„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 12. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Karl-Heinz Dammers Buch „Vermessene Bildungsforschung“ (2015) bildet eine gleichermaßen gesellschaftskritische wie wissenschaftskritische Auseinandersetzung mit der empirischen Bildungsforschung, für die insbesondere die verschiedenen PISA-Studien seit dem Anfang dieses Jahrtausends stehen. Dammer wirft der Bildungsforschung und ihren schon in den 1990er Jahren einsetzenden Large-Scale-Studien vor (vgl. Dammer 2015, S.100), ein neoliberales Instrument zur gesellschaftlichen Umgestaltung in Richtung auf eine „wissenschaftliche Menschenwirtschaft“ zu sein, wie sie vom „Taylorismus“ zu Anfang des 20. Jhdts. entworfen wurde (vgl. Dammer 2015, S.147; zum Taylorismus vgl. auch meinen Post vom 08.02.2014).

Dammer, der sich selbst wissenschaftlich der „Frankfurter Schule“, also der Kritischen Theorie zuordnet (vgl. Dammer 2015, S.18), weist auf die enge historische und politische Verbindung des Neoliberalismus mit dem Positivismus von Comte, Popper und Brezinka hin: „Der Neoliberalismus, so die These, konnte sich nur mit Hilfe des Positivismus durchsetzen(,) und umgekehrt konsolidiert der totalitäre Herrschaftsanspruch des Neoliberalismus wiederum dieses Denkmodell, so dass eine Art Symbiose von wissenschaftlicher Theorie und gesellschaftlicher Praxis entstand.“ (Dammer 2015, S.59)

Um den langen, bis ins 17. Jhdt. zurückreichenden historischen Vorlauf des Positivismus kenntlich zu machen, spricht Dammer auch von der „traditionellen Theorie“, eine Begriffsprägung, die von Max Horkheimer (1895-1973) stammt. (Vgl. Dammer 2015, S.3) Dennoch betont Dammer jenseits des bloß Historischen die brisante Aktualität dieses Paradigmas, dem es „gelungen ist, sich nicht nur als im Wesentlichen bis heute gültiges Wissenschafts- und Weltverständnis der Moderne zu etablieren, sondern auch praktisch wirksam zu werden“. (Vgl. Dammer 2015, S.18)

Den Neoliberalismus bezeichnet Dammer als halbierten Liberalismus, der den Anspruch einer für die Autonomie des Individuums eintretenden Aufklärung aufgegeben hat. An die Stelle der individuellen Autonomie setzt der Neoliberalismus die Freiheitsrechte des Marktes:
„Der Neoliberalismus spaltet, sehr pointiert gesagt, den Doppelcharakter des traditionellen Liberalismus als ökonomischer und politischer Doktrin, indem er die ökonomische Seite verabsolutiert, d.h. deren Geltung auch für alle anderen gesellschaftlichen Sphären behauptet und dabei das politische Moment des Liberalismus zwar nicht vollkommen tilgt, es aber seines ursprünglich emanzipatorischen Charakters beraubt. Symptomatisch dafür ist die Margaret Thatcher zugeschriebene Formel ‚TINA‘ (‚There is no Alternative‘), als Ausdruck einer zutiefst illiberalen Haltung ...“ (Dammer 2015, S.1)
Der Positivismus unterstützt diese politische Agenda, indem er die Wirklichkeit ‚mathematisiert‘ (vgl. Dammer 2015, S.8) und so den „menschlichen Faktor“ () vergessen macht (vgl. Dammer 2015, S.52). Der den individuellen Verstand stärkende und auf die menschliche Sinnlichkeit gerichtete Anspruch auf Evidenz wird zu einem mathematischen Konstrukt, das nur noch Experten zugänglich ist:
„... ‚Evidenz‘ hat, wie gezeigt wurde, im Zusammenhang mit ‚evidenzbasierter Forschung‘ eine andere Bedeutung als im alltäglichen Sprachgebrauch, da sie nicht etwas dem Augenschein unmittelbar Einleuchtendes bezeichnet, sondern im Gegenteil das Ergebnis eines komplexen Abstraktionsprozesses; evident in diesem Sinne sind erst die von empirischer Forschung mit Objektivitätsanspruch produzierten Daten. Die Umdeutung des alltagssprachlichen Begriffs zu einem szientifischen Terminus technicus hat zur Folge, dass die wissenschaftlich vermittelte und für Laien kaum mehr nachvollziehbare Evidenz als das selbstverständlich Wahre, unmittelbar Einleuchtende erscheint und folglich nur noch die Forschung angebetet wird, die sich dieses Hochwert-Etiketts bedient ...“ (Dammer 2015, S.179)
Wissenschaftliche ‚Empirie‘ beruht also nicht mehr auf sinnlicher ‚Erfahrung‘. An die Stelle sinnlicher Phänomene treten mathematisch konstruierte und experimentell kontrollierte Effekte: „Induktion ist somit genaugenommen keine Methode der Erkenntnis von Phänomenen, sondern der Herstellung von wissenschaftlichen Artefakten zum Zweck rationaler Erkenntnis: ‚Das Phänomen wird zum Effekt. ...‘“ (Dammer 2015, S.20)

Dammers wichtigste These, auf die er im Verlauf seines Buches immer wieder zurückkommt, besteht darin, daß es sich bei der PISA-Studie wie überhaupt bei der empirischen Bildungsforschung, die sich dieser Mathematisierung ihres Gegenstands, also von Lernen und Bildung, bedient, „nur noch den Instrumenten, aber nicht mehr dem Zweck nach um Forschung handelt, da nicht die adäquate Erkenntnis des Gegenstands (Bildung) im Vordergrund steht, sondern dessen wissenschaftliche Formung für Herrschaftszwecke“. (Vgl. Dammer 2015, S.6)

Der Herrschaftscharakter der traditionellen Theorie ruht also auf zwei Säulen: der Entmündigung des Laien und seines Verstandes, der gehalten ist, sich den abstrakten Evidenzansprüchen einer Expertokratie zu unterwerfen, und auf dem damit einhergehenden Argumentationsverzicht der Politik, die ihre Entscheidungen nur noch „evidenzbasiert“ fällt (vgl. Dammer 2015, S.151), ohne sich dem Laien gegenüber dafür rechtfertigen zu müssen: „Eine an standardisierter Messung und Quantifizierung orientierte Wissenschaft ist einer dieser (Herrschaft sichernden – DZ) Faktoren, da ihre Prinzipien mit denen der Ökonomie kompatibel sind und damit nicht nur technologieförmige Lösungen gesellschaftlicher Probleme nahelegen, sondern auch die scheinbar objektive Rechtfertigung für eine daran sich orientierende Steuerung liefern, so dass sich eine politische Debatte erübrigt ...“ (Dammer 2015, S.5) – Ein aktuelles Paradebeispiel für eine solche Politik ist das Freihandelabkommen TTIP, das schwerwiegende Weichenstellungen für die wirtschaftliche Zukunft Europas beinhaltet und das unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausschließlich von ‚Experten‘ verhandelt wird.

An die Stelle einer öffentlichen Argumentation tritt die Propaganda. Dammer geht so weit, das Verhältnis von Medien, Wissenschaft und Politik mit dem Irakkrieg zu vergleichen:
„Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik lässt sich dabei mit dem ‚embedded journalism‘ vergleichen, jener Form der Berichterstattung, die erstmals im Irakkrieg 2003 angewandt wurde und staatlich bzw. militärisch kontrollierten Journalismus bezeichnet, der die Öffentlichkeit nur über das informiert, was der eigenen Seite genehm ist bzw. die Legitimität der militärischen Intervention nicht infrage stellt und damit die Medien als ‚Vierter Gewalt‘ in ihrer verfassungsmäßig zugestandenen Freiheit einschränkt. Ziel dieser Studie ist, nachzuweisen, dass und warum es sich mit der aktuell vornehmlich praktizierten Form der Bildungsforschung ähnlich verhält.“ (Dammer 2015, S.2)
Das wichtigste Instrument einer den Argumentationsverzicht kaschierenden wissenschaftspolitischen Propaganda besteht in der Umwandlung von Qualitäten in Zahlen bzw., wie bei den PISA-Studien, in „Punkte-Qualität“. (Vgl. Dammer 2015, S.2) Lernen und Bildung, die eine irreduzible Komplexität bilden, werden auf wenige Variablen zurückgeführt, die wiederum in Punkte übersetzt werden, die es ermöglichen, Rankinglisten zu erstellen. Das verleiht den Studienergebnissen die objektive „Aura der Mathematik“ und gibt den Medien zugleich die Möglichkeit, ein gesellschaftliches Drama im internationalen Konkurrenzkampf um die bestmögliche Ausnutzung des Humankapitals zu inszenieren:
„Die Zahlen lassen sich zu einer einfachen und vor allem – im Gegensatz zu kontroversen bildungspolitischen Debatten – eindeutigen Botschaft verdichten, die auf dem durch neoliberale Propaganda bereits präparierten Terrain auf fruchtbaren Boden fällt und etwa so zusammengefasst werden kann: Das deutsche Schulsystem kann im globalen Standortwettbewerb nicht mehr mithalten und produziert darüber hinaus eine normativ inakzeptable soziale Ungerechtigkeit, weswegen es dringend einer Reform bedarf.“ (Dammer 2015, S.167)
Inwieweit die evidenzbasierten Zahlen der Realität des individuellen Lernens und individueller Bildung tatsächlich entsprechen, wird nicht mehr diskutiert. An die Stelle des Arguments tritt die „Suggestionskraft des Rankings“. (Vgl. Dammer 2015, S.169)

So weit entspricht Dammers Darstellung der aktuellen Bildungsforschung und der aktuellen bildungspolitischen Debatten meinen eigenen Erfahrungen. Erhellend sind dabei Dammers wissenschaftshistorische Ausführungen zum Bündnis zwischen Positivismus und Neoliberalismus, auf die ich auch in den folgenden Posts noch detailliert eingehen werde. Überrascht hat mich aber eine Bemerkung Dammers über einen zunehmenden Widerstand gegenüber dieser Art der technologischen Instrumentalisierung von Wissenschaft, der sich Dammer zufolge „an allen Fronten sowohl bildungspolitisch als auch in Form theoretischer wie methodologischer Kritik an der neoliberalen Zielsetzungen verpflichteten Bildungsforschung und nicht zuletzt in der pädagogischen Praxis regt“. (Vgl. Dammer 2015, S.1)

Das klingt unerwartet hoffnungsvoll, denn mir selbst ist eine solche Kritik bislang entgangen. Das von mir in diesem Blog bereits besprochene Buch von Brügelmann und jetzt das von Dammer sind für mich die ersten, längst und sehnlichst erwarteten Anzeichen einer solchen Kritik. Ich habe eher den Eindruck, daß Dammers hoffnungsvoller Ausblick vor allem der kritischen Perspektive der Frankfurter Schule zu verdanken ist, in derem Rahmen eine solche Kritik am Herrschaftscharakter der traditionellen Theorie und des Neoliberalismus natürlich immer schon rege gewesen und entsprechend aktuell ist.

Vielleicht schränkt Dammer deshalb letztlich auch selbst seine wohl allzu optimistische Feststellung im weiteren Verlauf seines Buches wieder ein. So konstatiert er beispielsweise, „dass sich das Wissenschaftsverständnis der traditionellen Theorie normativ hat durchsetzen können() und nach wie vor wirksam ist – in der Erziehungswissenschaft wohl so wirksam wie nie zuvor“. (Vgl. Dammer 2015, S.18) An wieder anderer Stelle bescheinigt er der empirischen Bildungsforschung, daß sie sich „gegenwärtig auf einem historisch verbrieften Erfolgskurs“ befinde (vgl. Dammer 2015, S.103), deren Erfolg sich auch an „den bisher relativ wirkungslos erscheinenden Einwänden der Kritiker“ zeige (vgl. Dammer 2015, S.149). Nur gegen Ende seines Buches wagt Dammer noch einmal eine etwas optimistischere Prognose: „Erst in der Berichterstattung zu der 2013 erschienenen PISA-Studie sind erste kritische Stimmen von Journalisten zu vernehmen und ist die Bereitschaft zu erkennen, auch PISA-Kritikern aus der Wissenschaft ein Forum in den Zeitungen zu geben.()“ (Dammer 2015, S.170)

Allerdings schränkt Dammer auch diesen vorsichtig hoffnungsvollen Ausblick noch einmal ein: „Was daraus folgt, bleibt abzuwarten.“ (Ebenda)

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

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