„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 19. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

Anfang der 1980er Jahre verbrachte ich zusammen mit anderen Studenten und Freunden die Osterferien in der Schweiz, in Graubünden. Im Gemeinschaftsraum unserer Unterkunft lagen einige Bücher zum Schmökern, unter anderem die beiden Bände von Michael Endes „Jim Knopf“ (1960/62). Ich kannte die Geschichte in- und auswendig, weil ich als Kind immer wieder die Augsburger Puppenkiste im Fernsehen geguckt hatte. Jetzt nahm ich mir die beiden Bücher vor, um sie endlich auch einmal zu lesen. Und dabei erlebte ich etwas Erstaunliches. Hinter der Abenteuergeschichte eines kleinen Waisenjungen, der mit seinem väterlichen Freund, dem Lokomotivführer Lukas, auf große Fahrt geht, weil die Heimatinsel Lummerland für die wachsende Bevölkerung – mit ‚wachsende Bevölkerung‘ ist Jim Knopf gemeint – zu klein geworden war, war noch eine andere Geschichte verborgen!

Man kann den „Jim Knopf“ einfach nur als Abenteuergeschichte lesen. Wenn man aber genauer hinschaut, gibt es noch eine andere, damit kunstvoll verwobene große Erzählung über die Neuzeit und ihre industrielle Entwicklung. Und über das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Natur und Technik.

Der Schlüssel zum Verständnis von „Jim Knopf“ ist die Polarität aller Orte und des Personals. Zu allen Orten, an die Jim Knopf und Lukas auf ihrer Aventiure gelangen, gibt es einen Gegenort; zu jedem Volk und zu jeder Person, mit dem und mit der die beiden Kontakt aufnehmen, gibt es ein Gegenvolk und eine Gegenperson. Kein Ort und keine Person, mit den Ausnahmen von Lukas, dem Lokomotivführer, und Herrn Ärmel, ist einfach das, was sie zu sein scheint, nicht einmal Lummerland, dieses biedere kleine Inselreich mit seinem schrulligen König Alfons dem Viertelvorzwölften. Darauf werde ich im Folgenden noch detailliert eingehen.

Es ist übrigens bezeichnend, daß Michael Ende zu Herrn Ärmel anmerkte, daß er nicht wußte, was er mit dieser Figur, nachdem er sie einmal eingeführt hatte, anfangen sollte. Es fand sich einfach keine Gegenperson zu Herrn Ärmel, allenfalls, wenn man so will, Frau Mahlzahn, weil auch Herr Ärmel im Verlauf der Geschichte als Lehrer fungiert und LiSi und Jim Knopf unterrichtet. Aber auf eine tiefere symbolische Bedeutung von Herrn Ärmel läßt sich daraus nicht schließen. Sogar Frau Waas, der Adoptivmutter von Jim Knopf, läßt sich die Lokomotive Emma als technischer Mutterersatz zuordnen. Darüberhinaus gibt es eine tiefere symbolische Beziehung zur Dame Aiuola in der „Unendlichen Geschichte“, die Bastian aufnimmt und ‚bemuttert‘. Frau Waas besitzt einen Kramladen, der alles enthält, was man zum Leben und zum Aufziehen eines Kindes braucht, während der Dame Aiuola diese Dinge sogar aus dem eigenen (Mutter-)Leib herauswachsen.

In diesem Post möchte ich vor allem auf die verborgene große Erzählung hinter der Abenteuergeschichte eingehen. Als Jim Knopf und Lukas dem zum Meerkönigreich gehörenden Schildnök Uschaurischuum und seiner Verlobten Sursulapitschi begegnen, erfahren sie, daß die Wasserwesen und die Feuerwesen, die Drachen in Kummerland, viele Jahrtausende lang Freunde gewesen waren und daß sie gemeinsam das Kristall der Ewigkeit geschaffen hatten. Seit etwa drei bis vier Jahrhunderten herrschte aber Feindschaft zwischen den Wasserwesen und den Feuerwesen, und das Wissen von der Herstellung des Kristalls ist verlorengegangen. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß die Wasserwesen in Dunkelheit leben – auch das Wissen um das Licht, mit dem man das Unterwasserreich der Wasserwesen erleuchten kann, ist verloren gegangen – und daß sie zehntausende von Jahren alt werden können, so haben wir es beim Reich des Meerkönigs mit der Natur zu tun, während Kummerland, das Reich der Feuerwesen, die Kohle abbauen und verfeuern und außerdem unter ihren Schwänzen Auspuffrohre haben, mit denen sie die Luft in ihrer Hauptstadt verpesten, in der es keine Treppen gibt, sondern nur Rampen, so daß man auf Rädern überhall hingelangen kann, die moderne Technik und Industrie versinnbildlicht. Mit anderen Worten: die Welt in „Jim Knopf“ (und nicht nur die) ist mit dem Beginn der Industrialisierung aus dem Gleichgewicht geraten, und Jim Knopf ist es, der alles wieder in Ordnung bringen muß.

Jim Knopfs Herkunft ist ein Rätsel. Eines Tages gelangt er als Baby per Postzustellung auf die Insel Lummerland, wo er von den Bewohnern adoptiert wird. Ganz besonders eng schließt sich Jim Knopf an Lukas den Lokomotivführer an. Jim Knopf weigert sich, lesen und schreiben zu lernen. Aber auf der gemeinsamen Abenteuerfahrt mit Lukas und seiner Lokomotive zeigt sich, daß Jim Knopf sehr mutig ist. Im Gegensatz zu LiSi. Lisi ist sehr ängstlich, aber dafür kann sie lesen und schreiben. So schreibt sie z.B. während ihrer Gefangenschaft in der Schule des Drachen Frau Mahlzahn eine Flaschenpost, in der sie um Hilfe bittet. Als Jim Knopf und Lukas sie und die anderen Kinder befreien, muß Jim Knopf zugeben, daß Lesen und Schreiben doch ganz nützlich sein können und ist bereit, nach seiner Rückkehr nach Lummerland bei Herrn Ärmel Unterricht zu nehmen.

In diesem ganzen Erzählkomplex um LiSi und Jim Knopf geht es vor allem um den Zusammenhang (oder Nicht-Zusammenhang) von Schule und Bildung. Zu diesem Komplex gehören auch die Piraten, die nicht richtig zählen und nur ganz fragmentarisch lesen und schreiben können. Sie wissen nicht, daß sie nicht dreizehn, sondern nur zwölf Piraten sind, und auch die Adresse auf dem Paket, mit dem sie Jim Knopf ursprünglich nach Kummerland schicken wollten, war so fehlerhaft verfaßt gewesen, daß das Paket irrtümlich in Lummerland abgeliefert worden war. Die Piraten stehen kollektiv für eine Erwachsenenwelt, die ihre Kinder zwangsweise in die Schule schickt (bei Frau Mahlzahn in Kummerland sind die Kinder an die Schulbänke angekettet), obwohl sie selbst, also die Erwachsenen, das Versagen dieser Schulbildung persönlich erlebt haben und sie auch als schlechtes Vorbild verkörpern.

Diese Schul-Unbildung zeigt sich besonders beim Hauptmann der Wilden 13, der, wie alle anderen Piraten, vermeintlicherweise nur einen einzigen Buchstaben des Alphabets beherrscht: das ‚K‘. Tatsächlich schreibt er aber immer nur ein ‚X‘, was der Postbote, als er das Paket mit dem kleinen Jim Knopf ablieferte, dann nicht als ‚Kummerland‘, sondern als ‚Lummerland‘ deutete. Letztlich steht dieses ‚X‘ des Piratenhauptmanns ähnlich wie das ‚X‘ in der Mathematik, das immer für eine Unbekannte steht, für die Identitätslosigkeit der Piraten, die sich untereinander nicht auseinanderhalten können, so daß jeder von ihnen als Hauptmann auftreten kann, wenn er nur den Stern am Hut trägt. Letztlich erweist sich Jim Knopf als die wahre 13, als der Hauptmann, den die Piraten immer schon mitgezählt hatten, ohne ihn zu kennen.

Übrigens scheint auch König Alfons der Viertelvorzwölfte von Lummerland mit seiner ganzen Schrulligkeit, der alle Welt mit seinen verworrenen Telephonanrufen belästigt, für so eine verkorkste Schulbildung zu stehen. Denn bei ihm hat es nicht zur ganzen ‚Zwölf‘ gereicht, womit er in gewisser Weise mit den Piraten auf einer Stufe steht, die zwar zwölf sind, aber sich für dreizehn halten.

Die ganze Schulbildung findet deshalb bezeichnenderweise in Kummerland bei Frau Mahlzahn statt. Die Drachen verfügen nur über dasjenige Wissen, mit dem man etwas machen und herstellen kann. Ihr Metier ist die Technik und die Industrie. LiSi hingegen steht mit ihrer Ängstlichkeit und Vielwisserei für viele andere Bewohner von Mandala, die mit ihrem Wissen überhaupt nichts anfangen können und sich damit vergnügen, Häuser aus zerbrechlichem Porzellan und Brücken aus Glas zu bauen, die Haare auf ihren Köpfen zu zählen und winzigkleine Elfenbeinkunstwerke zu schnitzen. Das riesige Reich wird von unfähigen Verwaltungsbeamten (Bonzen) regiert, und niemand ist in der Lage, als die Flaschenpost von LiSi, der Tochter des Kaisers, eintrifft, sich auf den Weg zu machen und sie zu retten.

Wir haben also technisches Wissen (Kummerland) auf der einen Seite und nutzloses Wissen (Mandala) auf der anderen Seite. Erst Jim Knopf, dem Analphabeten und mutigen Draufgänger gelingt es, gemeinsam mit Lukas (und der Lokomotive Emma), LiSi zu befreien, und Frau Mahlzahn gefangen zu nehmen, die sich nun in Mandala, wo sie der fehlenden Seite ihres technischen Wissens, der Kontemplation und der Meditation (nutzloses Wissen), begegnet, in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt.

Das ist die erste der von Jim Knopf ermöglichten Zusammenführungen von bislang getrennten Aspekten der menschlichen Bildung. Eine weitere Verbindung ergibt sich aus der Heirat von Jim Knopf mit LiSi, die sich beide ebenfalls in ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Und zum Schluß werden die Piraten, also die mißratene Erwachsenenwelt, die ihre Kinder einer sinnlosen Schulbildung unterwirft, zu Jim Knopfs Leibwächtern, nach dem Vorbild von Lukas dem Lokomotivführer, der Jim Knopf in allen seinen Abenteuern treu zur Seite steht und es auch von Anfang an nicht für nötig gehalten hatte, Jim Knopf zu zwingen, irgendetwas zu lernen, was er nicht lernen wollte. – Vielleicht steht ja Lukas doch noch für etwas anderes: angesichts der Bedeutung der Zahl ‚zwölf‘ könnte Lukas für einen der zwölf Apostel und den gleichnamigen Evangelisten stehen, der ja auch die ausführlichste Kindheitsgeschichte von Jesus (der ja ebenfalls ein Dreizehnter unter Zwölfen ist) verfaßt hat.

Jim Knopf selbst erfährt am Ende, daß er in langer Generationenfolge von einem der Heiligen drei Könige aus dem Morgenland abstammt und daß sein angestammtes Königreich Jamballa ist. Wie sich herausstellt, bildet Lummerland die oberste Bergspitze des vom Meer überfluteten Jamballa, das Jim Knopf, als es wieder aus dem Meer aufsteigt, in „Jimballa“ umbenennt. Mit der Umbenennung von „Jamballa“ in „Jimballa“ wird deutlich, worin der tiefere Sinn des Namens „Jim Knopf“ liegt. Der Knopf selbst fügt, wie bekannt, jenes Loch in Jims Hose wieder zusammen, das er sich beim Spielen immer wieder aufreißt. Schon dieser Knopf deutet also an, daß in all den Abenteuern, die Jim Knopf besteht, etwas zusammengefügt werden muß, was auseinandergerissen worden war. Indem Jim Knopf aber nun mit Hilfe der nicht mehr wilden Piraten ein Land namens „Jimballa“ regiert, zieht Michael Ende darüber hinaus auch eine Verbindung zum aus dem Griechischen stammenden Wort „Symbol“.

Der Name „Jim-Knopf“ spielt lautmalerisch auf das Wort „Sym-Bol“ an (Dada feiert dieser Tage seinen Hundertsten! – ;-), und „Jimballa“ verweist auf das griechische „symballein“, und beides bedeutet wiederum ‚zusammenfügen‘. Und es gibt da wirklich noch vieles, vieles mehr, was im Laufe von Jim Knopfs Abenteuern zusammengefügt wird. Dazu mehr im nächsten Post.

PS (6. Januar 2021):
Im „Atlas der verlorenen Sprachen“ (2020), S.64f.; Sichwort Yámana) stoße ich auf folgende Stelle:
„Jemmy Buttons Geschichte ist vielfach erzählt worden, unter anderem Mitte der 1950er Jahre von dem chilenischen Schriftsteller Benjamin Subercaseaux. Dessem Buch, ins Deutsche übersetzt, begegnete Michael Ende wohl bei den Recherchen zu seinem eigenen neuen Buch. Und so wurde aus Jemmy Button Jim Knopf, den Michael Ende selbst nie als Jugendroman verstanden wissen wollte. ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ erzählt im Gewand der Fantastik eine antirassistische Parabel, bei der die ‚Reinrassigen‘ die Bösen sind und Jim Knopf, der letzte Nachfahre aus dem Geschlecht des heiligen Dreikönigs Kaspar, im Land Jimballa zum König wird, indem er sich die Krone ‚auf seine schwarzen Kraushaare‘ setzt.“
Jemmy Button war demnach ein junger Angehöriger eines Indianerstammes, der von dem Kapitän Robert FitzRoy 1830 mit nach England genommen und dort ‚zivilisiert‘ worden war. Er kehrte dann nach Feuerland zurück und soll am ‚Massaker‘ an einer Gruppe von Missionaren beteiligt gewesen sein, was er selbst aber abstritt. Er starb 1866.

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