„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 11. November 2015

Hans Brügelmann, Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co., Weinheim/Basel 2015

(Einladung und Vorspiel (S.7-15); Wozu Evaluation? Inszenierte Kontroverse in verteilten Rollen (S.17-29); Über das Spiel mit Zahlen hinaus – Grundprobleme einer ‚Evidenzbasierung‘ (S.31-64); Hattie und der Zauber der großen Zahlen (S.65-76); PISA & CO.: Nutzen und Grenzen von Leistungsvergleichen auf Systemebene (S.77-94); Evaluation von Schule und Unterricht (S.95-115); Die Not mit den Noten (S.117-127); Zehn Thesen zur Diskussion (S.129-130))

1. Methode I: Evidenzbasierung
2. Methode II: Kasuistik
3. Methode III: Begriffe, Methoden und Studien
4. Leistungsstandards als Bildungsstandards
5. PISA & Co.
6. „Blick über den Zaun“
7. Prüfungskompetenz als Persönlichkeitsmerkmal

Im letzten Post zu Begriffen, Methoden und Studien bin ich darauf eingegangen, warum das kybernetische Paradigma in der Bildungsforschung und in der Bildungspolitik nichts zu suchen hat. Brügelmann stellt hierzu unmißverständlich fest: „Menschen reagieren nicht mechanisch, sondern mit Berechnung, aber genau deshalb nicht berechenbar.“ (Brügelmann 2015, S.38)

Genau das aber, nämlich Berechenbarkeit und Steuerbarkeit der Menschen in der pädagogischen Praxis, suggeriert der Begriff des Bildungsstandards. Großstudien wie PISA & CO. erwecken den Eindruck, als könnten alle relevanten Bildungsziele nach dem Schema „richtig vs. falsch“ sortiert und aussortiert werden. Aber das gilt nur für eine bestimmte Form der Leistungsbewertung, die sich aus Gründen der Vergleichbarkeit von Testergebnissen auf abprüfbare Oberflächenmerkmale beschränkt. Brügelmann hält dagegen, daß es, „je höher die Anforderungen an das individuelle Denk- und Urteilsvermögen steigen“, immer weniger „nur um Leistung geht“: „Leider werden diese beiden Dimensionen nicht immer sauber getrennt – z.B. wenn die Kultusministerkonferenz ihre Kompetenzvorgaben ‚Bildungsstandards‘ nennt, die eigentlich ‚Leistungsstandards‘ heißen müssten, da sie sich nur auf Fachleistungen beziehen. Denn ‚Bildung läßt sich weder auf Wissen reduzieren, noch läßt sie sich von außen erzwingen. Sie setzt die Aktivität des ‚Sich-Bildens‘ voraus‘ () ...“ (Brügelmann 2015, S.54)

Zur Beurteilung von Bildungsprozessen gehört die Anerkennung der „Mehrdeutigkeit von Verhalten“, die aber von der „Richtigkeitsorientierung“ einer „standardisierte(n) Auswertung“ von Testergebnissen bewußt ignoriert wird. (Vgl. Brügelmann 2015, S.107) Denselben Fehlern und denselben Lösungen innerhalb desselben Tests können völlig unterschiedliche Lernhaltungen und Denkprozesse zugrundeliegen. ‚Fehler‘, die ein bestimmter Schüler in einem Test macht, können auf durchaus nachvollziehbaren, gehaltvollen Denkprozessen beruhen, während  die ‚Lösungen‘ eines anderen Schülers nur mechanischem Auswendiglernen oder gar dem Zufall zu verdanken sind; und er wird sie wohl auch nach dem Test bald wieder vergessen. Diese Differenz zwischen ‚Fehlern‘ und Fehlern und zwischen ‚Lösungen‘ und Lösungen gibt es sogar bei Rechtschreibtests. (Vgl. Brügelmann 2015, S.53)

Bei Leistungsvergleichen, wie sie durch die Ziffernnoten ermöglicht werden, kann es schon aus prinzipiellen Gründen nicht nur gute Schüler geben. Ihr einziger Sinn besteht darin, zwischen guten und schlechten Schülern zu unterscheiden. Nach der „Logik der Ziffernnoten“, so Brügelmann, ist es „nicht möglich, dass alle Schüler/ innen ‚gut‘ sind“. (Brügelmann 2015, S.97)

Wenn aus Bildung Bildungsstandards werden, wird genau dieser Leistungsgedanke auf den Bildungsbegriff übertragen. Die nicht standardisierbaren Tiefenstrukturen des Bildungsprozesses geraten aus dem Blickfeld. Die Kybernetik, die dahintersteckt, wird auch durch die Unterscheidung zwischen Input und Output deutlich. Wie bei einer „Blackbox“ (Brügelmann 2015, S.35) geht es nicht mehr um die inneren Denkprozesse und Denkhaltungen der Schüler, sondern nur noch um die Produkte, also um das beobachtbare ‚Verhalten‘, das die Schüler in den Tests an den Tag legen: „Erfasst wird ‚Output‘, z.B. die Leseleistungen der Schüler/innen am Ende eines Schuljahrs, vielleicht auch noch deren Voraussetzungen am Anfang. Aber was dazwischen passiert und wie der Unterricht konkret aussieht, bleibt im Dunkeln.“ (Brügelmann 2015, S.35)

Hans Brügelmann unterscheidet deshalb wie Wolfgang Klafki zwischen einem prozeßorientierten und einem produktorientierten Unterricht: „Die Qualität von Schule lässt sich nur sehr begrenzt über die Evaluation ihrer ‚Produkte‘ bestimmen – vor allem wenn wir die Wirkungen so erfassen, wie dies gemeinhin geschieht: kurzfristig, ausschnitthaft und quantifiziert in Form von Testwerten oder gar Ziffernnoten. Unterricht und Schulleben sind pädagogische Prozesse. Pädagogische Prozesse aber haben einen Eigenwert. Dieser besteht unabhängig von der Qualität der Produkte und ihrer Messbarkeit. ... Qualität ist kein deskriptiv zu beschreibendes Faktum, sondern hat mit Werten zu tun, die eben auch die Prozesse und Bedingungen des Lernens betreffen.“  (Brügelmann 2015, S.95)

In diesem Zitat verwendet Brügelmann den Begriff ‚Produkt‘ auf zweideutige Weise. Zum einen sind mit den ‚Produkten‘ der Schule die Schüler selbst gemeint, die nach der Schule in die Gesellschaft entlassen und dort von den verschiedenen ‚Abnehmern‘, sprich Arbeitgebern empfangen werden. Diese gesellschaftlichen ‚Abnehmer‘ entscheiden über die Brauchbarkeit bzw. Qualität der ‚Produkte‘ der Schule, und oft genug bekommt man auch Klagen über mangelnde Mathematik- und Rechtschreibkenntnisse der Auszubildenden zu hören.

Zum anderen aber haben wir es bei den ‚Produkten‘ mit den meßbaren und vergleichbaren Lernerfolgen der Schüler selbst zu tun. In gewisser Weise sind hier die Schüler die ‚Kunden‘ der Schule, die sich von der Schule die ‚Bildung‘ kaufen, die sie brauchen, um später im Beruf erfolgreich sein zu können. Auch die Schüler bzw. ihre Eltern bewerten also die Qualität dieses Produkts, nämlich ‚Bildung‘, die die Schule ihnen liefert bzw liefern soll.

In beiden Fällen hat die Schule (und ihre Qualität) es also mit ‚Kunden‘ zu tun: auf Seiten der Gesellschaft und der Wirtschaft und auf Seiten der Eltern und ihrer Kinder. Wenn es also mit den Bildungsstandards einen Wechsel von der Inputorientierung der Schulbildung zu einer Outputorientierung der Schulbildung gegeben hat, dann sagt das auch etwas über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage aus. Die Inputorientierung deutet auf eine Angebotsschule hin. Diese Schule stellt Bildungsstrukturen und Bildungsgelegenheiten bereit, die sich ihre ‚Kunden‘, nämlich die Schüler, abholen können. Es sind die Schüler, die hier als Bildungssubjekte wahrgenommen werden und die versuchen, das Beste aus dem Angebot der Schule für sich herauszuholen. Die Outputorientierung deutet hingegen auf eine Nachfrageschule hin, die im Dienste ihrer ‚Kunden‘, nämlich der Gesellschaft und der Wirtschaft, die Produkte (Schüler) produziert, die die Gesellschaft braucht. Die Schüler müssen sich dieser Nachfrage anpassen, ob sie wollen oder nicht. Andernfalls werden sie später von der Wirtschaft nicht ‚nachgefragt‘.

Die Qualität der Produkte wird in der Angebotsschule vom Schüler (bzw. anfangs von den Eltern) beurteilt, während sie in der Nachfrageschule von der Wirtschaft beurteilt wird. Bildungsstandards sind eindeutig an den Bedürfnissen der letzteren Klientel orientiert.

Eine outputorientierte Standardisierung von Unterricht und Schule schließt die Beteiligung des Schülers an einer gemeinsamen Leistungsbewertung prinzipiell aus. Anstatt ihm Rückmeldung über seinen eigenen Lernprozeß zu geben, teilt sie von der Gesellschaft vorgegebene Lebenschancen zu: „Die Selektionsfunktion des Schulwesens führt über die unterstellte Normalverteilung des Bewertungssystems dazu, dass nicht die faktische Bedeutsamkeit von Leistungsunterschieden, sondern ihr Beitrag zur Einstufung von Schüler/inne/n bestimmt, welche Noten und Berechtigungen vergeben werden.“ (Brügelmann 2015, S.97)

In meinem letzten Post werde ich noch einmal darauf zurückkommen, wie eine grundsätzlich dialogische, den individuellen Bedürfnissen nach Selbstbeurteilung entsprechende Form der Leistungsbewertung aussehen könnte.

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