„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. November 2015

Hans Brügelmann, Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co., Weinheim/Basel 2015

(Einladung und Vorspiel (S.7-15); Wozu Evaluation? Inszenierte Kontroverse in verteilten Rollen (S.17-29); Über das Spiel mit Zahlen hinaus – Grundprobleme einer ‚Evidenzbasierung‘ (S.31-64); Hattie und der Zauber der großen Zahlen (S.65-76); PISA & CO.: Nutzen und Grenzen von Leistungsvergleichen auf Systemebene (S.77-94); Evaluation von Schule und Unterricht (S.95-115); Die Not mit den Noten (S.117-127); Zehn Thesen zur Diskussion (S.129-130))

1. Methode I: Evidenzbasierung
2. Methode II: Kasuistik
3. Methode III: Begriffe
4. Leistungsstandards als Bildungsstandards
5. PISA & Co.
6. „Blick über den Zaun“
7. Prüfungskompetenz als Persönlichkeitsmerkmal

Das vielleicht wichtigste Anliegen von Hans Brügelmann besteht darin, daß den Lehrerinnen und Lehrern wieder eine professionelle Kompetenz zur Evaluation ihrer eigenen pädagogischen Praxis zugebilligt wird. Die „interne Evaluation“, so Brügelmann, muß wieder der „externen Evaluation“ durch Behörden und Bildungsforschung gleichgestellt werden. (Vgl. Brügelmann 2015, S.113) Neben die von gleichermaßen ‚außen‘ wie ‚oben‘ kommenden Evaluationsinstanzen soll ein „kollegiales Peer-Review“ (ebenda) treten: „Ein demokratisches Verständnis von Evaluation fordert, die Betroffenen nicht zu entmündigen, sondern sie in ihrer persönlichen Evaluations- und Problemlösungskompetenz zu stärken.“ (Brügelmann 2015, S.94)

Als Beispiel für eine externe Evaluation auf Augenhöhe aller Beteiligten verweist Brügelmann auf den seit 1989 bestehenden Schulverbund „Blick über den Zaun“, der aus etwa 140 reformpädagogisch orientierten Schulen besteht. (Vgl. Brügelmann 2015, S.113) In diesem Schulverbund besuchen sich Kolleginnen und Kollegen wechselseitig in den verschiedenen Partnerschulen und hospitieren über mehrere Tage den Unterricht. Hinterher geben sie den Kollegen unter vier Augen und in einem abschließenden Plenum am letzten Tag Rückmeldung über ihre gesammelten Eindrücke. Wichtig ist dabei vor allem, daß die Gäste zwar ihre eigenen Ansprüche an und Vorstellungen von Unterricht mitbringen, ihre Kolleginnen und Kollegen aber nicht zu missionieren versuchen: „Es macht wenig Sinn, den tatsächlichen Unterricht mit Ansprüchen zu bewerten, die die Bewerteten gar nicht teilen. Das heißt nicht, die selbst gesetzten Ziele einer Schule oder Lehrperson unhinterfragt zu übernehmen. Aber normative Differenzen sind separat zu klären – beispielsweise in einer Diskussion über das Schulprogramm, seine Stärken und Schwächen.“ (Brügelmann 2015, S.114)

Ich erinnere mich an einen Besuch von einer Partnerschule vor einigen Jahren in unserem Internat. Zuvor hatte ich einige von den katastrophalen Besuchen des Schulamts miterlebt. Zwei Kolleginnen absolvierten gerade ihre Probezeit zur Verbeamtung, und das Schulamt kam mehrmals vorbei, um ihre pädagogische Eignung zu überprüfen. Die eine Kollegin war zu dieser Zeit unsere Kontaktperson für den „Blick über den Zaun“. Ich selbst hatte mehrmals ihren Mathematikunterricht hospitiert und war sehr positiv von ihrem souveränen, aufmerksamen und abwechslungsreichen Unterricht beeindruckt gewesen. Das Schulamt war anderer Ansicht und ließ die Kollegin mehrmals durch die Prüfung fallen. Immer wenn so ein Unterrichtsbesuch durch das Schulamt anstand, verfiel die Kollegin in eine regelrechte Angststarre. Souveränität und Offenheit, die ich von ihr kannte, waren verschwunden. Sie war komplett unfähig, zwei vernünftige Gedanken hintereinander zu fügen, geschweige denn zu unterrichten.

Das Kollegium besteht natürlich aus vielen Persönlichkeiten, die wegen des reformpädagogischen Konzeptes an diesem Internat unterrichten. Die erwähnte Kollegin hat für die Förderstufe ein eigenes didaktisches Konzept entwickelt, mit dem sie das schulinterne Curriculum bereichert hat. Mit diesem Curriculum hat der Unterricht, den das Schulamt sehen will, wenig zu tun. Man hat vielmehr den Eindruck, daß es sich für den reformpädagogischen Kontext überhaupt nicht interessiert.

Die andere Kollegin hatte als junge Frau ein Jahr als Au-pair in den USA verbracht. Ihr Englischunterricht wurde vom Schulamt als gerade so eben mit ‚ausreichend‘ bewertet: also knapp nicht durchgefallen. Auch sie mußte mehrfach geprüft werden. Das Schulamt ließ sich viel Zeit damit und dehnte die Probezeit weit über die vorgeschriebene Zeit hinaus aus. Ein junger Dozent von der Universität, der das Schulamt vertrat, bemängelte u.a. ihren amerikanischen Akzent. Ein guter Rat für angehende Englischlehrer: Reist lieber nicht in die USA. Das könnte sich für eure berufliche Karriere nicht als förderlich erweisen.

Bei dem bereits erwähnten Besuch von Kolleginnen und Kollegen vom „Blick über den Zaun“ hospitierte übrigens eine Kunstlehrerin den Kunstunterricht dieser Kollegin und war hinterher im Plenum voller Lob. Sie betonte, daß sie bislang noch keinen so kreativen und so kompetenten Unterricht habe miterleben dürfen, und sie bedankte sich bei der Kollegin für die Ideen, zu denen sie sie angeregt habe. Bleibt nur zu ergänzen: für den Kunstunterricht dieser Kollegin hatte sich das Schulamt selbstverständlich nicht interessiert.

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