„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik kommt bei Dammer nicht so gut weg. Bei der geisteswissenschaftlichen Pädagogik handelt es sich um eine theoretische Ausrichtung, die die erste Hälfte des 20. Jhdts. dominiert hatte. Ihre hermeneutische Herangehensweise an die Erziehungswirklichkeit entspricht eigentlich auch der Dammerschen Kritik am mathematischen Empirismus der traditionellen Theorie und des Positivismus. (Vgl. Dammer 2015, S.43f., 51, 84, 93)

Dennoch bescheinigt Dammer der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, daß sie ungeeignet gewesen sei, die in den 1960er Jahren stattfindenden Reformprozesse wissenschaftlich zu begleiten, weil sie das gegliederte Schulsystem verteidigte. (Vgl. Dammer 2015, S.84) Allerdings gibt es das gegliederte Schulsystem noch heute. Daran hat weder die von Heinrich Roth (1906-1983) in den 1960er Jahren propagierte realistische Wende noch bislang die von den PISA-Studien eingeleitete empirische Wende irgendwas geändert.

Auch Dammers Bemerkung, daß die Kritik, die geisteswissenschaftliche Pädagogik habe „‚Wesensbeschreibungen‘ den Vorrang gegenüber der Erforschung der Wirklichkeit gegeben“, berechtigt sei (vgl. Dammer 2015, S.87), unterschlägt den hohen Stellenwert, den führende Vertreter dieser Denkrichtung der pädagogischen Praxis einräumten. Viele von ihnen kamen direkt aus der sozialen und pädagogischen Praxis an die Universität, und ihre pädagogischen Erfahrungen prägten ihr wissenschaftliches Denken. Diese Nähe zur Praxis fehlt den heutigen Bildungsforschern.

Ohne daß ich jetzt die geisteswissenschaftliche Pädagogik in allen ihren Erscheinungsformen verteidigen möchte, glaube ich doch, daß wir auf das Beispiel ihres erfahrungsgesättigten Theoretisierens – gerade auch in den Umbruchzeiten der Jugendbewegung und zweier Weltkriege – nicht einfach verzichten sollten. Wir machen es sonst den heutigen Bildungsforschern mit ihrem Systemmonitoring zu leicht, ihre Empirie als einzig legitime Form wissenschaftlichen Denkens und Forschens zu behaupten. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist keine veraltete, empiriefreie und längst überwundene pädagogische Denkschule.

Dammer selbst bezieht einige seiner Argumente von Herwig Blankertz (1927-1983). Blankertz, Wolfgang Klafki (*1927) und Klaus Mollenhauer (1928-1998) haben die geisteswissenschaftliche Pädagogik zu einer Kritischen Erziehungswissenschaft weiterentwickelt und stehen bzw. standen der Kritischen Theorie nahe, der auch Dammer sich zugehörig fühlt.

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

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