Wir scheinen es bei diesen beiden Welten mit zwei verschiedenen Formen der Technik zu tun zu haben, einer zerstörerischen (Kummerland) und einer humanen (Lummerland).

Bei dem Gelben Fluß handelt es sich um eine zunächst unterirdische Verbindung zwischen der Drachenstadt und Mandala. Er entspringt als Brunnen im Hinterhof der Schule von Frau Mahlzahn. Die Form des Hinterhofes ist interessant: es handelt sich um ein Dreieck, in dessen Mitte sich der Brunnen befindet. Da Brunnen für gewöhnlich rund sind, muß man sich also einen Kreis in einem Dreieck vorstellen, und der ist üblicherweise das Symbol Gottes. Die goldgelbe Farbe des Flusses erinnert an die spätere Umwandlung von Frau Mahlzahn in den Goldenen Drachen der Weisheit. Die unterirdische Höhle, durch die der Fluß fließt, ist von Edelsteinen an den Wänden übersät. In Verbindung mit der Kohle, die die Drachen überall in Kummerland abbauen und verbrennen, deutet das auf die verborgenen Reichtümer von Kummerland hin. Die Kummerländer befinden sich also im Besitz sämtlicher irdischer Reichtümer und betreiben daran Raubbau. Erst die Verbindung mit Mandala verwandelt Zerstörung in Weisheit.

Auf dem Magnetberg gibt es wie beim Tausend-Wunder-Wald und beim Tal der Dämmerung keinen eigenen Protagonisten. Genau das ist auch das Problem. Denn beim Magnetberg handelt es sich um eine technische Einrichtung, die die Energie für das Meeresleuchten liefert. Es ist aber niemand mehr da, der die Technik wartet und bedient. Deshalb liegt das Reich des Meereskönigs im Dunkeln. Jim Knopf und Lukas lösen das Rätsel des defekten Generators. Es handelt sich um einen Magneten mit Plus- und Minuspol, der „Großen Kraft aus Tag und Nacht“. Indem Jim Knopf und Lukas die Verbindung zwischen den beiden Polen wieder herstellen, beginnt das Meer wieder zu leuchten. Zugleich aber zieht der Magnet alle Gegenstände aus Eisen an, z.B. Emma und Molly und natürlich auch alle vorbeifahrenden Schiffe aus Eisen, die am Magnetberg stranden. Jim Knopf und Lukas finden die Lösung, indem sie Nepomuk bitten, sich um den Magnetberg zu kümmern und den Magneten immer auszuschalten, wenn er Schiffe vorbeifahren sieht. Der Magnetberg steht für die Einheit von Wissen (Tag) und Natur (Nacht). Nur aus beiden zusammen entspringt die Vernunft.

Lukas erfindet bei dieser Gelegenheit das Perpetumobil, ein Fahrzeug, das sich ohne Energieverbrauch vorwärtsbewegt und sogar fliegen und, wie sich später herausstellt, auch tauchen kann. Bei diesem Perpetumobil handelt es sich um Emma, der Lukas zwei Magnetsteine (Minus- und Pluspol) anbaut, die sie, wenn er sie miteinander verbindet, vorwärts oder eben auch wahlweise aufwärts ziehen. Der Traum der Ingenieure: eine saubere Technik, die Energie liefert, ohne Rohstoffe zu verbrauchen und zu verbrennen.

Schließlich haben wir da noch das Land, das nicht sein darf. Es wird von den Piraten bewohnt. Es ist ein Feind der Natur und ihrer Elemente, die gegen dieses Land in einem immerwährenden Orkan ankämpfen. Das Land, das nicht sein darf, steht offensichtlich für die jahrhundertealte Feindschaft zwischen Technik und Natur, und es ist das Ergebnis einer Erwachsenenwelt, die sich mit einer brutalen, sinnlosen Schulbildung gegen ihre eigenen Kinder wendet und sie zwingt, später einmal das Werk der Zerstörung, das ihre Eltern und Vorvoreltern vor Jahrhunderten begonnen hatten, fortzusetzen.

Zugleich aber ist das Land, das nicht sein darf, aus dem Untergang von Jamballa hervorgegangen. Als die Piraten sich entscheiden, künftig Jim Knopf als Leibwächter zu dienen, sorgen sie auch dafür, daß das Land, das nicht sein darf, vom Meer geflutet wird und untergeht. An seiner Stelle steigt Jamballa wieder aus dem Meer auf, und Jim Knopf kann es in Besitz nehmen. Damit vollendet Jim Knopf auch sein Werk der Vereinigung aller Gegensätze, was noch einmal besonders im Kristall der Ewigkeit zum Ausdruck kommt. Uschaurischuum und Nepomuk verwandeln Molly, Jims kleine Lokomotive, in einen durchsichtigen Kristall. Technik und Natur sind endgültig miteinander versöhnt.

PS (26. Januar 2020): In der Szene, in der Jim und Lukas auf ihrer Fahrt nach Kummerland durch den „Mund des Todes“, einer finsteren Höhle, müssen, die alles Licht verschluckt, drohen sie, vom schmalen Pfad abzukommen und in einen Abgrund abzustürzen. Dann aber kondensiert der Wasserdampf der Lokomotive Emma zu Schnee. Die fallenden Schneeflocken bedecken den schmalen Pfad, und so gelangen Jim und Lukas schließlich sicher ins Freie.

Wir haben es hier, wie so oft bei Michael Ende, mit einem Bild für das menschliche Bewußtsein zu tun, ähnlich wie beim Höhlengleichnis von Platon. Michael Endes Höhlengleichnis erzählt eine Münchhausiade, in der sich der Mensch am eigenen Schopf aus dem ‚Sumpf‘ – bzw. in diesem Fall: aus der Höhle – herauszieht. Das Bewußtsein ist sich selbst ein Licht (die Lampen der Lokomotive) und ein Gegenstand (Schnee), und es leuchtet sich selbst seinen Weg aus der Finsternis heraus.

Man kann sogar so weit gehen, den Schnee als Metapher für die Erfindung der Schrift zu nehmen. Seit der Erfindung der Schrift zieht sich der schreibende Mensch am eigenen Schopf aus der Finsternis seiner Vorgeschichte heraus ins Licht der Selbsterkenntnis.

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