„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

In diesem Post möchte ich abschließend nochmal auf verschiedene Leitmotive eingehen, die sich in allen Büchern von Michael Ende (1929-1995) wiederfinden. Diese Leitmotive lassen sich wieder, wie schon im letzten Post zu „Jim Knopf“ (1960/62) gezeigt, an Handlungsorten und an Personen festmachen. So finden wir z.B. eine Verkörperung der Phantasie in den Personen von Turtur (Jim Knopf), Momo (Momo) und in der Kindlichen Kaiserin (Unendliche Geschichte). Außerdem wird die Phantasie in Form von Welten symbolisiert: als das „Ende der Welt“ (Jim Knopf) und als Phantásien (Unendliche Geschichte), wobei der Zustand dieser beiden Welten (als Wüste bzw. als sich ausbreitendes Nichts) auf eine Bedrohung der Phantasie hindeutet.

Die Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern und der Natur finden wir verkörpert in der Wilden 13 (Jim Knopf), in den Grauen Herren (Momo), in dem Kollektivwesen Ygramul (Unendliche Geschichte) und in den Trösterinnen auf der Hurenstraße (Hand in Hand). In „Hand in Hand“ wird der kleine Junge von einem Kollektivwesen begleitet: einem Dschin. Auch die Wilde 13, die Grauen Herren und Ygramul sind Kollektivwesen. Interessanterweise erteilt der Dschin dem kleinen Jungen eine Unterrichtsstunde und agiert damit auf einer Ebene mit der Wilden 13, die ebenfalls Kinder in die Schule schicken. Beide berauben die Kinder jeder Hoffnung.

Insbesondere zwei Handlungsorte stehen für die Endstation von Lebensläufen: die Alte Kaiserstadt (Unendliche Geschichte) und die Hurenstraße (Hand in Hand).

Die Schildkröte taucht als Symbolisierung von Weisheit und Wissen dreimal auf: in Gestalt des Schildnöks Uschaurischuum (Jim Knopf), der Kassiopeia (Momo) und der Uralten Morla (Unendliche Geschichte).

Zwei Personen stehen für das Paradox der gleichzeitigen Erwähltheit und des fehlenden Selbstvertrauens: Bastian (Unendliche Geschichte) und Indicavia (Legende vom Wegweiser). Mit diesem Paradox ist das Rätsel verbunden, inwiefern und aus welchem Grund manche erwählt sind, sehr, sehr viele andere aber nicht. Für diese Frage stehen das Große Rätsel Tor (Unendliche Geschichte) und noch einmal der schon erwähnte Indicavia.

Yor (Unendliche Geschichte) und Hor („Verzeih mir ...“ (Der Spiegel im Spiegel)) sind die Bewahrer vergessener Erinnerungen und Träume. Bastian (Unendliche Geschichte) und Insch’allah (Gefängnis der Freiheit) stehen für fehlende Willenskraft. Beide, Bastian und Insch’allah, sind mit dem Problem konfrontiert, im Tausend Türen Tempel bzw. im Tempel der 111 Türen den richtigen Weg zu finden.

Für ein nach außen abgeschlossenes Selbstverhältnis bzw. für Narzißmus stehen das Tal der Dämmerung (Jim Knopf), Uyulala (Unendliche Geschichte) und die Stimme Allahs (Gefängnis der Freiheit).

Das soll als Hinweis darauf, wie sich bestimmte Leitmotive durch das ganze Werk von Michael Ende ziehen, erst einmal reichen. Zum Schluß möchte ich nochmal auf eine Parallele zwischen „Jim Knopf“ und der „Unendlichen Geschichte“ verweisen, die in den verschiedenen Bewußtseinsformen als Momenten des Handlungsverlaufs besteht.

Zuvor möchte ich kurz auf die Gesamtstruktur der „Unendlichen Geschichte“ eingehen. Diese Gesamtstruktur entspricht der „Krankheit zum Tode“ (1849) von Søren Kierkegaard. Die Krankheit zum Tode besteht Kierkegaard zufolge darin, daß die Menschen entweder verzweifelt sie selbst sein wollen oder verzweifelt nicht sie selbst sein wollen. In seinem Buch beschreibt Kierkegaard die verschiedenen Erscheinungsformen dieser Krankheit. Michael Ende übernimmt diese Verzweiflungsstruktur für die „Unendliche Geschichte“, die er in zwei Teile gliedert: im ersten Teil will Bastian verzweifelt nicht er selbst sein und nimmt stattdessen die verschiedensten Wunschformen an. Er will schön, stark, mutig sein, und er will bewundert werden. Er will gefährlich sein und er will weise sein. Schließlich vergißt er alles, was er einmal gewesen war und landet in der Alten Kaiserstadt.

Im zweiten Teil geht es schließlich darum, daß Bastian verzweifelt er selbst sein will. Er will Teil einer Gemeinschaft sein, und er möchte geliebt werden. Schließlich will er einfach nur noch lieben können.


Wir haben es bei der „Unendlichen Geschichte“ also wie im „Jim Knopf“ mit einer Reise durch unser Selbst zu tun. Und wieder bilden die verschiedenen Orte und Personen verschiedene Formen bzw. Bereiche unseres Bewußtseins. Die Uralte Morla, eine riesige Schildkröte, ist das gleichgültige Bewußtsein, das sich nur für seinen eigenen inneren Kosmos interessiert. Alles andere ist ihm gleichgültig. Auch bei den anderen Bewußtseinsformen geht es um Formen der Gleichgültigkeit. Ygramul ist ein Kollektivwesen, und sie ist gleichgültig gegenüber allem Einzelnen, das kein Kollektiv bildet. Die Vier Winde sind Naturkräfte (Begierden), die gleichgültig gegenüber dem Schicksal derer sind, die ihrem Treiben zum Opfer fallen. Gmork ist ein Wesen der Macht, das gleichgültig gegenüber der Wahrheit ist und das in der Lage ist, über die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie hin und her zu wechseln. Insofern symbolisiert er auch die Technik, die einerseits, als Kunst des Möglichen, ein Produkt der Phantasie ist, andererseits aber die Wirklichkeit nur als Spielfeld und Ressource für technologische Entwicklungen versteht.

Mit einer weiteren Ebene von Bewußtseinsformen geht Michael Ende über den „Jim Knopf“ hinaus. Hier thematisiert er sich selbst bzw. verschiedene Formen der Autorenschaft. Das Orakel Uyulala steht für eine spezifisch künstlerische Intuition, die nur mittels poetischer Formen zum Sprechen gebracht werden kann. Der Alte vom Wandernden Berg wiederum könnte einerseits für Autoren stehen, die nur ganz sachlich das wiedergeben, was passiert, also eine Form des die Wirklichkeit bloß wiederholenden realistischen Schreibens praktizieren. Es gibt aber noch eine andere Deutungsmöglichkeit: der Alte könnte auch für eine Form des intuitiven Schreibens stehen, in der die inneren Formen gewissermaßen über den Umweg der Schreibhand des Autoren unmittelbar in den Text übergehen, in dem sie ihren Ausdruck finden.

Die Kindliche Kaiserin versinnbildlicht eine Form der Intuition, die anders als das Orakel (und anders als der Alte) mehr wie eine Muse bzw. wie eine Inspiration wirkt. Sie ist die Seele einer jeden lebendigen Geschichte. Aber sie bedarf auch des Kontakts mit der Wirklichkeit in Form von Reisenden wie Bastian, die Phantásien Besuche abstatten. Sie akzeptiert jeden so, wie er ist, und sie wertet und urteilt nicht. Gerade darin aber gleicht die Kindliche Kaiserin wiederum der Uralten Morla, die mit all ihrem Wissen eine Form kalter, gefühlloser Rationalität darstellt und in ihrer Gleichgültigkeit ebenfalls nicht wertet und urteilt.

Michael Endes Schreiben drehte sich sein Leben lang um die Frage, was die Technik und das Geld (als eine Form der Technik) aus dem Menschen machen. Er wollte gerne, wie er einmal in einem Interview sagte, das Problem des Geldes lösen. Letztlich war er auf der Suche nach einer Welt und einer Gesellschaftsform, die ohne Geld funktioniert. Diese Frage ist bis heute aktuell. Sie ist eine Frage des Überlebens auf diesem Planeten.

Literatur:
  • Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart 1960 / Jim Knopf und die Wilde 13, Stuttgart 1962
  • Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte – Ein Märchenroman, Stuttgart 1973
  • Die unendliche Geschichte, Stuttgart 1979
  • Verzeih mir, in: Der Spiegel im Spiegel: ein Labyrinth, Stuttgart 1984, S.9-14
  • Hand in Hand, in: Der Spiegel im Spiegel: ein Labyrinth, Stuttgart 1984, S.231-250
  • Das Gefängnis der Freiheit, in: Das Gefängnis der Freiheit: Erzählungen, Stuttgart/Wien 1992, S.227-257
  • Die Legende vom Wegweiser, in: Das Gefängnis der Freiheit, ebenda, S.259-301
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Samstag, 20. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

In diesem Post möchte ich nochmal detailliert auf Orte und Personal in Michael Endes „Jim Knopf“ (1960/62) eingehen. Da ich schon im vorigen Post auf das Meerkönigreich, auf Mandala und auf Kummerland sowie auf Jim Knopf und auf LiSi zu sprechen gekommen bin, werde ich diese Orte und Personen hier nur noch am Rande erwähnen.

Die Handlungsorte bilden insgesamt Bereiche oder auch Formen des menschlichen Bewußtseins. Jim Knopfs und Lukas’ Reisen finden also nicht in der äußeren Welt, sondern im Inneren des menschlichen Bewußtseins statt. In der Chronologie der Ereignisse treten nach Mandala als nächste Handlungsorte der Tausend-Wunder-Wald und das Tal der Dämmerung auf. Der überdimensionale Schlüssel und die vier mal zwölf (!) Torwächter an der großen Mauer an Mandalas Grenze deuten darauf hin, daß der Tausend-Wunder-Wald so etwas wie das Unbewußte von Mandala zu sein scheint. (Auch die Piraten werden nach ihrer ‚Bekehrung‘ zu zwölf Torwächtern, die dem Meer die Tore öffnen, so daß es eindringen und das Land, das nicht sein darf, überfluten kann.) Mandala ist eine sehr saubere, ordentliche und bürokratische Welt, während der Tausend-Wunder-Wald einen pfadlosen Dickicht darstellt. Die Bewohner und die Bäume des Waldes ähneln im übrigen vielen Dingen in Mandala.

Das „Tal der Dämmerung“, durch das die beiden Abenteurer als nächstes kommen, ähnelt wiederum dem „Ende der Welt“. Beides sind Spiegelwelten. Im Tal der Dämmerung werfen die steilen Wände des Tals die Geräusche, die die Lokomotive Emma macht, tausendfach verstärkt zurück. Die Echos stehen möglicherweise für ein narzißtisches Selbstverhältnis, das den Betroffenen unter seiner eigenen Last vergräbt. Beide Handlungsorte, der Tausend-Wunder-Wald und das Tal der Dämmerung, werden von keinen weiteren Protagonisten bewohnt, die in den späteren Abenteuern von Jim Knopf und Lukas nochmal auftauchen und Einfluß auf die weitere Handlungsentwicklung nehmen.

Das Gegenstück zum Tal der Dämmerung bildet der „Mund des Todes“ in der Region der schwarzen Felsen. In diesem ‚Mund‘, einem Felsentor, werden keine Echos verstärkt zurückgeworfen, sondern alles Licht wird so vollständig verschluckt, daß totale Finsternis herrscht. Nur die Kombination aus zu Schneeflocken kristallisierendem Wasserdampf und dem Lampenlicht der Lokomotive Emma, in dem die sich aus den herabfallenden Flocken bildende Schneedecke aufleuchtet, ermöglicht eine sichere Fahrt durch den Mund des Todes. So wird Emma im Unterschied zu Echo und Narziß zum Symbol eines gelingenden Selbstverhältnisses, in dem der Wasserdampf (Emotionalität) und das Lampenlicht (Vernunft) positiv zusammenwirken.


Vor dem „Mund des Todes“ müssen Jim und Lukas aber noch die Wüste „Das Ende der Welt“ durchqueren. Hier stoßen wir auf zwei neue Protagonisten, auf Herrn Turtur, den Scheinriesen, und auf Nepomuk, den Halbdrachen. Bei dem „Ende der Welt“ handelt es sich um eine große Sandwüste, die von Fata Morganen heimgesucht wird. Diese Fata Morganen spiegeln alle möglichen Ereignisse wider, die irgendwo auf der Welt stattfinden. In dieser Wüste wohnt Herr Turtur, der ängstliche Scheinriese, vor dem sich alle fürchten, weil er von Ferne als sehr groß erscheint. Niemand läßt ihn nah an sich herankommen, so daß er erkennen könnte, daß Herr Turtur, wenn er näher kommt, immer kleiner wird, bis er schließlich eine normale Körpergröße hat.

Das Ende der Welt symbolisiert die Phantasie. Auch die Phantasie überzeichnet gerne und läßt uns Dinge als größer erscheinen, als sie sind. Einerseits steht die Phantasie, wie die Fata Morganen zeigen, mit dem ganzen Bewußtsein in Verbindung, aber andererseits ist sie wie Herr Turtur isoliert. Diese Isolation kommt im Wüstencharakter dieser Welt zum Ausdruck. Er entspricht dem sich ausbreitenden Nichts in Phantásien („Die unendliche Geschichte“ (1979)). Da die Phantasie ihr Potential in der ‚Welt‘ des Bewußtseins nicht entfalten kann, verdorrt sie zu einer ‚Wüste‘.

Jim Knopf findet aber eine Lösung, indem er Herrn Turtur nach Lummerland holt und ihn dort als Leuchtturm einsetzt. Turtur und Lummerland bilden eine Polarität: Turtur ist kleiner, als er aussieht, und Lummerland – als Bergspitze vom im Meer versunkenen Jamballa – ist größer, als es aussieht. Indem Turtur das kleine Lummerland scheinbar vergrößert, ist die kleine Insel nicht mehr in der Gefahr, von großen Schiffen übersehen und angerempelt zu werden. Es kommen also wieder zwei Bewußtseinsbereiche zusammen, die vorher getrennt und deshalb nutzlos (Ende der Welt/Herr Turtur) und gefährdet (Lummerland) gewesen waren.

In „Das Ende der Welt“ treffen Jim Knopf und Lukas auch auf Nepomuk, dem Halbdrachen, der von den rassereinen Drachen in Kummerland aus ihrer Stadt vertrieben wurde. Nepomuk ist ein Mischling aus Drache und Nilpferd, also halb Feuer und halb Wasser. Auch sein Name „Nepomuk“ deutet auf eine verbindende Funktion zwischen zwei Welten hin, denn es handelt sich dabei um den Namen des aus Pomuk bei Pilsen stammenden Brückenheiligen Johannes Nepomuk (1350-1393). Der Halbdrache Nepomuk freundet sich später mit dem Schildnök Uschaurischuum an, der ebenfalls ein Mischwesen aus Wasser und Land (Schildkröte) ist, so daß sich die beiden gewissermaßen auf halbem Wege entgegenkommen und die jahrhundertealte Feindschaft zwischen Wasserwesen und Feuerwesen beenden können. Die beiden erschaffen das Kristall der Ewigkeit.

Auf Kummerland und die Drachenstadt muß ich hier jetzt doch noch einmal etwas detaillierter eingehen. Bemerkenswert ist vor allem, wie sehr sich die Drachen und die Lokomotive Emma gleichen. Zwar ist Emma zuvor von Jim Knopf und Lukas als Drache verkleidet worden, aber es ist trotzdem erstaunlich, wie die Drachen Emma von Anfang an als ihresgleichen akzeptieren. So brauchen beide, die Drachen und die Lokomotive, Kohle, um ihr Feuer am Leben zu erhalten. Auch die Drachenstadt scheint eigens für Emma gebaut zu sein. Die Drachen benutzen keine Treppen, sondern Rampen, so daß Emma sogar in die Häuser hineinfahren kann, bis direkt ins Klassenzimmer von Frau Mahlzahn, wo sie sie in einem Kampf besiegt. Wir scheinen es bei diesen beiden Welten mit zwei verschiedenen Formen der Technik zu tun zu haben, einer zerstörerischen (Kummerland) und einer humanen (Lummerland).

Bei dem Gelben Fluß handelt es sich um eine zunächst unterirdische Verbindung zwischen der Drachenstadt und Mandala. Er entspringt als Brunnen im Hinterhof der Schule von Frau Mahlzahn. Die Form des Hinterhofes ist interessant: es handelt sich um ein Dreieck, in dessen Mitte sich der Brunnen befindet. Da Brunnen für gewöhnlich rund sind, muß man sich also einen Kreis in einem Dreieck vorstellen, und der ist üblicherweise das Symbol Gottes. Die goldgelbe Farbe des Flusses erinnert an die spätere Umwandlung von Frau Mahlzahn in den Goldenen Drachen der Weisheit. Die unterirdische Höhle, durch die der Fluß fließt, ist von Edelsteinen an den Wänden übersät. In Verbindung mit der Kohle, die die Drachen überall in Kummerland abbauen und verbrennen, deutet das auf die verborgenen Reichtümer von Kummerland hin. Die Kummerländer befinden sich also im Besitz sämtlicher irdischer Reichtümer und betreiben daran Raubbau. Erst die Verbindung mit Mandala verwandelt Zerstörung in Weisheit.

Auf dem Magnetberg gibt es wie beim Tausend-Wunder-Wald und beim Tal der Dämmerung keinen eigenen Protagonisten. Genau das ist auch das Problem. Denn beim Magnetberg handelt es sich um eine technische Einrichtung, die die Energie für das Meeresleuchten liefert. Es ist aber niemand mehr da, der die Technik wartet und bedient. Deshalb liegt das Reich des Meereskönigs im Dunkeln. Jim Knopf und Lukas lösen das Rätsel des defekten Generators. Es handelt sich um einen Magneten mit Plus- und Minuspol, der „Großen Kraft aus Tag und Nacht“. Indem Jim Knopf und Lukas die Verbindung zwischen den beiden Polen wieder herstellen, beginnt das Meer wieder zu leuchten. Zugleich aber zieht der Magnet alle Gegenstände aus Eisen an, z.B. Emma und Molly und natürlich auch alle vorbeifahrenden Schiffe aus Eisen, die am Magnetberg stranden. Jim Knopf und Lukas finden die Lösung, indem sie Nepomuk bitten, sich um den Magnetberg zu kümmern und den Magneten immer auszuschalten, wenn er Schiffe vorbeifahren sieht. Der Magnetberg steht für die Einheit von Wissen (Tag) und Natur (Nacht). Nur aus beiden zusammen entspringt die Vernunft.

Lukas erfindet bei dieser Gelegenheit das Perpetumobil, ein Fahrzeug, das sich ohne Energieverbrauch vorwärtsbewegt und sogar fliegen und, wie sich später herausstellt, auch tauchen kann. Bei diesem Perpetumobil handelt es sich um Emma, der Lukas zwei Magnetsteine (Minus- und Pluspol) anbaut, die sie, wenn er sie miteinander verbindet, vorwärts oder eben auch wahlweise aufwärts ziehen. Der Traum der Ingenieure: eine saubere Technik, die Energie liefert, ohne Rohstoffe zu verbrauchen und zu verbrennen.

Schließlich haben wir da noch das Land, das nicht sein darf. Es wird von den Piraten bewohnt. Es ist ein Feind der Natur und ihrer Elemente, die gegen dieses Land in einem immerwährenden Orkan ankämpfen. Das Land, das nicht sein darf, steht offensichtlich für die jahrhundertealte Feindschaft zwischen Technik und Natur, und es ist das Ergebnis einer Erwachsenenwelt, die sich mit einer brutalen, sinnlosen Schulbildung gegen ihre eigenen Kinder wendet und sie zwingt, später einmal das Werk der Zerstörung, das ihre Eltern und Vorvoreltern vor Jahrhunderten begonnen hatten, fortzusetzen.

Zugleich aber ist das Land, das nicht sein darf, aus dem Untergang von Jamballa hervorgegangen. Als die Piraten sich entscheiden, künftig Jim Knopf als Leibwächter zu dienen, sorgen sie auch dafür, daß das Land, das nicht sein darf, vom Meer geflutet wird und untergeht. An seiner Stelle steigt Jamballa wieder aus dem Meer auf, und Jim Knopf kann es in Besitz nehmen. Damit vollendet Jim Knopf auch sein Werk der Vereinigung aller Gegensätze, was noch einmal besonders im Kristall der Ewigkeit zum Ausdruck kommt. Uschaurischuum und Nepomuk verwandeln Molly, Jims kleine Lokomotive, in einen durchsichtigen Kristall. Technik und Natur sind endgültig miteinander versöhnt.

PS (26. Januar 2020): In der Szene, in der Jim und Lukas auf ihrer Fahrt nach Kummerland durch den „Mund des Todes“, einer finsteren Höhle, müssen, die alles Licht verschluckt, drohen sie, vom schmalen Pfad abzukommen und in einen Abgrund abzustürzen. Dann aber kondensiert der Wasserdampf der Lokomotive Emma zu Schnee. Die fallenden Schneeflocken bedecken den schmalen Pfad, und so gelangen Jim und Lukas schließlich sicher ins Freie.

Wir haben es hier, wie so oft bei Michael Ende, mit einem Bild für das menschliche Bewußtsein zu tun, ähnlich wie beim Höhlengleichnis von Platon. Michael Endes Höhlengleichnis erzählt eine Münchhausiade, in der sich der Mensch am eigenen Schopf aus dem ‚Sumpf‘ – bzw. in diesem Fall: aus der Höhle – herauszieht. Das Bewußtsein ist sich selbst ein Licht (die Lampen der Lokomotive) und ein Gegenstand (Schnee), und es leuchtet sich selbst seinen Weg aus der Finsternis heraus.

Man kann sogar so weit gehen, den Schnee als Metapher für die Erfindung der Schrift zu nehmen. Seit der Erfindung der Schrift zieht sich der schreibende Mensch am eigenen Schopf aus der Finsternis seiner Vorgeschichte heraus ins Licht der Selbsterkenntnis.

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Freitag, 19. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

Anfang der 1980er Jahre verbrachte ich zusammen mit anderen Studenten und Freunden die Osterferien in der Schweiz, in Graubünden. Im Gemeinschaftsraum unserer Unterkunft lagen einige Bücher zum Schmökern, unter anderem die beiden Bände von Michael Endes „Jim Knopf“ (1960/62). Ich kannte die Geschichte in- und auswendig, weil ich als Kind immer wieder die Augsburger Puppenkiste im Fernsehen geguckt hatte. Jetzt nahm ich mir die beiden Bücher vor, um sie endlich auch einmal zu lesen. Und dabei erlebte ich etwas Erstaunliches. Hinter der Abenteuergeschichte eines kleinen Waisenjungen, der mit seinem väterlichen Freund, dem Lokomotivführer Lukas, auf große Fahrt geht, weil die Heimatinsel Lummerland für die wachsende Bevölkerung – mit ‚wachsende Bevölkerung‘ ist Jim Knopf gemeint – zu klein geworden war, war noch eine andere Geschichte verborgen!

Man kann den „Jim Knopf“ einfach nur als Abenteuergeschichte lesen. Wenn man aber genauer hinschaut, gibt es noch eine andere, damit kunstvoll verwobene große Erzählung über die Neuzeit und ihre industrielle Entwicklung. Und über das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Natur und Technik.

Der Schlüssel zum Verständnis von „Jim Knopf“ ist die Polarität aller Orte und des Personals. Zu allen Orten, an die Jim Knopf und Lukas auf ihrer Aventiure gelangen, gibt es einen Gegenort; zu jedem Volk und zu jeder Person, mit dem und mit der die beiden Kontakt aufnehmen, gibt es ein Gegenvolk und eine Gegenperson. Kein Ort und keine Person, mit den Ausnahmen von Lukas, dem Lokomotivführer, und Herrn Ärmel, ist einfach das, was sie zu sein scheint, nicht einmal Lummerland, dieses biedere kleine Inselreich mit seinem schrulligen König Alfons dem Viertelvorzwölften. Darauf werde ich im Folgenden noch detailliert eingehen.

Es ist übrigens bezeichnend, daß Michael Ende zu Herrn Ärmel anmerkte, daß er nicht wußte, was er mit dieser Figur, nachdem er sie einmal eingeführt hatte, anfangen sollte. Es fand sich einfach keine Gegenperson zu Herrn Ärmel, allenfalls, wenn man so will, Frau Mahlzahn, weil auch Herr Ärmel im Verlauf der Geschichte als Lehrer fungiert und LiSi und Jim Knopf unterrichtet. Aber auf eine tiefere symbolische Bedeutung von Herrn Ärmel läßt sich daraus nicht schließen. Sogar Frau Waas, der Adoptivmutter von Jim Knopf, läßt sich die Lokomotive Emma als technischer Mutterersatz zuordnen. Darüberhinaus gibt es eine tiefere symbolische Beziehung zur Dame Aiuola in der „Unendlichen Geschichte“, die Bastian aufnimmt und ‚bemuttert‘. Frau Waas besitzt einen Kramladen, der alles enthält, was man zum Leben und zum Aufziehen eines Kindes braucht, während der Dame Aiuola diese Dinge sogar aus dem eigenen (Mutter-)Leib herauswachsen.

In diesem Post möchte ich vor allem auf die verborgene große Erzählung hinter der Abenteuergeschichte eingehen. Als Jim Knopf und Lukas dem zum Meerkönigreich gehörenden Schildnök Uschaurischuum und seiner Verlobten Sursulapitschi begegnen, erfahren sie, daß die Wasserwesen und die Feuerwesen, die Drachen in Kummerland, viele Jahrtausende lang Freunde gewesen waren und daß sie gemeinsam das Kristall der Ewigkeit geschaffen hatten. Seit etwa drei bis vier Jahrhunderten herrschte aber Feindschaft zwischen den Wasserwesen und den Feuerwesen, und das Wissen von der Herstellung des Kristalls ist verlorengegangen. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß die Wasserwesen in Dunkelheit leben – auch das Wissen um das Licht, mit dem man das Unterwasserreich der Wasserwesen erleuchten kann, ist verloren gegangen – und daß sie zehntausende von Jahren alt werden können, so haben wir es beim Reich des Meerkönigs mit der Natur zu tun, während Kummerland, das Reich der Feuerwesen, die Kohle abbauen und verfeuern und außerdem unter ihren Schwänzen Auspuffrohre haben, mit denen sie die Luft in ihrer Hauptstadt verpesten, in der es keine Treppen gibt, sondern nur Rampen, so daß man auf Rädern überhall hingelangen kann, die moderne Technik und Industrie versinnbildlicht. Mit anderen Worten: die Welt in „Jim Knopf“ (und nicht nur die) ist mit dem Beginn der Industrialisierung aus dem Gleichgewicht geraten, und Jim Knopf ist es, der alles wieder in Ordnung bringen muß.

Jim Knopfs Herkunft ist ein Rätsel. Eines Tages gelangt er als Baby per Postzustellung auf die Insel Lummerland, wo er von den Bewohnern adoptiert wird. Ganz besonders eng schließt sich Jim Knopf an Lukas den Lokomotivführer an. Jim Knopf weigert sich, lesen und schreiben zu lernen. Aber auf der gemeinsamen Abenteuerfahrt mit Lukas und seiner Lokomotive zeigt sich, daß Jim Knopf sehr mutig ist. Im Gegensatz zu LiSi. Lisi ist sehr ängstlich, aber dafür kann sie lesen und schreiben. So schreibt sie z.B. während ihrer Gefangenschaft in der Schule des Drachen Frau Mahlzahn eine Flaschenpost, in der sie um Hilfe bittet. Als Jim Knopf und Lukas sie und die anderen Kinder befreien, muß Jim Knopf zugeben, daß Lesen und Schreiben doch ganz nützlich sein können und ist bereit, nach seiner Rückkehr nach Lummerland bei Herrn Ärmel Unterricht zu nehmen.

In diesem ganzen Erzählkomplex um LiSi und Jim Knopf geht es vor allem um den Zusammenhang (oder Nicht-Zusammenhang) von Schule und Bildung. Zu diesem Komplex gehören auch die Piraten, die nicht richtig zählen und nur ganz fragmentarisch lesen und schreiben können. Sie wissen nicht, daß sie nicht dreizehn, sondern nur zwölf Piraten sind, und auch die Adresse auf dem Paket, mit dem sie Jim Knopf ursprünglich nach Kummerland schicken wollten, war so fehlerhaft verfaßt gewesen, daß das Paket irrtümlich in Lummerland abgeliefert worden war. Die Piraten stehen kollektiv für eine Erwachsenenwelt, die ihre Kinder zwangsweise in die Schule schickt (bei Frau Mahlzahn in Kummerland sind die Kinder an die Schulbänke angekettet), obwohl sie selbst, also die Erwachsenen, das Versagen dieser Schulbildung persönlich erlebt haben und sie auch als schlechtes Vorbild verkörpern.

Diese Schul-Unbildung zeigt sich besonders beim Hauptmann der Wilden 13, der, wie alle anderen Piraten, vermeintlicherweise nur einen einzigen Buchstaben des Alphabets beherrscht: das ‚K‘. Tatsächlich schreibt er aber immer nur ein ‚X‘, was der Postbote, als er das Paket mit dem kleinen Jim Knopf ablieferte, dann nicht als ‚Kummerland‘, sondern als ‚Lummerland‘ deutete. Letztlich steht dieses ‚X‘ des Piratenhauptmanns ähnlich wie das ‚X‘ in der Mathematik, das immer für eine Unbekannte steht, für die Identitätslosigkeit der Piraten, die sich untereinander nicht auseinanderhalten können, so daß jeder von ihnen als Hauptmann auftreten kann, wenn er nur den Stern am Hut trägt. Letztlich erweist sich Jim Knopf als die wahre 13, als der Hauptmann, den die Piraten immer schon mitgezählt hatten, ohne ihn zu kennen.

Übrigens scheint auch König Alfons der Viertelvorzwölfte von Lummerland mit seiner ganzen Schrulligkeit, der alle Welt mit seinen verworrenen Telephonanrufen belästigt, für so eine verkorkste Schulbildung zu stehen. Denn bei ihm hat es nicht zur ganzen ‚Zwölf‘ gereicht, womit er in gewisser Weise mit den Piraten auf einer Stufe steht, die zwar zwölf sind, aber sich für dreizehn halten.

Die ganze Schulbildung findet deshalb bezeichnenderweise in Kummerland bei Frau Mahlzahn statt. Die Drachen verfügen nur über dasjenige Wissen, mit dem man etwas machen und herstellen kann. Ihr Metier ist die Technik und die Industrie. LiSi hingegen steht mit ihrer Ängstlichkeit und Vielwisserei für viele andere Bewohner von Mandala, die mit ihrem Wissen überhaupt nichts anfangen können und sich damit vergnügen, Häuser aus zerbrechlichem Porzellan und Brücken aus Glas zu bauen, die Haare auf ihren Köpfen zu zählen und winzigkleine Elfenbeinkunstwerke zu schnitzen. Das riesige Reich wird von unfähigen Verwaltungsbeamten (Bonzen) regiert, und niemand ist in der Lage, als die Flaschenpost von LiSi, der Tochter des Kaisers, eintrifft, sich auf den Weg zu machen und sie zu retten.

Wir haben also technisches Wissen (Kummerland) auf der einen Seite und nutzloses Wissen (Mandala) auf der anderen Seite. Erst Jim Knopf, dem Analphabeten und mutigen Draufgänger gelingt es, gemeinsam mit Lukas (und der Lokomotive Emma), LiSi zu befreien, und Frau Mahlzahn gefangen zu nehmen, die sich nun in Mandala, wo sie der fehlenden Seite ihres technischen Wissens, der Kontemplation und der Meditation (nutzloses Wissen), begegnet, in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt.

Das ist die erste der von Jim Knopf ermöglichten Zusammenführungen von bislang getrennten Aspekten der menschlichen Bildung. Eine weitere Verbindung ergibt sich aus der Heirat von Jim Knopf mit LiSi, die sich beide ebenfalls in ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Und zum Schluß werden die Piraten, also die mißratene Erwachsenenwelt, die ihre Kinder einer sinnlosen Schulbildung unterwirft, zu Jim Knopfs Leibwächtern, nach dem Vorbild von Lukas dem Lokomotivführer, der Jim Knopf in allen seinen Abenteuern treu zur Seite steht und es auch von Anfang an nicht für nötig gehalten hatte, Jim Knopf zu zwingen, irgendetwas zu lernen, was er nicht lernen wollte. – Vielleicht steht ja Lukas doch noch für etwas anderes: angesichts der Bedeutung der Zahl ‚zwölf‘ könnte Lukas für einen der zwölf Apostel und den gleichnamigen Evangelisten stehen, der ja auch die ausführlichste Kindheitsgeschichte von Jesus (der ja ebenfalls ein Dreizehnter unter Zwölfen ist) verfaßt hat.

Jim Knopf selbst erfährt am Ende, daß er in langer Generationenfolge von einem der Heiligen drei Könige aus dem Morgenland abstammt und daß sein angestammtes Königreich Jamballa ist. Wie sich herausstellt, bildet Lummerland die oberste Bergspitze des vom Meer überfluteten Jamballa, das Jim Knopf, als es wieder aus dem Meer aufsteigt, in „Jimballa“ umbenennt. Mit der Umbenennung von „Jamballa“ in „Jimballa“ wird deutlich, worin der tiefere Sinn des Namens „Jim Knopf“ liegt. Der Knopf selbst fügt, wie bekannt, jenes Loch in Jims Hose wieder zusammen, das er sich beim Spielen immer wieder aufreißt. Schon dieser Knopf deutet also an, daß in all den Abenteuern, die Jim Knopf besteht, etwas zusammengefügt werden muß, was auseinandergerissen worden war. Indem Jim Knopf aber nun mit Hilfe der nicht mehr wilden Piraten ein Land namens „Jimballa“ regiert, zieht Michael Ende darüber hinaus auch eine Verbindung zum aus dem Griechischen stammenden Wort „Symbol“.

Der Name „Jim-Knopf“ spielt lautmalerisch auf das Wort „Sym-Bol“ an (Dada feiert dieser Tage seinen Hundertsten! – ;-), und „Jimballa“ verweist auf das griechische „symballein“, und beides bedeutet wiederum ‚zusammenfügen‘. Und es gibt da wirklich noch vieles, vieles mehr, was im Laufe von Jim Knopfs Abenteuern zusammengefügt wird. Dazu mehr im nächsten Post.

PS (6. Januar 2021):
Im „Atlas der verlorenen Sprachen“ (2020), S.64f.; Sichwort Yámana) stoße ich auf folgende Stelle:
„Jemmy Buttons Geschichte ist vielfach erzählt worden, unter anderem Mitte der 1950er Jahre von dem chilenischen Schriftsteller Benjamin Subercaseaux. Dessem Buch, ins Deutsche übersetzt, begegnete Michael Ende wohl bei den Recherchen zu seinem eigenen neuen Buch. Und so wurde aus Jemmy Button Jim Knopf, den Michael Ende selbst nie als Jugendroman verstanden wissen wollte. ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ erzählt im Gewand der Fantastik eine antirassistische Parabel, bei der die ‚Reinrassigen‘ die Bösen sind und Jim Knopf, der letzte Nachfahre aus dem Geschlecht des heiligen Dreikönigs Kaspar, im Land Jimballa zum König wird, indem er sich die Krone ‚auf seine schwarzen Kraushaare‘ setzt.“
Jemmy Button war demnach ein junger Angehöriger eines Indianerstammes, der von dem Kapitän Robert FitzRoy 1830 mit nach England genommen und dort ‚zivilisiert‘ worden war. Er kehrte dann nach Feuerland zurück und soll am ‚Massaker‘ an einer Gruppe von Missionaren beteiligt gewesen sein, was er selbst aber abstritt. Er starb 1866.

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Samstag, 13. Februar 2016

Die Realität der Geisteswissenschaften und die globalisierte Medienlandschaft

In diesem Blog war gelegentlich schon von den Geisteswissenschaften die Rede gewesen. (Vgl. meine Posts vom 18.01.2013, 16.02.2013, 26.07.2013 und vom 20.12.2014) Der Hauptunterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften besteht darin, daß die Naturwissenschaften mit der objektiven ‚Natur‘ einen Gegenstand haben, zu dem sich gleichermaßen allgemeingültige wie falsifizierbare Gesetzesaussagen formulieren lassen. Die Geisteswissenschaften haben es hingegen mit einer ‚Natur‘ zu tun, zu der sich weder allgemeingültige noch falsifizierbare Gesetzesaussagen formulieren lassen. Die objektiv beobachtbaren Phänomene, mit denen wir es in den Geisteswissenschaften zu tun haben – das menschliche Verhalten in allen seinen Erscheinungsformen –, sind immer mit einem subjektiven Innenleben verbunden, das nicht objektiv beobachtbar und scheinbar nur der Introspektion zugänglich ist.

Inwiefern haben wir es hier dennoch mit einer Realität zu tun? Mit einer Realität, wie sie den objektiven Naturprozessen entspricht? Die Antwort ist einfach. Die Realität unseres subjektiven Innenlebens ist dieselbe wie die der objektiven Naturprozesse, aus dem einfachen Grunde, daß sie sich auf deren Realität auswirkt. Eine mögliche Bestimmung der geisteswissenschaftlichen Realität besteht im Thomas-Theorem. Das nach den amerikanischen Soziologen Dorothy Swaine Thomas (1899-1977) und William Isaac Thomas (1863-1947) benannte Theorem besagt, daß alles, was die Menschen für real halten, auch in seinen Konsequenzen real ist. Die Realität des menschlichen Innenlebens bildet also einen Faktor der Außenweltrealität, mit der sich die Naturwissenschaften befassen.

Wodurch wird aber nun wiederum das subjektive Innenleben bestimmt? Durch die naturwissenschaftlich beobachtbare und meßbare Außenwelt bzw. durch die Naturprozesse? – Nur zum Teil. Es gibt kein wechselseitiges Reiz-Reaktionsverhältnis zwischen unserem Innenleben und den Ereignissen der Außenwelt, demzufolge das, was wir für real halten, eins zu eins den realen Prozessen der Außenwelt entspricht. Tatsächlich wird unser Innenleben weniger durch die physische Außenwelt als vielmehr durch das Innenleben unserer Mitmenschen bestimmt.

Michael Tomasello nennt das „Rekursivität“. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010, vom 20.04.2012 und vom 17.08.2012) Rekursivität bedeutet, daß wir unser eigenes Denken und Fühlen, unser gesamtes Innenleben bzw. unsere Intentionalität, am Innenleben unserer Mitmenschen orientieren. Unsere Gedanken und Gefühle entsprechen den Gedanken und Gefühlen unserer Mitmenschen, von denen wir annehmen, daß sie sie haben. Die Realität, mit der sich die Geisteswissenschaften befassen, besteht also in den realen Auswirkungen von wechselseitigen individuellen Annahmen über das gemeinsame Denken und Fühlen.

Zu dieser Realität gehören allerdings auch die Auswirkungen auf diejenigen Individuen, die sich mit ihrer Realitätswahrnehmung nicht haben durchsetzen können. So kann es dazu kommen, daß vermeintliche Ketzer und Hexen auf Scheiterhaufen verbrannt werden, was als Ereignis der äußeren Realität eindeutig durch dessen objektive Beobachtung bestätigt werden kann. Was die Ketzer- und Hexenverfolger für real halten, wird in passenden sozialen Kontexten (via Mehrheitsmeinung) zur Realität auch für diejenigen, die deren Realitätsauffassung nicht teilen.

Wir haben es also mit einer dynamischen Realität zu tun, in der verschiedene Realitätsauffassungen miteinander um die Außenweltdominanz konkurrieren. Die Geisteswissenschaftler befassen sich mit den sozialen und individuellen Entstehungs- und Geltungsbedingungen solcher subjektiven Realitätsauffassungen.

Angesichts der skeptischen Haltung vieler Naturwissenschaftler gegenüber der ‚Realität‘ des Innenlebens – es gibt kein naturwissenschaftlich aufweisbares ‚Organ‘ eines solchen Innenlebens, da alle ‚inneren‘ Organe unseres Körpers einschließlich des Gehirns Außenweltphänomene sind –, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß das sogenannte ‚Innenleben‘ sich nicht innerhalb von irgendetwas befindet, und es ist prinzipiell nur indirekt nachweisbar. Das gilt auch für das subjektive Bewußtsein selbst, das sich durch ‚Introspektion‘ genauso verfehlen kann, wie es durch irgendeinen äußeren Beobachter dieses subjektiven Bewußtseins verfehlt werden kann. Gerade Anhänger einer naturalistischen Weltanschauung behaupten immer gerne von sich selbst, daß sie von keinen eigenen inneren Vorgängen wissen, geschweige denn von einem inneren Gefühlsleben oder von einer Seele.

Tatsächlich ist es so, daß wir über unser eigenes inneres Leben keine Gewißheit haben. Wir sind so verschränkt und verwoben mit unserer sozialen Mitwelt, daß alle unsere subjektiven Regungen und Intentionen immer auch sozial induzierte Regungen und Intentionen sind. Helmuth Plessner weist darauf hin, wenn er schreibt, „daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.298f.)

Dennoch gibt es einen unabweisbaren Hinweis auf dieses Innenleben, und es ist wiederum Plessner, der es auf den Punkt bringt: In dem Moment, wo meine Pläne fehlgehen, weil sie auf eine widerständige Außenwelt treffen, und meine Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, bricht die „binnenhafte Kluft“ auf, die „raumhaft innere Grenze“, und wir werden uns bewußt, daß wir nicht mit der Außenwelt identisch sind. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.245)

Das ist der indirekte, aber dennoch unabweisbare Nachweis einer eigenen subjektiven Innenwelt, und er bezieht sich nicht nur auf die innere Differenz zu einer physischen Außenwelt, sondern auch auf die individuelle Differenz zu einer sozialen Mitwelt. So rekursiv unser Innenleben auch funktioniert und so sehr wir immer in soziale Prozesse eingesponnen sind, so daß wir uns unserer eigenen inneren Gedanken und Gefühle nicht sicher sein können, funktionieren die sozialen Prozesse doch nicht reibungslos. Wir verstehen einander niemals vollständig, sondern immer nur bruchstückhaft, bestenfalls annäherungsweise. Und das ist auch gut so! Wenn wir einander vollständig verstehen würden, hätten wir einander auch nicht mehr viel zu sagen. Die ganze Kommunikation würde sich auf Simplizitäten beschränken wie „reich mir bitte mal das Salz rüber“.

Nicht nur in der physischen Außenwelt scheitern unsere Pläne. Auch in der sozialen Welt scheitern wir immer wieder am Nicht-Verstehen unserer Mitmenschen und nicht selten auch am eigenen Nicht-Verstehen unserer selbst.

Die Aufgabe der Geisteswissenschaften ist es also, sich mit dieser inneren Realität auseinanderzusetzen und uns über uns selbst aufzuklären, so wie die Naturwissenschaften uns über die äußere Realität aufklären. Das ist gerade in der gegenwärtigen Medienlandschaft besonders notwendig. In den Zeiten des Nationalstaates mit seinen analogen Presseorganen war es noch selbstverständlich, daß die subjektiven Innenwelten sich an der öffentlichen Meinung ausrichteten. Die Öffentlichkeit war eine national begrenzte und konnte deshalb Konsens und Dissens einigermaßen ausbalancieren.

Die heutigen digitalen Medien hingegen haben die Grenzen des Nationalstaates gesprengt. An ihre Stelle ist aber keine globale Öffentlichkeit getreten, sondern eine fragmentierte Medienlandschaft, die nicht mehr zu informieren, sondern nur noch zu desinformieren vermag. Die Individuen sind fortwährend damit überfordert, sich ihre Informationen aus den verschiedenen Websites (mit freundlicher Unterstützung von Google) mehr schlecht als recht zusammenzuklauben. Diese Informationen sind aber immer nur Informationen. Sie enthalten kein Kriterium für ihre Richtigkeit oder Falschheit. Berücksichtigt man außerdem Friedrich Kittlers Behauptung, daß der Hauptzweck der Medien darin bestünde, uns zu täuschen und unsere Augen und Ohren durch 3D-Brillen und Raumklangtechnik zu ersetzen (vgl. meine Posts vom 29.04.2012 und vom 19.11.2013), dann sind mediatisierte Informationen sowieso und prinzipiell immer falsch.

Im Grunde haben wir es mit einem globalen Bürgerkrieg zu tun, in dem die rekursiven Mechanismen, wie sie Tomasello beschrieben hat, ins Leere laufen. Entweder glauben wir, daß der Informant uns helfen wird, weil wir davon ausgehen, daß wir beide zu unserem gegenseitigen Nutzen kooperieren wollen, oder wir glauben, daß der Informant uns täuschen wird, weil wir davon ausgehen, daß er uns zu seinem eigenen Nutzen manipulieren will. Mit solchen Problematiken befassen sich Spieltheoretiker. Aber was auch immer sie uns über den größeren Nutzen kooperativen Verhaltens zu sagen wissen: ihre Ergebnisse helfen uns an dieser Stelle nicht wirklich weiter.

So oder so: wir verändern die Welt aufgrund dessen, was wir für real halten. Was aber ist, wenn wir nichts mehr für real halten können, weil uns nur noch digitalisierte Informationen zur Verfügung stehen? Dann gäbe es nichts mehr, das es lohnen würde, darüber miteinander zu sprechen. Der reale, analoge Bürgerkrieg wäre unausweichlich. Tatsächlich glaube ich, daß das Internet ihn vorbereitet.

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Samstag, 6. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Mankell hebt die Ambivalenzen einer technologischen Entwicklung hervor, die sich um die Nebenfolgen ihrer Innovationen nicht kümmert: „Es geschieht immer wieder, und es wird weiter geschehen. Der Mensch setzt neue Projekte in Gang, ohne zuerst zu prüfen, ob vielleicht verborgene Schattenseiten existieren. Die Gefahr besteht immer. Und wenn es passiert, kann es zu einer grenzenlosen Katastrophe führen. Die jungen Fabrikarbeiterinnen, die sich Zähne und Fingernägel mit phosphoreszierender Farbe bemalten und miteinander lachten, wurden auf dem Altar unseres stets gegenwärtigen Mangels an Geduld geopfert. Es ist so unendlich einfach, Risiken zulasten des Lebens anderer Menschen einzugehen.“ (Mankell 2015, S.166)

Neben dem Hinweis auf die jungen Mädchen, die in einem 1915 gegründeten Unternehmen mit Pinseln eine radioaktive, im Dunkeln leuchtende Farbe auf „Uhren oder Kruzifixe“ auftrugen und sich nebenbei damit amüsierten, ihre Fingernägel und Zähne mit dieser Farbe zum Leuchten zu bringen (vgl. Mankell 2015, S.162), verweist Mankell auf die aktuelle Problematik des Frackings, als einem „besonders deutliche(n) Beispiel“ dafür, „wie wir es unterlassen, auf die Konsequenzen unserer Handlungen zu achten, bevor wir Projekte in Gang setzen, von denen wir behaupten, sie dienten dem Nutzen der Menschheit“. (Vgl. Mankell 2015, S.182) – Von den unabsehbaren Folgen der Atomkraft, auf die Mankell in seinem Buch an verschiedenen Stellen immer wieder zurückkommt, ist schon die Rede gewesen. (Vgl. meinen Post vom 02.02.2016)

International ist das bis lang noch nicht zum Unwort des Jahres gewählte „German Angst“ bzw. „German Vorsicht“ gebräuchlich, mit dem eine zutiefst rationale Verhaltensweise als irrational verunglimpft wird, als eine spezifisch deutsche Pathologie. Ohne direkt auf diese Sprachverwirrung einzugehen, läßt Mankell keinen Zweifel daran, daß die Vorsicht ein unverzichtbares Moment der menschlichen Innovationsbereitschaft bilden muß: „Der Mensch nimmt Risiken in Kauf. Risikofreude gepaart mit nie erlahmender Neugier hat uns dahin gebracht, wo wir heute stehen. Aber wenn ein drittes Moment, die Vorsicht, fehlt, kann es gefährlich werden.“ (Mankell 2015, S.180)

Mankell ist, wie wir noch sehen werden, keineswegs ein prinzipieller Technik-Gegner. Aber er hat lange genug gelebt und seine Erinnerung reicht weit genug zurück, um sich daran zu erinnern, wann der erste Plastikmüll an die schwedischen Strände spülte. Als Kind hatte er die Korkschwimmer von verlorengegangenen Netzen eingesammelt. Verpackungen bestanden aus Papier und Karton, „Materialien, die schnell abgebaut wurden“. (Vgl. Mankell 2015, S.89) Mankell schreibt, er sei im „Kartonzeitalter“ aufgewachsen. (Vgl. Mankell 2015, S.90) In Afrika hatte er beobachtet, wie Straßenkinder in großen Kartons unterschlüpften, um darin die Nacht zu verbringen, so lange bis Plastikfolien an die Stelle der Kartonverpackungen traten und die Straßenkinder ihrer notdürftigen Behausungen beraubt wurden. (Vgl. Mankell 2015, S.215) Und die Korkschwimmer wurden durch Plastikschwimmer ersetzt: „Von da an gab es nur noch Plastik. Danach kamen die Milchkartons und die Plastikflaschen. Aber die sammelte weder ich noch sonst jemand ein. Das Plastik fühlte sich tot an, wenn man es in die Hand nahm, während Kork sich immer lebendig anfühlte.“ (Mankell 2015, S.90)

Auch ich kann mich erinnern, wie wir in den 1960ern während einer Urlaubsfahrt Rast machten und meine Mutter erstmals Plastikmesser und Plastikgabeln auspackte, statt des bislang gewohnten Metallbestecks. Ich hantierte äußerst mißtrauisch mit diesem neuartigen Material. Es funktionierte lange nicht so gut wie das bewährte Metallbesteck, und das Essen schmeckte auch irgendwie anders. Wer nie den Widerwillen gespürt hat, Plastik in die Hand zu nehmen oder eine Plastikflasche an die Lippen zu setzen, um Wasser zu trinken, wird auch nicht wirklich nachvollziehen können, wie beunruhigend der Gedanke ist, daß wir die Meere mit an der Oberfläche schwimmenden Plastikinseln und mit bis in die Sedimente hinabsinkendem Mikroplastik verseuchen.

Dennoch ist Mankell kein prinzipieller Gegner technologischer Innovation. Er selbst ist in gewisser Weise von der Technikfaszination des 20. Jhdts. ‚infiziert‘, was gelegentlich in eine naive Wissenschaftsgläubigkeit übergeht. So übernimmt er unkritisch die neurophysiologische Sprachregelung, die beobachtbare Gehirnprozesse mit Denkprozessen nicht einfach nur korreliert, sondern gleichsetzt: „Letztlich handelt es sich dabei um chemische Prozesse. Ob wir es wollen oder nicht, geht es auch bei unseren geistigen Erlebnissen um verschiedene messbare physiologische Abläufe.“ (Mankell 2015, S.211)

Mankell zufolge sind es die „Abläufe in Zellen und chemische Prozesse, die darüber entscheiden, wie wir uns fühlen und wie wir denken, wie wir lieben und wie wir unter der Erniedrigung der Eifersucht leiden“. (Vgl. Mankell 2015, S.212) Dabei handelt es sich nicht einfach nur um eine schlichte Feststellung der Tatsache, daß es ohne diese chemischen Prozesse keine Gefühle und kein Denken gäbe, was unbestreitbar ist und auch ohne weiteres mit Plessners Definition des Körperleibs zu vereinbaren ist. Mankell zufolge besteht vielmehr in diesen „chemischen Prozesse(n) im Gehirn“ das „Wesen des Denkens“. (Vgl. Mankell 2015, S.251) Damit aber stellt sich Mankell in die Reihe der neurophysiologischen Reduktionisten.

Was bei dieser Sichtweise alles verlorengeht, wird an der Stelle deutlich, wo er auf die kulturellen Leistungen von Michelangelo verweist: „Michelangelo hätte nicht schlechter gemalt, wenn er gewusst hätte, was wir heute über die wunderbaren, unsichtbaren Vorgänge wissen, die die wichtigsten Ereignisse und Entschlüsse in unserem Leben steuern.“ (Mankell 2015, S.212) – Demnach wären es also ausschließlich die als „wunderbare(), unsichtbare() Vorgänge“ gefeierten chemischen Prozesse, denen wir die ganze Fülle eines menschlichen Lebens auf der Höhe der kulturellen Errungenschaften einer Epoche zu verdanken hätten. So komplex die ‚chemischen Prozesse‘ für sich selbst auch sein mögen: es macht einfach keinen Sinn die eine Komplexität eines Individuums und seiner Epoche durch die andere Komplexität der Biochemie zu ersetzen.

Positive Bezüge auf das technologische Innovationspotential des Menschen finden sich bei Mankell vor allem in den Passagen, wo er auf die Raumsonden Voyager 1 und 2 verweist. Diese Raumsonden bilden das positive Pendant zum strahlenden Atommüll, ein Zeugnis unserer Kultur, das wir auf eine unendliche Reise in den Weltraum geschickt haben: „Wenn alles Übrige von unserer Zivilisation vergangen sein wird, werden zwei Dinge zurückbleiben: das Raumschiff Voyager auf seiner ewigen Reise in den äußeren Weltraum und der nukleare Abfall in den unterirdischen Schächten.“ (Mankell 2015, S.44) – Witzigerweise spricht Mankell hier vom „Raumschiff“ und nicht von einer „Raumsonde“. Wenn es sich nicht um einen Übersetzungsfehler handelt, haben wir hier einen Hinweis darauf, daß Mankell wohl ein Trekki gewesen ist.

Die mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 verbundenen technologischen Glanzleistungen machen Mankell Hoffnung, daß es der Wissenschaft eines Tages auch gelingen wird, nicht nur den Krebs zu besiegen, sondern auch mit dem Atommüll fertig zu werden: „Wenn ich all die wissenschaftlichen und ingenieurstechnischen Triumphe bedenke, die mit dieser Reise (der Raumsonden – DZ) einhergehen, kann ich nur darüber staunen, dass wir diese Aufgabe zu bewältigen vermochten, trotz aller Hindernisse, die überwunden werden mussten, bevor die Sonden auf den Weg geschickt wurden. Das lässt mich daran glauben, dass auch der Krebs eines Tages ganz besiegt sein wird. Und dass wir fähig sind, auch den nuklearen Abfall, den wir ansammeln, auf vernünftige Weise zu entsorgen.“ (Mankell 2015, S.183)

Ich kann mich an eine Raumschiff-Voyager-Episode erinnern, in der die Raumschiff-Crew auf eine zerstörte Zivilisation trifft. Grund der Zerstörung: die Raumsonde Friendship One (alias Raumsonde Voyager1/2?), die technische Details einer Anti-Materie-Technologie in diesen entlegenen Teil der Galaxie getragen hat. Ein Schelm, der dabei an Atomkraftwerke und Atombomben denkt! – Star Trek ist jedenfalls insgesamt sehr viel technologiekritischer, als es vielen seiner Fans bewußt ist.

Aber trotz dieser gelegentlichen Naivitäten ist Mankell doch sehr sensibel für die Verluste, die mit dem technischen Fortschritt einhergehen. Das zeigt sich auch wieder bei einem jährlichen Highlight seiner Kindheit: dem Zirkus, der sein Heimatdorf regelmäßig im Frühjahr besuchte. Der Zirkus wird für Mankell zum Inbegriff der körperlichen Präsenz und Selbstbeherrschung, die nicht nur die volle Konzentration der Akrobaten erfordert, sondern auch die körperliche Anwesenheit der Zuschauer, die mit den Schaustellern mitfiebern. Die gemeinsame Anwesenheit im Raum ist Mankell zufolge auf kein mediales Format übertragbar:
„Ich weiß nicht, ob es noch Zirkusse gibt, die herumreisen und einmal im Frühling oder im Sommer diese kleinen Ortschaften besuchen und die öden Gesetze der Schwerkraft und der Normalität außer Kraft setzen. Wenn nicht, ist es der Beweis dafür, dass inmitten all des Wohlstands und der wirbelnden, ständig überraschenden technologischen Entwicklung eine schleichende Verarmung voranschreitet. Auch wenn man das Beste vom Besten der Zirkuskunst im Internet oder im Fernsehen betrachten kann, wird es stets nur eine blasse Kopie sein. Zirkus setzt voraus, dass man anwesend ist und Zeuge der Verwandlung wird. Man muss im selben Raum sein wie die Akrobaten und Jongleure. ... Zirkus ist nichts anderes als die Zurschaustellung menschlicher Fähigkeiten, die durch strenge Disziplin und Training eingeübt und beibehalten werden.“ (Mankell 2015, S.290)
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Freitag, 5. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Im Alter von sechzehn Jahren trifft Mankell eine schwerwiegende Entscheidung: er will nicht mehr zur Schule gehen, und er will Schriftsteller werden. Zu diesem Zweck geht er für einige Zeit nach Paris, um dort zu leben und zu lernen. (Vgl. Mankell 2015, S.124ff.) Er hat dort keine leichte Zeit. Er lebt am Rande des Existenzminimums, arbeitet in der Werkstatt eines Klarinettenreinigers und klaubt Zigaretten aus dem Rinnstein auf: „Ich lernte das Wichtigste, das man können muss: sein Leben in die Hand nehmen. Zu seinen Entscheidungen stehen. Schriftsteller wurde ich nicht in der Zeit, die ich in Paris verbrachte. Das war auch nicht so wichtig. Ich tat den ersten Schritt auf dem Weg, ein Mensch mit einem Bewusstsein zu werden.“ (Mankell 2015, S.128)

Diese Entscheidungsfreiheit ist für Mankell essentiell. Jeder Mensch sollte in seinem Leben wählen können, welchen Weg er gehen will. Mankell weiß aber sehr wohl, daß die allermeisten Menschen diese Wahl nicht haben. Bei den meisten Menschen geht es schlicht und einfach ums Überleben. Der Luxus, zwischen zwei verschiedenen Alternativen wählen zu können, steht ihnen nicht zur Verfügung.

Aber es gibt auch die anderen, die die Möglichkeit der Wahl durchaus haben, aber es dennoch vorziehen, auf der vermeintlich sicheren Seite zu bleiben und den breitgetretenen, bequemen Weg zu gehen, den schon so viele andere vor ihnen gegangen sind: „Auch wenn ich später im Leben dann und wann eine falsche Wahl getroffen habe, ist das nichts gegen die Niederlage, überhaupt nicht zu wählen. Ich wundere mich oft über Menschen, die sich widerstandslos mit dem Strom treiben lassen, ihr Dasein nie in Frage stellen oder nie einen notwendigen Aufbruch wagen. Gut, die Menschen lassen sich scheiden. Das ist natürlich eine Form von Aufbruch. Aber jene Entscheidungen, die tiefer reichen, die sich darum drehen, was du mit deinem Leben anfangen willst, sind die wichtigsten, vor die man gestellt wird, und die man treffen muss.“ (Mankell 2015, S.129)

Die Zeit der Wahl ist die Jugend. Je älter man wird, umso weniger ist man fähig oder bereit, sein Leben zu ändern: „Natürlich gibt es keinen Zweifel daran, dass ich mehr als mein halbes Leben hinter mir habe. Auch nicht daran, dass die wichtigsten Entscheidungen meines Lebens gefallen sind. Ich werde keinen neuen Lebensweg mehr einschlagen.“ (Mankell 2015, S.240) – Außerdem hat man Verantwortung. Auch Mankell hat schließlich einen eigenen Sohn, um den er sich kümmern muß.
Zwischenbemerkung: Das sagt übrigens viel über unser Bildungssystem. Wir fangen möglichst früh an, unseren Kindern Wissen und Bildung zu vermitteln, um sie später einen aussichtsreichen Beruf ergreifen zu lassen und zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen. In diesem Sinne wäre es geradezu eine Katastrophe, wenn ein Jugendlicher wie Mankell mit sechzehn Jahren die Schule verlassen würde, einfach weil er ‚keine Lust‘ mehr hat oder weil er eine Entscheidung getroffen hat. Das Jugendamt würde eingreifen. Sozialpädagogen würden den Jugendlichen beraten und drängen, wenigstens einen Schulabschluß, welchen auch immer, zu machen. In unserem Bildungssystem ist keine Bildung vorstellbar, die außerhalb des Bildungssystems stattfindet.
Zurück zu Mankell: Die Wahlfreiheit ist ein Privileg von Individuen. Individuen nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand und entscheiden sich, ihr Leben zu führen. Es gibt hier keine guten Entscheidungen und keine bösen Entscheidungen. Es gibt nur gute und schlechte, nur richtig und falsch. Mankell weigert sich, „den Begriff ‚das Böse‘ in den Mund zu nehmen“: „Daran glaube ich nicht.“ (Mankell 2015, S.186)

Sicher, es gibt sinnlose Brutalität, die Menschen anderen Menschen gegenüber an den Tag legen. Mankell erlebt in seinem Leben mehrmals solche Situationen. (Vgl. Mankell 2015, S.293ff.) Die „Barbarei“, so Mankell, „hat immer menschliche Züge. Das macht die Barbarei so unmenschlich.“ (Vgl. Mankell 2015, S.187) – Dennoch hält Mankell daran fest, „dass das Böse stets eine Folge von Umständen ist, nie etwas Angeborenes“. (Vgl. Mankell 2015, S.342)

Ich verstehe Mankell so, daß, egal was die Menschen machen, ihre Wahlfreiheit immer bestehen bleibt. Gleichgültig wie abgrundtief schlecht bzw. ‚böse‘ ihr bisheriges Handeln gewesen sein mag, haben diese Menschen doch die Möglichkeit, einen einmal eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen; wenn auch mit zunehmendem Alter immer weniger. Wäre es nicht so, wären sie auch gar nicht mehr straffähig. Straffähigkeit setzt voraus, daß sich Menschen ändern können. Das wäre nicht so, wenn diese Menschen tatsächlich böse wären.

Genauso wenig gibt es das ‚Gute‘ bzw. den durch und durch guten Menschen. Wir mögen ein noch so bewundernswertes und vorbildliches Leben geführt haben. Das ist keine Garantie, daß wir nicht in Situationen geraten können, in denen wir uns falsch verhalten und Unheil anrichten. Auch der beste Mensch kann durch und durch boshaft handeln, wenn er mal – aus mangelnder Achtsamkeit – einen Moment lang nicht aufpaßt. Um Unachtsamkeit zu vermeiden, sind im Laufe der Jahrtausende Rituale entwickelt worden, Meditationstechniken, Mantras und tägliche Übungen.

Allerdings bringt Mankell ein Beispiel, das einen Hinweis auf ein Gutes bzw. auf ein Gut enthält, das nicht mehr durch nachfolgende Taten korrumpierbar ist. Es ist ein Beispiel für ein schlechthin Gutes. Mankell beschreibt eine Exekutionsszene aus dem zweiten Weltkrieg. Eine polnische Partisanengruppe soll von deutschen Wehrmachtsoldaten erschossen werden: „Da geschieht etwas Merkwürdiges. Einer der deutschen Soldaten lässt seine Waffe fallen, reißt seine Uniformjacke auf und stellt sich zu denen, die erschossen werden sollen. Er hat nur das Erschießungskommando verlassen und die Seite gewechselt. Statt zu schießen, entscheidet er sich dafür, erschossen zu werden.“ (Mankell 2015, S.170)

Ein Mensch entscheidet sich gegen das Töten und damit zwangsläufig für das Getötetwerden. Er entscheidet sich für eine letzte Wahl, unter Umständen, wo die allermeisten anderen Menschen keine Wahl gesehen hätten. Sich gegen den Schießbefehl zu stellen, bedeutete für den Befehlsverweigerer den Tod.

Dieser Soldat entscheidet sich aber, trotzdem eine Wahl zu haben und diese Wahl zu ergreifen. Er wählt den Tod. Er wählt das Ende aller Wahlfreiheit, und damit tut er etwas endgültig Gutes. So schlicht und einfach sein Handeln auch ist, bekommt es doch etwas Übermenschliches.

Solche Situationen beinhalten eine ultima ratio, eine letzte Tat, die durch nichts mehr gerechtfertigt, aber auch durch nichts mehr relativiert werden kann. Für Dietrich Bonhoeffer bestand diese ultima ratio darin, Hitler zu töten, um Schlimmeres zu verhüten, dabei aber selber unvermeidlich schuldig zu werden. Der „Mann des Gewissens“ muß hier, so Bonhoeffer, zwangsläufig scheitern. Das Verhalten des Wehrmachtsoldaten aber zeigt, daß es noch eine andere ultima ratio gibt, in der es der „Mann des Gewissens“ vorzieht, sich töten zu lassen, um nicht selber töten zu müssen.

Solange aber Menschen leben, gibt es nichts endgültig Gutes und auch nichts endgültig Böses.

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Donnerstag, 4. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen (und Männer)
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Mankell berichtet, wie er zweimal Freundinnen dazu drängt, das gemeinsame Kind abzutreiben. (Vgl. Mankell 2015, S.130) Zugleich gesteht er, daß er kein Recht dazu hatte, in das körperliche Selbstbestimmungsrecht dieser Frauen einzugreifen. Die Frauenkörper werden von der Gesellschaft anders in Anspruch genommen als Männerkörper, und auch anders von den Männern selbst als deren Körper von den Frauen. Frauen stehen auf eine Weise für die Möglichkeit der Fortpflanzung, wie es kein Mann seiner Biologie nach vermag. Was die Männer dann auch gerne auszunutzen pflegen: „Alle meine frühesten erotischen Erlebnisse waren davon geprägt, dass die Frau sich um die eventuellen Risiken einer Schwangerschaft zu kümmern hatte. Mich ging das nichts an.“ (Mankell 2015, S.307)

Es ist deshalb wohl nicht verwunderlich, wenn sich dieser biologische Unterschied auch auf das Denken und Fühlen von Frauen und Männern auswirkt, insbesondere was ihr wechselseitiges Verhältnis zueinander betrifft: „Dass sich die Eifersucht bei Männern und Frauen unterscheidet, ist nicht verwunderlich in einer Welt, in der die Männer Macht und die Frauen Verantwortung haben.“ (Mankell 2015, S.329)

Mankell ist also kein Genderist. Dennoch distanziert er sich von der Vorstellung, daß sich Frauen und Männer prinzipiell in ihrem Denken unterscheiden: „Ich glaube nicht, dass Männer und Frauen besonders unterschiedlich denken. Von ‚männlichem und weiblichem Denken‘ zu sprechen ist nur ein Aberglaube.“ (Mankell 2015, S.308) – Wenn Frauen und Männer sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Biologie in ihrem Welt- und Selbstverhältnis unterscheiden, Mankell aber dennoch von einer fundamentalen Gleichartigkeit ihres Denkens ausgeht, kann das nur eines heißen: Frauen sind wie Männer zu ihrem Körper exzentrisch positioniert. Sie haben die Möglichkeit, sich über ihre körperlichen Funktionen hinwegzusetzen.

Als Beispiel bringt Mankell seine eigene Mutter: „Meiner Mutter begegnete ich erst, als ich fünfzehn Jahre alt war. Sie hatte getan, was oft Männer tun; sie war weggegangen. Was in den fünfziger Jahren sehr ungewöhnlich war.“ (Mankell 2015, S.304)

Mankells Mutter wollte keine Mutter sein. Womit Mankell als Kind auch kein besonderes Problem gehabt hatte: „Ich war vor allem verwundert. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir diese Verwunderung immer vor wie jene, die ein Kind empfindet, wenn ein Luftballon plötzlich mit einem Knall zerplatzt und sich in einen armseligen Gummifetzen verwandelt. Es ist eine Art Verblüffung darüber, dass eine Mutter beliebt, nicht da zu sein, wenn man morgens aufwacht oder abends einschläft.“ (Mankell 2015, S.305)

Der Anspruch der Gesellschaft (und der Männer) auf den Körper der Frauen ist lediglich durch dessen biologische Funktion begründet. Das hat aber weitreichende Konsequenzen, was die gesamte Existenz einer Frau betrifft. Mankell bringt als Beispiel eine Beobachtung, die er in Afrika gemacht hat:
„Wenn ich an sie (die eigene Mutter – DZ) denke, kommt mir gleichzeitig das Bild von einer afrikanischen Frau und einem Zementsack in den Sinn, das sich von dem meiner Mutter vollkommen unterscheidet, zeitlich wie räumlich. Dennoch können sie beide auf je ihrer Seite des Lebens- und Todesstroms stehen und einander zuwinken. Ich sah die Szene aus einem Autofenster heraus in der Nähe von Lusaka in Sambia. Am Straßenrand kniete eine afrikanische Frau. Neben ihr hoben zwei Männer mit vereinten Kräften einen Zementsack vom Boden auf und legten ihn der Frau auf den Kopf. Der Sack wog fünfzig Kilo. Dann halfen sie ihr aufzustehen. Ich sah sie mit der riesigen Last davonschwanken. Es schien, als ginge sie geradewegs in die Sonne hinein, während der Straßenstaub um sie aufwirbelte.“ (Mankell 2015, S.306)
Mankells Mutter hat sich also geweigert, ihren Zementsack zu tragen. Und ihr Sohn hat Verständnis dafür.

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Mittwoch, 3. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Mit sechzehn Jahren entscheidet sich Mankell für die Schriftstellerei – und daß er nicht mehr in die Schule zu gehen braucht. Außerdem will er für einige Zeit in Paris leben. Als er seinem Vater seine Pläne mitteilt und sich auch nicht von ihm von seinen Plänen abbringen läßt, hört er, wie sein Vater nachts in seinem Zimmer unruhig hin und her wandert und keinen Schlaf findet. Da wird ihm bewußt, was er ihm antut und wie sehr sich sein Vater um ihn sorgt: „Ich fragte mich, wie ein Mensch sich freiwillig dafür entscheiden konnte, Kinder zu haben.“ (Mankell 2015, S.125)

Der sechzehnjährige Mankell wird sich zu diesem Zeitpunkt des Bruchs zwischen den Generationen bewußt. Die Eltern tun alles, um ihren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Es soll ihnen besser gehen, d.h. sie sollen eine Überlebenstradition fortsetzen, deren Subjekt die Familiengemeinschaft bildet. Die Eltern projizieren all ihre Liebe und Sorge um ein gutes, glückliches Leben auf ihre Kinder und sind dabei zu allen möglichen Opfern bereit. – Und dann entscheiden sich die Kinder einfach, einen anderen Weg zu gehen.

Mankells Vater ist tief getroffen. Aber er liebt seinen Sohn mehr als seine Wünsche und Hoffnungen und läßt ihn gehen. Sein Sohn wiederum hat von nun an ein gebrochenes Verhältnis zu Kindern.

Henning Mankell berichtet in aller Offenheit, wie er bei zwei Gelegenheiten, selbst die Verantwortung für ein eigenes Kind zu übernehmen, seine Freundinnen dazu drängt, abzutreiben: „Die schwersten Wahlsituationen, vor die ich in meinem Leben gestellt wurde, waren zwei Abtreibungen. Beide Male übte ich Druck aus, damit die Frauen sich für den Schwangerschaftsabbruch entschieden. Selbstverständlich war es am Ende ihre Wahl, ihr Entschluss. Aber heute denke ich zuweilen, dass meine Einflussnahme zu weit ging. Ich machte es auf unterschiedliche Weise zu meiner Entscheidung, obwohl es immer die Frau sein sollte, die über ihrem Körper bestimmt.“ (Mankell 2015, S.130)

So gesellen sich die beiden ungeborenen Kinder zu den anderen toten Kindern, von denen Mankell berichtet, die keine Chance bekamen, ihr Leben zu leben. Auf einem Familienporträt aus dem 17. Jhdt. wird eine Familie mit fünfzehn Kindern abgebildet, von denen einige bereits verstorben sind. Die toten Kinder werden im Hintergrund, halb verdeckt von den lebenden Kindern, dargestellt. (Vgl. Mankell 2015, S.20ff.) Für Mankell vereinigt dieses Bild den Doppelaspekt der menschlichen Existenz, die Hoffnung auf Leben und Zukunft und das Scheitern an den tragischen Lebensbedingungen. (Vgl. Mankell 2015, S.22)

Diese Ambivalenz prägt auch Mankells eigenes Verhältnis zu Kindern. Ungeachtet der beiden Abtreibungen sucht er bei seinen verschiedenen Afrikaaufenthalten immer wieder den Kontakt zu Straßenkindern und versucht ihr Leben zu verstehen und ihnen zu helfen. (Vgl. Mankell 2015, S.217) Möglicherweise ist das der Grund, daß sich sein Verständnis vom Kindsein radikal verändert. Bei all seinen Beobachtungen von Menschenschicksalen fällt ihm vor allem immer wieder die tiefe Tragik der menschlichen Existenz auf, als deren wesentliches Moment er die Todesangst ausmacht: „Die Katzen, die ich in meinem Leben gehabt habe, wussten nichts von ihrem Tod. Sie wussten nicht einmal, dass sie lebten. Sie waren einfach da, Tag um Tag, jagend, faulenzend, miauend. Unser menschliches Ich ist nichts anderes als das Wissen um unsere Sterblichkeit. Wer sich seine Angst vor dem Unbekannten eingesteht, begreift, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Im Grunde ist unser Dasein eine Tragödie. Ein Leben lang trachten wir danach, unsere Kenntnisse, unser Wissen und unsere Erfahrungen zu vermehren. Doch letzten Endes wird sich alles in Nichts auflösen.“ (Mankell 2015, S.120)

Doch Mankell ist sich sicher, daß die reine Sorge ums Überleben nicht der eigentliche Grund für den unbedingten Lebenswillen sein kann, den er überall findet, gleichgültig wie sehr die Menschen leiden. Es muß etwas Positives sein, ein Glücksverlangen, eine Hoffnung auf Lebensfreude, die uns am Leben erhält: „Wir können so viele Überlebensstrategien entwickelt haben, wie wir wollen, aber die elementare Kraftquelle, die uns erfolgreich macht, sind unsere Lebenlust und Lebensfreude. Wenn man diese mit einer ständig lebendigen Neugier und Wissbegierde paart, erhält man ein Bild der vollkommen einzigartigen Fähigkeit des Menschen.“ (Mankell 2015, S.210)

Den reinsten Ausdruck dieser Lebensfreude findet Mankell im spielenden Kind. Das spielende Kind – nicht der Familienegoismus – ist der wahre Grund dafür, sich für Kinder zu entscheiden: „Das Kind ist wie eine Insel in einem Meer, in dem die Dünung an den Strand rollt. Es existieren keine dunklen Wolkenfelder, keine Bedrohungen, keine Angst und kein Schmerz. Das Leben ist nur ein einziges angenehmes Erlebnis von Spiel und Summen. ... Das summende Kind sitzt immer da, am Strand oder im Garten oder auf dem Bürgersteig, spielend und wortlos singend. Es gibt keine Menschlichkeit oder irgendeine Zivilisation ohne dieses summende Kind.“ (Mankell 2015, S.212f.)

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Dienstag, 2. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Testamente regeln Hinterlassenschaften. Es handelt sich dabei um bewußte, individuelle Akte. Die Verfasser sind sich der Endlichkeit ihres Lebens bewußt und wollen ihrer Verantwortung für die nachfolgende Generation gerecht werden. Daraus ergibt sich mit logischer Folgerichtigkeit, daß nur Individuen dazu in der Lage sind, Testamente zu hinterlassen: „Zivilisationen hinterlassen keine Testamente. Das tun nur Individuen.“ (Mankell 2015, S.40)

Sicher gibt es historische Dokumente und Relikte, die vom Leben und Schaffen untergegangener Kulturen und Zivilisationen zeugen. Aber dabei handelt es sich nicht um Testamente. So wenig wie bei den Fossilien von Dinosauriern und Trilobiten. Kulturen ordnen ihre Hinterlassenschaft nicht, bevor sie sie ihren Nachfolgern übergeben. Sie vergehen einfach. So wie die Menschen auf der Osterinsel: „Natürlich hinterließ niemand ein Testament. Es gibt auch sonst keine Quelle, die zum Verständnis dessen beitragen könnte, was in der letzten Zeit geschah, bevor die Insel wieder so menschenleer wurde, wie sie es einmal gewesen war. Die Hinterlassenschaft der letzten Menschen, die wir deuten, ist eine stumme Warnung. Die verlassene Insel, die umgestürzten oder unfertigen Statuen waren an sich ein Testament. Und obendrein eine Bestätigung dafür, dass auch die höchstentwickelten Kulturen eines Tages untergehen.“ (Mankell 2015, S.43)

So wenig also Kulturen Testamente hinterlassen, so sehr bilden sie doch den notwendigen institutionellen Rahmen dafür, daß Individuen den Stab an ihre Kinder und Enkel weitergeben können. Damit die Generationen in ununterbrochener Folge ihr Erbe antreten können, muß es ein grundlegendes Vertrauen in den Fortbestand der Gesellschaft geben: „Alle großen und klassischen Zivilisationen und Kulturen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie erscheinen den Menschen, die in ihnen leben, unsterblich.“ (Mankell 2015, S.41)

Der Fortbestand der Zivilisation garantiert die Folge der Generationen. Da aber Zivilisationen nicht ewig fortbestehen, haben wir überall da ein Problem, wo wir kulturelle Relikte einer untergegangenen Zivilisation zu deuten versuchen. Schon wenn wir ‚nur‘ sechstausend Jahre zurückgehen und ein Bauwerk wie Hagar Qin zu verstehen versuchen, so müssen wir feststellen, daß die zweihundert Generationen, die Mankell für diesen Zeitraum veranschlagt, keine ununterbrochene Folge von Eltern auf ihre Kinder und Kindeskinder bilden, sondern daß vielmehr viele verschiedene Kulturen einander auf Malta abgewechselt haben. Die Überlieferung ist unwiederbringlich abgebrochen: „Wen oder was sie in ihrem Tempel anbeteten, wissen wir nicht. Es existieren keine Inschriften oder Legenden darüber, wer ihre Götter waren. Knochenreste lassen den Schluss zu, dass Tiere geopfert wurden. Aber die Religion, zu der sie sich bekannten, schweigt. Ihre Götter sind für immer verstummt.“ (Mankell 2015, S.53)

Noch weiter liegen die Höhlenmalereien in Südfrankreich zurück: 40.000 Jahre. (Vgl. Mankell 2015, S.55) So sehr die Bilder an den Höhlenwänden von einer Gemeinsamkeit des Erlebens und Wahrnehmens zeugen, so daß wir davon ausgehen können, daß die damaligen Künstler und wir zur selben Familie gehören, so fremd bleiben sie uns doch, wenn wir die konkrete Bedeutung der Bilder für ihr damaliges Leben zu erraten versuchen.

Zum Gelingen einer kulturellen Botschaft, im Sinne eines Testamentes, gehört also ein gemeinsamer Überlieferungszusammenhang. Da aber dieser Überlieferungszusammenhang im Wechsel der Kulturen unweigerlich abbricht, sind alle Versuche, eine solche Überlieferungsgeschichte für die Zukunft zu konstruieren, mit Skepsis zu betrachten.

Nun befinden wir uns aber Mankell zufolge in dem einzigartigen Fall, daß unsere eigene Zivilisation sich der Notwendigkeit ausgesetzt sieht, ihren möglichen Nachfolgern eine dringende Botschaft zu übermitteln, die deren künftiges Überleben betrifft. Und das bis zu hunderttausend Jahre in der Zukunft! Der Grund für diese Notwendigkeit liegt im strahlenden Atommüll, den zwei bis drei Generationen seit der Mitte des 20. Jhdts. angehäuft haben. Dieser Müll muß endgelagert werden, und über hunderttausend Jahre lang darf diesem Müll kein Mensch zu nahe kommen.

Wie warnt man künftige Menschen in zehntausenden von Jahren vor der Gefährlichkeit dieses Atomabfalls? – „Wie soll man einen Abkömmling in einer dreitausendsten Generation, von mir aus gerechnet, vor sich sehen können? Die Zeit vor uns verliert sich in dem gleichen Nebel, wie wenn man rückwärts blickt. Wohin wir uns auch wenden, sind wir von dem gleichen Nebel oder vielleicht eher einem kompakten Dunkel umgeben.“ (Mankell 2015, S.36)

Ob wir nun in die Vergangenheit zurück- oder in die Zukunft vorausschauen: wir können nicht sinnvoll über viele tausend Generationen hinweg kommunizieren. Die ‚Höhlenmaler‘ haben heute keine Botschaft mehr für uns, die wir entziffern könnten, so wenig wie wir eine Botschaft an einen Menschen richten können, der sie noch hunderttausend Jahre nach uns verstehen könnte: „Aber wie sprechen wir zu Menschen, die in hunderttausend Jahren leben? Nach einer Eiszeit? Zu Menschen, die nichts von unserer Geschichte wissen? Wie soll der Text einer solchen Warnung aussehen?“ (Mankell 2015, S.87)

Das Beste wäre, es gar nicht erst zu versuchen. Stattdessen sollten wir den Atommüll so tief unter der Erde vergraben und wegsperren, daß künftige Generationen vergessen, daß es so etwas wie Atomkraftwerke überhaupt jemals gegeben hat. So tief unter der Erde, daß auch keine künftige Eiszeit, die das Unterste nach oben kehrt und die Gestalt von Kontinenten verändert, an den Atommüll herankommt. Wir sind somit die erste Generation in der Menschheitsgeschichte, die ihre Hinterlassenschaft vor den nachfolgenden Generationen verbergen muß: „Vielleicht sind die Kernkraft und ihr Abfall etwas, das in jeder Hinsicht von grundlegenden Mustern abweicht? Dass Gesellschaften und Zivilisationen nicht aufräumen, bevor sie verschwinden, wissen wir. Aber noch hat keine von ihnen Abfall hinterlassen, der heimlich für Tausende von Jahren seine Gefährlichkeit beibehält. Wir sind die Einzigen. Ganz allein in der Geschichte.“ (Mankell 2015, S.110f.)

Damit schließt Mankell an einen Gedanken an, den schon Günther Anders in „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956) ausformuliert hatte: die Atommüll-Generation befindet sich in einer einzigartigen Situation in der Menschheitsgeschichte. Mit ihr ist die Generationenfolge erstmals und irreversibel unterbrochen. (Vgl. meinen Post vom 26.01.2011)

Mit einem Verweis auf den IS-Staat und auf die Taliban deutet Mankell hier einen bedenkenswerten Zusammenhang mit unserer Zivilisation an. Auch die islamistischen Fundamentalisten verweigern sich der Generationenfolge, indem sie die geschichtlichen Zeugnisse der menschlichen Vergangenheit mutwillig zerstören: „Was ich von den Menschen halte, die im Namen ihres Gottes die Erträge menschlicher Gelehrsamkeit vernichten, muss ich wohl kaum erwähnen. Sie vergreifen sich an denen, die gelebt haben, die leben und die noch nicht geboren sind. Und sie tun es im Namen Gottes.“ (Mankell 2015, S.114)

Könnte man nicht mit gutem Grund behaupten, daß IS-Staat und Taliban Sprößlinge unserer eigenen ‚Kultur‘ sind, indem sie bewußt und aus eigenem Antrieb vollziehen, wozu wir uns als Gefangene und Erben einer verhängnisvollen Technologie gezwungen sehen? Treten diese Wahnsinnigen in ihrem verblendeten Haß nicht genauso aus der Generationenfolge heraus und positionieren sich exzentrisch zu ihr, wie wir es schon längst seit dem Bau der Atombombe und ihrer zivilen Nutzung getan haben?

Mankell formuliert diese provokanten Fragen nicht aus; er deutet sie nur an. Das Ergebnis, allumfassendes Vergessen, wäre jedenfalls dasselbe: „... im Moment hat es den Anschein, als würde man am Ende alle Versuche, ein sinnvolles Warnsignal zu schaffen, aufgeben und darauf setzen, dass künftige Menschen und kommende Generationen einfach vergessen. Moos wird auf dem Fels wachsen, unter dem wir den Troll eingesperrt haben. Niemand soll sich mehr daran erinnern, was einst dort unten in verschlossenen Kupferbehältern versteckt wurde. ... Plötzlich leben wir in einer Zivilisation, in der wir keine Erinnerungen schaffen. Wir leben, um Vergessen zu hinterlassen.“ (Mankell 2015, S.374)
PS (5. Juli 2016): Zur Zeit liegt der Abschlußbericht der Endlager-Kommission der deutschen Bundesregierung vor. Da wird noch von ganz anderen Zeiträumen ausgegangen als die von Mankell genannten 100.000 Jahre: eine Million Jahre soll der Atommüll endgelagert werden!
Kaum liegt der Abschlußbericht vor, ist auch schon von Sondervoten der Länder Sachsen und Bayern die Rede, die von der ‚ergebnisoffenen‘ Suche nach einem Endlager ausgenommen sein wollen. Ausgerechnet Bayern: jahrzehntelang hat die CSU Atomkraftwerke gefördert! Jetzt will sie mit dem Müll nichts mehr zu tun haben. Irgendwo muß in dem Kürzel ‚CSU‘ der Buchstabe für ‚organisierte Verantwortungslosigkeit‘ verborgen sein. Denn eins ist diese Partei gewiß nicht: christlich und sozial.
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Montag, 1. Februar 2016

Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015 (2014)

1. Treibsand im Stundenglas
2. Testamente
3. Kinder
4. Frauen
5. Wahlfreiheit
6. Technik

Am 8. Januar 2014 erhält Henning Mankell die Diagnose. Er hat Krebs. Wie lange er noch zu leben hat, weiß er nicht. Er hofft, daß er zu den Langzeitüberlebenden gehört, denn heilbar ist sein Krebs nicht. Um weiterleben zu können, ohne die Hoffnung zu verlieren, schreibt er ein Buch: „Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein“ (2014; deutsch: 2015). Es erscheint noch im selben Jahr seiner Diagnose. Ein Jahr später ist er tot. Mankell stirbt am 5. Oktober 2015.

Besonders eindrücklich an diesem Buch hat mich berührt, wie sich das Zeiterleben eines Todeskandidaten ändert. Sicher: wir alle sind Todeskandidaten, und das Leben des Menschen ist, wie Mankell schreibt, immer eine Tragödie, weil es ausnahmslos mit dem Tod endet: „Im Grunde ist unser Dasein eine Tragödie. Ein Leben lang trachten wir danach, unsere Kenntnisse, unser Wissen und unsere Erfahrungen zu vermehren. Doch letzten Endes wird sich alles in Nichts auflösen.“ (Mankell 2015, S.120)

Dennoch macht es einen Unterschied, ob wir die Todesursache schon im voraus kennen, wie bei Mankells Krebsdiagnose, oder ob für uns das Ende noch offen ist, zumindest was die konkrete Todesursache unseres eigenen, immer nur zu kurzen Lebens betrifft. Mit dem Wissen um die Todesursache ändert sich unser Zeiterleben radikal: wir erwarten uns von der Zukunft nichts mehr. Stattdessen wenden wir uns unserer Vergangenheit zu, um uns zu vergewissern, was aus uns geworden ist und ob wir unser Leben auch gelebt haben: „In dem Gefühlschaos, das mich überfiel, nachdem meine Nackenstarre sich in Krebs verwandelt hatte, stellte ich fest, dass mich meine Erinnerung oft in die Kindheit zurückführte. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis ich erkannte, dass die Erinnerung mir helfen wollte zu verstehen, einen Ausgangspunkt schaffen wollte, der mir eine Möglichkeit eröffnete, mit der Lebenskatastrophe, die über mich hereingebrochen war, umzugehen.“ (Mankell 2015, S.23)

Der Ausgangspunkt, von dem aus Mankell sein Leben aufrollt und es vor dem Hintergrund des Kommens und Gehens der Menschheit auf diesem Planet auszubuchstabieren versucht, beginnt mit einem Erlebnis eines neunjährigen Jungen, der plötzlich sein Ich entdeckt und feststellt, daß es einzigartig ist: „Die Situation steht mir in beinahe überdeutlicher Klarheit vor Augen. Als wäre das Bild in meine Erinnerung eingebrannt. Plötzlich überfällt mich eine unerwartete Einsicht. Als bekäme ich einen Stoß. Die Worte formen sich wie von selbst in meinem Kopf: ‚Ich bin ich und kein anderer. Ich bin ich.‘“ (Mankell 2015, S.25; vgl. zu diesen Ich-bin-Ich-Erinnerungen meinen Post vom 16.01.2014)

Immer wieder kommt Mankell auf dieses einschneidende Lebensjahr zurück, in dem sich wie in einem Brennglas die entscheidenden Lebensmotive versammeln, an denen sich die späteren Entscheidungen des Heranwachsenden und des Erwachsenen orientieren. Zugleich blickt er in die Menschheitsgeschichte zurück, indem er auf die verschiedenen Kulturrelikte reflektiert und die Generationenfolgen von der sechstausend Jahre alten Tempelanlage Hagar Qin auf Malta (vgl. Mankell 2015, S.52ff.) und von den bis zu vierzigtausend Jahre alten Höhlenmalereien in Südfrankreich und Spanien (vgl. Mankell 2015, S.83ff.) in eine gemeinsame, ungebrochene biologische und kulturelle Kontinuität des Überlebens bis zur Jetztzeit stellt. Zugleich konfrontiert Mankell diese Kontinuität immer wieder mit der Diskontinuität des Vergessens: „An wie viele der einhundertsieben Milliarden Menschen, die bis heute auf der Erde gelebt haben, und von denen der größere Teil tot ist, erinnern wir uns heute? Ihre Namen, ihre Taten? Es ist eine verschwindend kleine Anzahl. Vergessen zu werden ist das Los des Menschen.“ (Mankell 2015, S.107)

In die andere Richtung wird der Blick, getragen von der Sorge um die atomare Hinterlassenschaft unserer Zeit, hunderttausend Jahre in die Zukunft gerichtet. Über die eine und andere der bevorstehenden Eiszeiten hinweg fragt sich Mankell nach der Kontinuität einer Überlieferung, die den verantwortungsvollen Umgang mit dem strahlenden Atommüll betrifft: „Vielleicht sind die Kernkraft und ihr Abfall etwas, das in jeder Hinsicht von grundlegenden Mustern abweicht? Dass Gesellschaften und Zivilisationen nicht aufräumen, bevor sie verschwinden, wissen wir. Aber noch hat keine von ihnen Abfall hinterlassen, der heimlich für Tausende von Jahren seine Gefährlichkeit beibehält. Wir sind die Einzigen. Ganz allein in der Geschichte.“ (Mankell 2015, S.110f.)

Kontinuität und Diskontinuität bilden hier die Aporie einer transkulturellen ‚Humanität‘, die jeden Gedanken an irgendeine rationale Genealogie im Innersten zerrüttet und korrumpiert.

Die zentrale Metapher, mit der Mankell sein eigenes Lebensschicksal mit dem großen Ganzen der Menschheitsentwicklung verknüpft, ist deshalb der Treibsand. Er hatte einmal, berichtet Mankell, eine Erzählung gelesen, in der ein Mann im Treibsand versinkt: „Er wird unerbittlich hinabgezogen und ist nicht in der Lage sich zu befreien. Am Ende bedeckt der Sand Mund und Nase. Der Mann ist verloren. Er erstickt, und als Letztes versinkt sein Schopf im Sand.“ (Mankell 2015, S.29)

Dieses Gefühl, im Treibsand festzustecken und langsam zu versinken, verbindet Mankell mit den zehn Tagen, die er nach der Krebsdiagnose in seinem Bett lag: „Das Gefühl das mich überkam, war genau wie die Angst vor dem Treibsand. Ich sträubte mich dagegen, hinabgezogen und von ihr verschlungen zu werden, von der lähmenden Einsicht, dass mich eine schwere, unheilbare Krankheit befallen hatte.“ (Mankell 2015, S.29)

Nach zehn Tagen faßt sich Mankell wieder und entschließt sich zum Widerstand.

Dieses Bild vom Treibsand ist äußerst beziehungsreich. Es bringt zunächst sehr bildhaft die Lähmung zum Ausdruck, die den am Krebs erkrankten Mankell befällt. Man steckt fest und kann nicht mehr vor und zurück. Die Zeit fließt nicht mehr. Und dennoch passiert etwas unter unseren Füßen; etwas zieht uns hinab. Ein unterirdischer Sog. Es fließt nämlich doch noch etwas, aber nach unten, und dorthin zieht es uns unabänderlich mit sich.

Mir drängt sich dabei das Bild einer Sanduhr auf. Der Treibsand und der Mann befinden sich in einer Sanduhr, und mit dem Sand verrinnt sein Leben. Dazu paßt ein anderes Bild, das Mankell vor unseren Augen entfaltet: das Bild von einer im Glas eingeschlossenen Luftblase, das er wie einen Kontrapunkt gegen den Treibsand setzt, weil er es mit einer Hoffnung verbindet: „Ein Mythos besagt, dass eine in der durchsichtigen Wand des Glases eingeschlossene Luftblase sich bewegt. Die Bewegung ist so langsam, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Nicht einmal während eines langen Lebens bewegt sich die Blase sichtbar in die eine oder andere Richtung. Es dauert mehr als eine Million Jahre, bis sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen ist. Die Luftblase hat also eine Umlaufbahn wie die Planeten, die sich in bestimmten Kurven und Geschwindigkeiten bewegen. ... Und ich glaube daran, dass die Blase sich bewegt. Doch ich sehe es nicht.“ (Mankell 2015, S.37f.)

Wenn Mankell die Bewegung der Luftblase mit der in sich geschlossenen Umlaufbahn eines Planeten assoziiert, liegt darin die Hoffnung auf eine Sinnerfüllung, die weit über die sterbliche Existenz eines Menschen hinaus Bestand hat. Aber er irrt sich. Wir haben es bei der sich bewegenden Luftblase ganz und gar nicht mit einem Mythos zu tun. Wissenschaftlich gesehen ist das Glas nämlich kein fester Stoff, sondern es ist eine Flüssigkeit. Alte Kirchenfester sind unten dicker als oben, weil das Glas in den Jahrhunderten, die vergangen sind, allmählich nach unten ‚fließt‘. Wenn wir die Luftblase nehmen, von der Mankell spricht, so müßte sie sich eigentlich im Glas ähnlich verhalten wie Luftblasen im Wasser: sie müßte einen Auftrieb nach oben haben, während die ‚Säule‘ des Glases nach unten strebt.

So haben wir hier wieder dieselben zwei Kräfte, die sich gegeneinander richten, nach oben und nach unten, wie es dem Mann im Treibsand widerfährt, der heraus will und doch hinab gezogen wird. Nur daß bei der Luftblase im Glas alles unendlich viel länger dauert.

Mankell verleiht der Luftblase im Glas eine kosmische Dimension. Wir können sie aber auch auf die Erde und auf das Leben auf ihr beziehen. Es ist dasselbe saugende Fließen des Glases wie beim Treibsand, nur daß die Vorgänge rund um die Luftblase herum so langsam ablaufen wie die biologische und die geologische Evolution. Wir können die Bewegung der Luftblase so wenig ‚sehen‘ wie diese biologischen und geologischen Zeiträume, aus denen die Menschheit hervorgegangen ist.

Wer wird am Ende gewinnen: die ‚Fliehkraft‘ der Luftblase hinauf oder die ‚Gravitation‘ des Glasflusses hinab? Setzen wir die Luftblase mit der Menschheit gleich, wird das Ergebnis wohl auch kein anderes sein als bei dem einzelnen Mann im Treibsand.

Mankell ist da aber hoffnungsvoller. Da das Glas, in dem die Luftblase sich ‚bewegt‘, Mankell zufolge selbst bewegungslos ist und nicht fließt, bewegt sich die Luftblase ewig; und sie kehrt sogar schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zurück, wie ein Planet auf seiner Umlaufbahn. Ohne diese Hoffnung, wie sie im Bild einer der Entropie widerstehenden Umlaufbahn bzw. im Bild der im bewegungslosen Glas sich bewegenden Luftblase zum Ausdruck kommt, wäre die Tragödie des im Treibsand festsitzenden Mannes unerträglich. Der Mann im Treibsand wird zwar enden. Aber die Menschheit, die das Leben des versinkenden Mannes umfaßt, soll überdauern. Dafür, daß es eine Zukunft gibt, steht das Glas der Ewigkeit.

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