„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Ungeachtet der Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (vgl. meinen Post vom 20.12.2014) beinhalten die Naturwissenschaften selbst eine intellektualistische Komponente: die Mathematik. Im 17. Jhdt konkurrierte die Mathematik noch mit der sinnlichen Wahrnehmung um den Status der primären Erkenntnisquelle. Die Vertreter der sinnlichen Wahrnehmung nannte man ‚Empiristen‘ und die Vertreter der Mathematik ‚Rationalisten‘. So unterschiedlich ihre Positionen zu sein scheinen, kann Dammer doch zeigen, inwiefern beide Positionen letztlich die gleiche methodische Tendenz beinhalten, so daß sie sich schließlich vereinten, wenn auch letztlich auf Kosten der naiven Empirie. Denn als ‚empirisch‘ gilt bis heute nur, was sich mathematisch modellieren läßt.

Als Empirie und Rationalismus (Mathematik) noch nicht dasselbe waren, im 17. Jhdt., hatten die Rationalisten noch ein Problem: inwiefern entsprechen die mathematischen Sätze der Realität? – René Descartes (1596-1650) gab darauf eine metaphysische Antwort: Gott hatte die Welt so eingerichtet! Für Descartes war es „evident, dass wir die Vorstellung eines vollkommenen Wesens hätten, diese aber nicht aus uns selbst als unvollkommenen Wesen erwachsen könne, folglich also durch eben dieses vollkommene Wesen selbst erzeugt worden sein müsse, womit nicht nur dessen Existenz bewiesen, sondern zugleich der Empirismus widerlegt sei, der den Ursprung einer solchen Vorstellung eben nicht erklären könne“. (Vgl. Dammer 2015, S.23f.) – Folglich, so Descartes, müsse sich auch die empirische Realität aus den vollkommenen Formen der Geometrie logisch ableiten lassen: „Von der rationalen Struktur unserer Erkenntnis wird auf die rationale Beschaffenheit und damit auch Gestaltbarkeit ... der zu erkennenden Welt geschlossen, die sich jedoch nicht logisch zwingend, sondern nur über den Umweg einer metaphysischen Setzung ergibt.“ (Dammer 2015, S.24)

Dieses Problem, die sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnisquelle metaphysisch begründen zu müssen, hatten die Empiristen nicht. Aber am Beispiel von Francis Bacon (1561-1626) zeigt Dammer, daß sich ihr methodisches Vorgehen letztlich nicht von dem der Rationalisten unterschied. (Vgl. Dammer 2015, S.18ff.) Francis Bacon propagierte ein „instrumentelles Verhältnis zur Natur“, das objektive Erkenntnis nur über „methodisch kontrollierte Experiment(e)“ zuläßt:
„Das zu Erkennende muss auf einige gezielt gewählte Variablen reduziert werden, um zwischen diesen kausale Abhängigkeiten feststellen zu können, die sich dann in Form allgemeiner Gesetze symbolisch darstellen bzw. in den Zusammenhang bereits formulierter Gesetze symbolisch einordnen lassen. Induktion ist somit genaugenommen keine Methode der Erkenntnis von Phänomenen, sondern der Herstellung von wissenschaftlichen Artefakten zum Zweck rationaler Erkenntnis: ‚Das Phänomen wird zum Effekt. ...‘“ (Dammer 2015, S.20)
Schon Bacons ‚Empirie‘ zielte also auf eine Dekontextualisierung der Phänomene und bedeutete somit ihre Reduktion auf den Status von experimentellen Artefakten. Der empirische (phänomenale) Erkenntnisgegenstand, so Dammer, „verschwindet im Akt der analytischen Zerlegung“. (Vgl. Dammer 2015, S.28) An diesem Punkt der analytischen Zerlegung und Dekontextualisierung der Phänomene begegnen und vereinen sich Empirismus und Rationalismus. Das zeigte sich schon bei Bacon auch daran, daß er für die von ihm propagierte empiristische Erkenntnisform „universelle Gültigkeit“ beanspruchte, was impliziert, daß sie nicht nur auf Naturphänomene, sondern auch auf soziale und geistige Phänomene angewandt werden kann, ja sogar angewandt werden muß, da sie aufgrund ihrer Universalität auch einen Monopolanspruch beinhaltet. Dieser Monopolanspruch setzt sich fort bis zum Falsifikationismus Karl Poppers (1902-1994): „Systematisch gesprochen ist dies der Unterschied zwischen empirischer Wissenschaft und Hermeneutik, der Popper implizit den Charakter einer Theorie abspricht, da sie den von ihm formulierten Bedingungen für wissenschaftliche Wahrheitsfindung allein schon deswegen nicht genügt, weil Interpretationen nicht falsifizierbar sind ...“ (Dammer 2015, S.51)

Bacons Anspruch auf „universelle Gültigkeit“ für seine experimentelle Methode entspricht der rationalistischen Gleichsetzung von Mathematik mit einer „Universalsprache“. (Vgl. Dammer 2015, S.31) Descartes verstand die Mathematik „als Königsweg der Erkenntnis“. (Vgl. Dammer 2015, S.134) Ludwig Wittgenstein (1889-1951) versuchte diesen Anspruch mit seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) einzulösen. (Vgl. Dammer 2015, S.43) Er ist mit diesem „Versuch einer vollkommen logifizierten Sprache“ letztlich gescheitert. (Vgl. ebenda) Wittgenstein schuf Dammer zufolge ein „hermetisches Werk“, das nur von wenigen Experten gelesen und verstanden werden konnte, wie übrigens Wittgenstein in der Einleitung zu seinem Traktat selbst eingesteht: „... das Werk würde wohl nur von dem verstanden, der die darin ausgedrückten Gedanken selbst schon einmal gedacht habe“. (Vgl. Dammer 2015, S.44)

In dieser Hermetik bzw. Esoterik besteht der Urkeim jeder Expertokratie: die natürlichen, im Husserlschen Sinne sich selbst gebenden Phänomene werden so lange dekontextualisiert und mathematisiert, bis sie kein Mensch mehr verstehen kann, es sei denn nach einer entsprechenden jahrelangen Ausbildung. (Vgl. Dammer 2015, S.134) Dammers Urteil über diese Entwicklung ist vernichtend: „Von Objektivität kann nicht mehr die Rede sein, wenn diese nur noch auf der Ebene mathematischer Abstraktion als allgemeingültige Aussage ... zu haben ist und sich nicht mehr an dem Objekt orientiert, das es zu erkennen gilt.“ (Dammer 2015, S.185)

Die Verbindung von Empirismus und Rationalismus wurde also dadurch möglich, daß eine bestimmte Methode der Erkenntnis monopolisiert wurde. Indem jeder anderen Form der Erkenntnis die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde, wurde der Zweck der Forschung der Methode untergeordnet:
„So stand das von ihm (Bacon – DZ) erstmals in seinen Grundzügen formulierte Modell der neuzeitlichen Wissenschaft in letzter Konsequenz vor dem Dilemma, zu seiner Begründung entweder auf die von ihm zu überwindende Metaphysik zurückzugreifen oder eingestehen zu müssen, dass es sich in einem erkenntnistheoretischen Zirkel bewegt, in dem der Erkenntnisgegenstand menschlichen Interessen entsprechend so präpariert wird, dass er theoretisch und praktisch zu beherrschen ist, das Subjekt also im Objekt nur die Struktur erkennt, die es diesem vorab gab.“ (Dammer 2015, S.59)
Glaubte sich Descartes vor diesem Zirkel noch durch die metaphysische Setzung göttlicher Vollkommenheit retten zu können, wurde er letztlich doch zum Prinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaft.

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

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