„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 26. September 2015

Michael Silnizki, Geopolitik: geotheologische und geoökonomische Betrachtungen, Berlin 2015

(Michael Silnizkis Website)

Es ist ein ziemlicher Sprung vom raumschaffenden Menschen, wie er im Zentrum des zuletzt von mir besprochenen Beitrags von Sandra Maria Geschke zum Tagungsband „Aufgabenorientierte Wissenschaft“ (2015) steht (vgl. meinen Post vom 23.09.2015), zu Michael Silnizkis Buch „Geopolitik“ (2015). Bei Silnizki geht es gerade nicht um das individuelle Potential des Menschen, sich in der Welt zu orientieren und zu beheimaten, sondern im Gegenteil um sich „wertfremd“ gegenüberstehende, nur geopolitisch beschreibbare „Großräume“, die, so Silnizkis zentrale These, in ihrem jeweiligen Werteverständnis ähnlich festgelegt sind, wie die planetarische Gestalt der Erde, deren Kontinentalverschiebungen nur in geologischen Zeiträumen gemessen werden können: „Versuche des westlichen Universalismus und seines Hegemons, einen wertfremden Großmachtraum zu domestizieren und dessen wertlogisches Selbstverständnis zu transformieren, sind genauso erfolgversprechend, wie der Versuch, den Fisch auf seine Fähigkeit zu prüfen, auf dem Trockenen zu leben.“ (Silnizki 2015, S.7)

Dieses Zitat ist ganz am Anfang, wie ein Motto, noch dem Inhaltverzeichnis vorangestellt. Bei dem westlichen „Hegemon“ ist an die USA zu denken, und bei dem „wertfremden Großmachtraum“ an Rußland. Das erste, was einem deutschen Leser dabei einfällt, ist, daß auch Deutschland einst als so eine wertfremde Großmacht angesehen worden ist, die, via Preußen, mehr dem östlichen geographischen Raum zugeordnet wurde als Westeuropa. Tatsächlich ist es aber gelungen, dieses Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg in die westliche ‚Wertegemeinschaft‘ zu integrieren. Es scheint also zumindestens ein Beispiel dafür zu geben, daß der Versuch, das wertlogische Selbstverständnis eines geopolitischen Gegners zu transformieren, historisch erfolgreich gewesen ist. Allerdings dürfte das vor allem den spezifisch innerdeutschen Verhältnissen der sechziger und siebziger Jahre insbesondere in Westdeutschland geschuldet sein. Die Studentenbewegung wird an dieser Entwicklung wohl einen erheblicheren Anteil gehabt haben als die Geostrategen der NATO.

Ich erwähne das nur, weil ich den Eindruck habe, daß Silnizkis Konfrontationsthese von den einander wertfremden geographischen Großräumen die vielen anderen Akteure des Weltgeschehens vernachlässigt. Ich habe Silnizkis Buch von einem Kollegen an der Schule, an der ich arbeite, geschenkt bekommen, mit dem ich hinsichtlich der Rolle Rußlands in der Ukraine nicht einer Meinung bin. Das macht aber nichts, weil es glücklicherweise noch einige andere Dinge gibt, wo wir uns sehr wohl einig sind. Jedenfalls habe ich jetzt die Gelegenheit Silnizkis Buch zu besprechen.

Michael Silnizki unterscheidet zwischen Staaten und Imperien. Staaten haben eine Außenpolitik und bewegen sich im Rahmen des Völkerrechts, das die Anerkennung der staatlichen Souveränität und das Prinzip der wechselseitigen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beinhaltet. (Vgl. Silnizki 2015, S.13, 17 u.ö.) Imperien hingegen betreiben Geopolitik, die die Welt „territorial in ‚Großräume‘ aufteilt“ (S.35), die Imperien wie Rußland zu bewahren versuchen – Silnizki weist dezidiert darauf hin, daß Rußland niemals ein Staat, sondern immer ein Imperium gewesen ist (vgl. Silnizki 2015, S.16) – oder die, wie im Falle der USA, versuchen, ihr eigenes Imperium zu erweitern und in gleichermaßen „raumfremde“ wie „wertfremde“ Machträume vorzudringen. (Vgl. Silnizki 2015, S.37)

Dabei bedienen sich insbesondere die USA, der westliche „Hegemon“ (vgl. Silnizki 2015, S.20), sowohl geotheologischer wie auch geoökonomischer Mittel (vgl. Silnizki 2015, S.14). Als „geotheologisch“ bezeichnet Silnizki den Rückgriff auf den westlichen Werteuniversalismus, insbesondere die Menschenrechte, die im Rahmen des (veralteten) Völkerrechts unter Mißachtung der einzelstaatlichen Souveränität zu einem „Weltrecht“ ausgebaut werden bzw. werden sollen, um so die Intervention in andere Staaten zu rechtfertigen. (Vgl. Silnizki 2015, S.18 und S.25) Als „geoökonomisch“ bezeichnet Silnizki die geopolitische „Verwertung“ dieser universalistischen Werteordnung, ganz konkret im Sinne einer „monetären Domestizierung“ (Silnizki 2015, S.55), die durch Einbeziehung der wertfremden Großräume in die hegemoniale Währung (wahlweise Dollar oder Euro) dazu beiträgt, deren „innerstaatlichen Machtstrukturen von innen auszuhöhlen“ (vgl. Silnizki 2015, S.18). Als Beispiele fallen vielen Lesern dazu sicherlich gleich die Sanktionen gegen Rußland nach der Okkupation der Krim und der Krieg in der Ost-Ukraine ein. Aber auch Griechenland dürfte dazu passen.

Denn letztlich geht es um eine durch die mit der freiheitlichen Werteordnung des westlichen Menschenrechts-Universalismus zumindestens kompatiblen Währungshegemonie herbeigeführte Schuldenfalle, aus der die betroffenen raum- und wertfremden Völkerrechtssubjekte nicht mehr herausfinden. Ohne daß eine Armee einmarschieren mußte, verlieren sie so ihre reale staatliche Souveränität, auch wenn sie sie formal noch besitzen. Sie werden zu „Schuldenkolonien“. (Vgl. Silnizki 2015, S.29)

Der Begriff der „Schuldenkolonie“ erinnert an Habermasens Kolonialisierungsthese. (Vgl. hierzu meinen Post vom 17.01.2013) Auch Habermas geht davon aus, daß das Geld die Lebenswelt korrumpiert und kolonialisiert, indem es ihr seine ökonomischen Imperative aufzwingt. Silnizki überträgt diese Korruptionsthese auf das zwischenstaatliche Verhältnis von ‚Kulturen‘, die hier aber nicht als Kulturen thematisiert werden, sondern ausschließlich als geographisch definierte Machtbereiche. Dabei drängt sich mir der Eindruck auf, daß wir es hier mit einem dem Biologismus vergleichbaren Geologismus zu tun haben. Die individuelle Urteils- und Handlungskompetenz wird ähnlich wie beim Biologismus mancher Genetiker (das ‚egoistische Gen‘) auf geologische Entwicklungsbedingungen reduziert. Wechselseitige kulturelle Beeinflussung erscheint hier ausschließlich als ein dem hegemonialen Universalismus der westlichen Wertelogik geschuldeter Imperialismus. Das geht mir – auch wenn ich Silnizkis Parallelisierung von universellen Werten und monetärer Verwertung durchaus zustimme – zu weit.

Silnizki selbst bezeichnet seine Darstellung der Geopolitik als wertneutral: „Es ist dezidiert nicht die Absicht der Studie, eine wohlfeile Kritik gegen die Geopolitik mit ihrer geotheologischen Intervention und geoökonomischen Expansion zu üben. Es geht allein darum, das Vor- und Eindringen des westlichen Hegemons in die wertfremden Machträume und die globalen Auswirkungen des westlichen Universalismus auf dieselben ins rechte Licht zu rücken.“ (Silnizki 2015, S.14)

Zu Beginn seines Buchs unterscheidet Silnizki begrifflich zwischen ‚Werten‘ und ‚Urteilen‘. Anhand einer kleinen Geschichte, in der er von seiner Auseinandersetzung mit zwei „Zeitgenossen“ auf einer Rußlandtagung berichtet (vgl. Silnizki 2015, S.12f.), bestimmt Silnizki, daß Wertmaßstäbe von einem „etablierten Machtsystem“ vorgegeben werden, während das „Urteilsvermögen“ „durch die Bildung und Erfahrung voraussetzende Geisteshaltung bestimmt“ ist (vgl. Silnizki 2015, S.13). Begriffe wie ‚Bildung‘, ‚Erfahrung‘ und ‚Geisteshaltung‘ sind eindeutig genug, um Silnizki dahingehend verstehen zu dürfen, daß es sich beim Urteilsvermögen um ein individuelles Potential handelt, auch wenn Silnizki es gleich darauf zu einer Fähigkeit der „Außenpolitik“ erweitert, „zu sich selbst auf Distanz zu gehen, in dieser Distanz die Selbstbilder von den Fremdbildern zu trennen und zwischen selbstentworfener und wertfremder Realität zu unterscheiden, um in diesem Unterschied ein Ur-Teil zu finden.“ (Silnizki 2015, S.13) – Dieses Zitat wird man wohl so deuten können, daß wir es in der Außenpolitik mit Menschen zu tun haben, die über die genannte Fähigkeit, nämlich über ein individuelles Urteilsvermögen verfügen.

Genau in diesem Sinne unterscheidet sich die eingangs schon erwähnte ‚Außenpolitik‘ von der ‚Geopolitik‘, die die eigene Werteordnung absolut setzt, indem sie sie universalisiert und überall durchzusetzen versucht. Aber obwohl Silnizki von sich selbst behauptet, daß er sich zu dieser ‚Geopolitik‘ neutral verhalten will, nimmt er doch an verschiedenen Stellen für sie Partei, indem er sich gegen die Versuche einzelner Gruppen und Menschen richtet, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. So wirft er z.B. der russischen Opposition vor, daß sie „mangels Kenntnis und Interesse an der westlichen Geopolitik und nicht zuletzt wegen ihrer Idealisierung des Westens“ nicht mehr zwischen Werten und Urteilen zu unterscheiden vermag: „Indem sie ‚prowestlich‘ träumt, pardon: denkt, handelt sie wider das Selbstverständnis der russischen Wertlogik, ohne dabei die westliche Wertlogik authentisch verstehen zu können, geschweige diese übernehmen zu wollen.“ (Silnizki 2015, S.27) – Diese Darstellung steht der Putinschen Propaganda sehr nahe, daß es sich bei der russischen Opposition um eine „fünfte Kolonne“ des US-Imperialismus handelt.

Auch Habermas muß sich von Silnizki vorwerfen lassen, daß seine Kritik am völkerrechtlichen Imperialismus der USA zwar berechtigt sei, daß sie aber leider nur „aus der Sicht eines den alleinigen Machtanspruch der USA nicht akzeptierenden Westeuropäers“ stamme. (Vgl. Silnizki 2015, S.62) Aus der „Sicht der wertfremden Machträume“ sei hingegen „‚der hegemoniale Universalismus‘ der USA ebenso wenig, wie die universale Wertgeltung des westlichen Universalismus, akzeptabel“. (Vgl. ebenda)

Es gibt also für Silnizki innerhalb dieses Werteuniversalismusses nichts, was ihm über die Konfrontation raum- und wertfremder Machträume hinaus als verteidigenswert erscheint. Dabei ist es genau die von ihm selbst eingangs getroffene Unterscheidung zwischen ‚Werten‘ und ‚Urteilen‘ und sein Plädoyer für das durch Bildung und Erfahrung geprägte Urteilsvermögen, die auch der erwähnten russischen Opposition und Intellektuellen wie Habermas zuerkannt werden müssen, unabhängig davon, welchem geopolitischen Machtraum sie zuzuordnen sind.

Worüber ich auch immer gerade nachdenke und womit auch immer ich mich gerade innerlich beschäftige: immer berufe ich mich dabei auf mein individuelles Urteilsvermögen. Ich gehe notwendigerweise von mir selbst aus, um anderes und Andere zu verstehen. Das bedeutet, daß ich nie nur über andere urteile, sondern immer auch über mich selbst. Ich stehe neben mir, getrennt von mir, in einer Ur-Teilung mir selbst gegenüber. Wenn ich über andere urteile, urteile ich über mich selbst. Wenn ich sehe, daß sich andere in diesem Sinne ähnlich verhalten wie ich, werde ich mich mit ihnen solidarisieren, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Glaubens.

Universell sind deshalb nicht und niemals die Werte als solche, sondern eine bestimmte Haltung zu ihnen, die die Möglichkeit offen hält, daß andere anders werten und urteilen. Das muß auch der russischen Opposition zugestanden werden, ohne daß sie sich gleich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, als fünfte Kolonne des westlichen Werteuniversalismusses zu fungieren.

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Mittwoch, 23. September 2015

Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015

(Waxmann, 280 S., br., 34,90 €)

Sandra Maria Geschke: Beheimatung als Hybriditätserfahrung: Gedanken zu Prozessen urbaner Raumbindungsstärkung, S.141-150


In diesem Blog habe ich schon einmal ein Buch von Sandra Maria Geschke besprochen. (Vgl. meine Posts vom 02.11. bis zum 09.11.2013) Im Zusammenhang des Tagungsbandes fällt die thematische Nähe ihres Beitrags „Beheimatung als Hybriditätserfahrung“ (2015) zu Jan Masscheleins Beitrag „Expeirmentum Scholae“ am Ende des Tagungsbandes auf. Bei beiden geht es um Raumeröffnung bzw. um Weltbegegnung, die zugleich der Selbstfindung des Menschen dient. (Vgl. Geschke 2015, S.141 und Masschelein 2015, S.274)

Bei Geschke bildet der Mensch noch ein Wahrnehmungs- und ein Handlungssubjekt. Der urbane ‚Raum‘ bildet nicht in erster Linie ein ‚Medium‘, eine Infrastruktur, die untergründig die Bewegungen der Menschen kanalisiert, sondern es geht um ein „Verhältnis zwischen Mensch und Raum“, das den Menschen über das aktive Raumschaffen eine Beheimatung ermöglicht: es geht um die Schaffung von „Bewegungsspielräumen“. (Vgl. Geschke 2015, S.147 und S.148)

Geschke macht den Begriff der Heimat an der Möglichkeit des Menschen fest, sich selbst als Handlungssubjekt zu erleben: „Nur wenn Menschen die Gelegenheit bekommen, Welt zu schaffen, verknüpfen sie ihren eigenen Werdungsprozess mit dem entsprechenden Ort ihres Tuns, was eine emotionale und identifikatorische Verwurzelung zur Folge hat und die Welt zum Ausweis der eigenen Existenz werden lässt.“ (Geschke 2015, S.147)

Hier wird der Begriff der Welt emphatisch mit dem Existenzbegriff verknüpft. Das muß nicht zwangsläufig auf die Gleichsetzung von Beheimatung und Authentizität hinauslaufen. Bei Kierkegaard ist die Existenzerfahrung vielmehr zugleich mit tiefster Verzweiflung darüber verbunden, nicht zu wissen, wer man ist. Und bei Plessner gehört unausweichlich der Begriff der Doppelaspektivität zur Selbsterfahrung des Menschen. Geschke verwendet ebenfalls den auf alles andere als auf Authentizität hinauslaufenden Begriff der „Hybriditätserfahrung“. Sie spricht von der „Hybridwerdung einer Person“, die mit „Teilen ihrer spezifischen Umwelt“ verschmilzt. (Vgl. Geschke 2015, S.146) Aber der Existenzbegriff eröffnet dennoch eine nicht-mediale Seinsweise des Menschen an der Grenze zwischen Innen und Außen, im Plessnerschen Sinne, denn Geschke verweist auf eine „zweifach gerichtete() Affizierungsweise()“ der Weltbegegnung (vgl. Geschke 2015, S.146): die äußeren Dinge bzw. die Phänomene begegnen uns immer auf eine zugleich das innere Erleben erneuernde und modifizierende Weise. Es sind nicht nur wir, die die Dinge anschauen, sondern wir fühlen uns zugleich von ihnen angeschaut. (Vgl. ebenda) Das Äußere ist innen, und das Innere ist außen, und der Mensch befindet sich auf der Grenze dazwischen. – Das ist Plessner at its best.

Dieses Affiziert-Werden von den ‚Dingen‘ – im ursprünglichen Sinne eines Welt und Menschen um sich versammelnden Dings (Thing) – bringt Geschke noch einmal mit dem Hinweis darauf auf den Punkt, daß die Menschen nie einfach nur wahrnehmen, indem sie die Dinge um sich herum gleichsam „registrieren“. (Vgl. Geschke 2015, S.144) Vielmehr stellt jede einzelne Wahrnehmung als solche schon eine „virtuelle Handlung“ (ebenda) dar, weil die ‚Dinge‘ um uns herum immer auch einen Appellcharakter beinhalten, auf den wir mit unserer Aufmerksamkeit und mit unserer Bewegung unmittelbar körperlich reagieren: „Ständig sind wir raumschaffend unterwegs. Wir können gar nicht anders. Warum? Nun, weil wir leibliche Wesen sind und permanent durch die unterschiedlichsten Eindrücke aus unserer Umgebung mit Ansprachen konfrontiert werden.“ (Geschke 2015, S.142)

Das „Verhältnis zwischen Mensch und Raum“ ist also im Husserlschen Sinne kinästhetisch strukturiert. Wir nehmen wahr, indem wir uns im Raum zwischen den Dingen bewegen. Diese kinästhetische Struktur kann näher bestimmt werden als das von Hintergründen und Vordergründen (Husserls „Horizonte“): „Wir sehen also fokussiert auf Objekte.“ (Geschke 2015, S.144)

‚Fokussiert‘ meint, daß unsere Wahrnehmung immer einzelne ‚Objekte‘ – entsprechend ihrem ‚Anspruch‘ an uns – aus dem Wahrnehmungshintergrund herauslöst und in den Vordergrund stellt. Entsprechend ist der Begriff der Objektivität nicht im naturwissenschaftlich-empirischen Sinne zu verstehen, sondern phänomenal: „Wir sind dadurch, dass uns die Umwelt objektiv in Erscheinung tritt, von ihren Ansprachen affiziert.“ (Geschke 2015, S.144) – Wir haben es hier also mit einer tiefen Einsicht in die phänomenologische Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu tun, in der nicht einfach nur rein logisch kein Subjekt ohne Objekt und kein Objekt ohne Subjekt denkbar ist, sondern bei der es um eine Weltbegegnung, eine Begegnung von Subjekten mit ihren Phänomenen geht, wie Geschke Brian Massumi zitiert: „(E)in Subjekt muss etwas haben, dessen Subjekt es ist.“ (Geschke 2015, S.144)

Diese gleichermaßen phänomenale wie existenzielle Verortung des Menschen in der Welt zeigt, daß das äußere Arrangieren von Dingen immer zugleich mit einem inneren Arrangement von Erfahrungen und Erinnerungen einhergeht. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 01.04.2015) Geschke spricht von der „narrativen(n) Oberfläche“ eines Ortes, von seiner „Textur“. (Vgl. Geschke 2015, S.147) Narrativ ist die urbane Raumerfahrung weniger im Sinne ihrer starren, Güter und Personen für fremdbestimmte Zwecke steuernden Infrastruktur, als vielmehr aufgrund der Lücken, der „Leerstellen“, die „alternative() oder ergänzende() Narrationen“ ermöglichen, eben jenen „Bewegungsspielraum“, von dem schon die Rede gewesen ist. (Vgl. Geschke 2015, S.148)

Narrativität ist genau auf diese subjektive Zutat der Wahrnehmungssubjekte angewiesen, die die Lücken im Erzählstrom bzw. in der urbanen Selbstdarstellung unterschiedlichster Interessen nutzen, um in die ‚Erzählung‘ einzusteigen und sich einen je eigenen Reim darauf zu machen. (Vgl. meine Posts vom 20.03. und vom 22.03.2011) In der sprachlichen Vermittlung unterstützt die individuell allgemeine Funktionsweise der Wörter dieses Hineinmontieren von eigenem Sinn. Denn gleichgültig wie wortreich Protagonisten in einer Erzählung mit Eigenschaften ausgestattet werden: jeder Leser bzw. Zuhörer macht sich letztlich sein eigenes ‚Bild‘ von ihnen. Ein Wort ist keine Photographie.

An dieser Stelle kommt Geschkes Phänomenologie der urbanen Raumschaffung und Beheimatung des Menschen allerdings an ihre Grenze. Letztlich versucht sie nämlich doch, für Raumplaner und Politiker ein brauchbares Konzept der stadtplanerischen und politischen – nicht gerade ‚Steuerung‘, aber doch: Ermöglichung von Narrativität im „öffentlichen Raum“ auszuformulieren. (Vgl. Geschke 2015, S.148) Ich kann die Berechtigung eines solchen Konzepts aber weniger im Positiven, also im Vorwegnehmen von individuellen Sinnfindungen und Handlungsentscheidungen sehen, als vielmehr im planerischen Vermeiden von Negativem, nämlich der mutwilligen Zerstörung gewachsener urbaner Strukturen.

Für meine Ohren klingt es jedenfalls etwas schräg, wenn genau jene „Leerstellen“, die die Menschen in ihrer urbanen „Affizierungslandschaft“ entdecken, also je individuell und unvorhersehbar, „gezielt“, also durch stadtplanerisches Vorgehen, in die städtische Infrastruktur „eingebaut werden“ sollen. „Leerstellen“ lassen sich weder „(e)rrichten“ noch „produktiv multiplizieren“. (Vgl. Geschke 2015, S.148) Das ist letztlich doch nur gutgemeinte Wortakrobatik. Bewegungsspielräume und damit Beheimatung schaffen sich die Menschen durch eigenes Handeln oder gar nicht. Man denke nur an die Gentrifizierung: kaum sind Stadtteile städtebaulich und kulturell aufgewertet, steigen die Mieten. Wohnen kann dort dann nur noch, wer es sich leisten kann.

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Montag, 21. September 2015

Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015

(Waxmann, 280 S., br., 34,90 €)

Kirsten Sobotta: Sprache als sinnerzeugendes Medium oder wie Metaphorik als spezifisches sprachimmanentes Verfahren menschlicher Erkenntnisgenerierung auch erklärt werden könnte, S.110-119


Kirsten Sobotta bringt die These ihres Beitrags schon in der Überschrift deutlich genug zum Ausdruck. Wenn die Sprache selbst als sinnerzeugendes Medium zu verstehen ist, ist der individuelle Beitrag des einzelnen sprechenden Individuums zu dieser Sinnerzeugung nicht mehr besonders relevant. Darüber hinaus bezeichnet Sobotta die Metaphorik als „spezifisches sprachimmanentes Verfahren menschlicher Erkenntnisgenerierung“. Diese Sprachimmanenz der Metaphorik wie überhaupt der „Sinngenerierung“ (Sobotta 2015, S.112) bildet einen im Titel vorweggenommenen Hinweis darauf, daß, wie es im Beitrag von Sobotta heißt, der „Sinn sprachlicher Metaphern ... nicht etwa anhand einer sprach- bzw. symboltranszendenten Realität oder Mentalität (beglaubigt)“ werden könne (vgl. Sobotta 2015, S.111).

„Sinngenerierung“ ist Sobotta zufolge nur „symbolsystemimmanent“ möglich (vgl. Sobotta 2015, S.111), „intramedial“ und „intermedial“, indem sich „Medien auf Medien“ ‚zurückbiegen‘ (vgl. Sobotta 2015, S.112). Damit spielt die subjektive Differenz von Sagen und Meinen in ihrem medial-sprachsystemimmanenten Konzept keine Rolle. Das zeigt sich auch an ihrer Version der „Embodiment-These“. (Vgl. Sobotta 2015, S.111) Mit Embodiment bzw. Verkörperung meint sie nicht etwa die Rückbindung des Denkens und Sprechens „auf sensomotorische Erfahrungen“ (vgl. Sobott 2015, S.111, Anm.6), sondern die mediale Verfaßtheit des Kommunikationssystems, den „performativen Fluss“ des aktuellen Gebrauchs „usueller Bedeutung(en)“ (Sobotta 2015, S.112), in dem spontane Metaphernbildungen als Wirbel im Strömen der Sinngenerierung auftreten und ‚Stockungen‘ erzeugen. Und die Funktion der „interagierenden Subjekte“ (Sobotta 2015, S.112) besteht darin, die durch die Stockung zueinander verschobenen Prätexte und Kontexte neu zu verschalten, um den Sinnstrom wieder fließen zu lassen. (Vgl. Sobotta 2015, S.113)

Da war der späte Wittgenstein, auf dessen „Tractatus“ Sobotta sich bezieht, selbst schon weiter. Der ‚Körper‘ war bei ihm im konkret leiblichen Sinn das eigentliche sinnstiftende Fundament der Sprache. (Vgl. meinen Post vom 01.07.2015) Bevor wir Sprache gebrauchen, gebrauchen wir unseren Körper. Nicht sprachimmanent, sondern „sprach- und symboltranszendent“, sensomotorisch, nicht medial ergibt sich die ursprünglichste Sinnerfahrung, aus der alle Kommunikation hervorgeht.
PS (22.09.2015): Mein Gesprächspartner Georg Reischel meint mit Bezug auf einige meiner letzten Posts, daß ich dabei sei „abzudriften“. Er hat vermutlich Recht, denn ich bin momentan in einer ziemlich zornigen Stimmung, was dazu verleitet, unfair zu werden. Sobottas Beitrag bietet tatsächlich einige interessante Perspektiven auf den Metaphernbegriff, abgesehen davon, daß ich ihr Konzept für verfehlt halte. Ich hätte mir mehr Mühe geben können, das herauszuarbeiten.
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Sonntag, 20. September 2015

Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015

(Waxmann, 280 S., br., 34,90 €)

Jan Masschelein (und Maarten Simons): Experimentum Scholae: Die Welt noch einmal ... aber (noch) unbestimmt, S.273-280


Zu Jan Masschelein und Maarten Simons habe ich in diesem Blog schon zwei Besprechungen gepostet. (Vgl. meine Posts vom 16.08. bis zum 18.08.2013 und vom 19.08. bis zum 23.08.2013) Der im von Serjoscha P. Ostermeyer und Stina-Katharina Krüger herausgegebenen Tagungsband abgedruckte Beitrag „Experimentum Scholae: Die Welt noch einmal ... aber (noch) unbestimmt“ (2015) ist diesmal nur Jan Masschelein als alleinigem Autor zugeordnet, aber Masschelein verweist in einer Anmerkung auf die Ko-Autorenschaft von Maarten Simons. (Vgl. Masschelein 2015, S.273, Anm.1) Das bekräftigt er noch einmal am Schluß, indem er mit Verweis auf seine Freundschaft mit Maarten Simons das große Thema seines Beitrags aufgreift: „Sie (die Freundschaft – DZ) ist eine weltliche Erfahrung; für Freunde wird die Welt zu etwas, um das man sich kümmert, etwas(,) über das man denkt, etwas(,) das Experimentieren und Schreiben provoziert.“ (Masschelein 2015, S.280)

Daß es sich bei der ‚Welt‘ um etwas handelt, um das man sich kümmern muß, – in konkreter wie auch in aller Freundschaft –, öffnet die Ich/Du-Beziehung zwischen zwei Freunden zu einer Triade, in die das ‚Es‘ der Welt einbezogen wird, so daß sich eine Kommunion, eine Gemeinschaft herausbildet, die niemanden in dieser Gemeinschaft unberührt läßt. (Zu den Sozialperspektiven vgl. auch meinen Post vom 24.08.2015) In dieser Kommunion kommt das Etwas des ‚Es‘, das ‚Ding‘ im prägnanten Sinne, zur Erscheinung. (Vgl. Masschelein 2015, S.277; vgl. zum ‚Ding‘ auch meinen Post vom 01.04.2015) Dieses gemeinsame, kommunizierte ‚Ding‘ ‚versammelt‘ die Freunde und alle ‚Amateure‘ (vgl. Masschelein 2015, S.279), also alle Liebhaber des Dings, um sich und eröffnet sich und ihnen eine Welt, in der jeder, der daran teilhat, „(s)einen Platz finden bzw. einnehmen“ kann. (Vgl. Masschelein 2015, S.274)

Allein schon die Art und Weise, wie Masschelein den im Titel des Tagungsbandes angesprochenen Versammlungsgedanken aufgreift, setzt einen Kontrapunkt zu Ostermeyers Einleitung (vgl. Ostermeyer 2015, S.9-22), und man möchte gerne glauben, daß es sich dabei um eine wohldurchdachte Komposition zum Anfang und Ende des von Ostermeyer und Krüger herausgegebenen Tagungsbandes handelt, zumal Ostermeyer auch Masscheleins Beitrag aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat. Aber der Widerspruch zum systemtheoretischen Schwerpunkt der Ostermeyerschen Einleitung ist einfach zu groß, um hier eine Harmonie erkennen zu können. Masscheleins Beitrag ist von einer durch und durch phänomenologischen Einstellung zur Welt und zum Ding geprägt und getragen, und er richtet sich sogar explizit gegen den Versuch einer systemischen Zweckbestimmung. So sieht Masschelein die ‚Aufgabe‘ des Pädagogen als paedagogus bzw. als παιδαωγός nicht darin, daß dieser die Kinder einer vorgegebenen gesellschaftlichen Bestimmung ‚zuführt‘, im Sinne eines Kybernators. Vielmehr bricht der Pädagoge, so Masschelein, die „Zweckbindung und Bestimmung von Zeit“ auf (vgl. Masschelein 2015, S.274) und eröffnet einen Raum, in dem sie, die ‚Kinder‘ (und Studierenden), in „Nachbarschaft“ mit den Dingen kommen können und in dem sie die Dinge „berühren“ und von ihnen „berührt werden“ können. (Vgl. Masschelein 2015, S.278)

Die Lehrer legen also keine „Bezüge“ auf den „Gegenstand“ im vorhinein fest (vgl. Ostermeyer 2015, S.11) und ineins damit die Erfahrungsweise, in der Kinder und Studierende sie erleben sollen. Es sind nicht die Lehrer, die den Schülern die ‚Dinge‘ geben. Sie eröffnen nur die Zeit und den Raum, die Muße (scholè), in dem bzw. in der sich die ‚Dinge‘ selbst geben können. Die herkömmliche Schule unserer Tage hingegen verhindert solche zweckfreien Lernerfahrungen: „Weiter gefasst lässt sich die Geschichte der Schule als System/Institution/Organisation (und wahrscheinlich ebenso die sie unterstützende Geschichte der Bildungsphilosophie) vielleicht zu weiten Teilen als eine Geschichte lesen, die Zweckbindung und Zähmung von ‚freier Zeit‘ oder Muße betrieben hat.“ (Masschelein 2015, S.274)

Mit anderen Worten: Es ist vor allem der Systemgedanke, der der vorurteilsfreien Begegnung mit der Welt widerspricht. Systeme haben immer Zwecke. Zweckfreiheit oder profaner: Zwecklosigkeit ist kein Gedanke, der in der Systemtheorie vorkommt. Die Schule als System ist der Grund für eine weit verbreitete Einstellung ihr gegenüber, die man, so Masschelein, „einen tiefen Hass auf Schule nennen könnte“. (Vgl. Masschelein 2015, S.279)

Auch seinen eigenen Beitrag versteht Masschelein als einen ‚Versuch‘, der ursprünglichen, sich selbst gebenden Erscheinung eines Wort-Dings auf die Spur zu kommen. Dabei handelt es sich um das Wort ‚Schule‘ im Sinne von scholè. Masschelein verweist auf einen Essay von Hannah Arendt, in dem sie einen ähnlichen ‚Versuch‘ hinsichtlich der verloren gegangen Bedeutungen von Wörtern wie ‚Freiheit‘ und ‚Autorität‘ unternommen hatte. (Vgl. Masschelein 2015, S.273) ‚Ursprünglich‘ meint in diesem Fall nicht die geschichtliche Herkunft dieser Wörter, sondern den Versuch, ihre „gegenwärtigen Praxis“ zu erschließen: „Den ursprünglichen Geist zu destillieren heißt weder eine historische Rekonstruktion oder Genealogie zu übernehmen, noch sich auf eine essentialistische Analyse einzulassen, um eine (überhistorische) Essenz zu bestimmen. Vielmehr besteht der Vorgang aus Versuchen(,) diese Wörter mit zweierlei in Beziehung zu setzen: einerseits zu den Erfahrungen und Materialitäten, die mit den durch sie benannten Erfindungen oder Ereignissen verbunden sind sowie andererseits zu unseren gegenwärtigen Praxen.“ (Masschelein 2015, S.273)

Mit dem Wort „destillieren“ stellt Masschelein eine Analogie zu einem chemischen Experiment her. Sein Beitrag soll in genau diesem essayistischen Sinne ein Experiment sein, aber zugleich auch eine Meditation, eine „Gedankenübung“.  (Vgl. Masschelein 2015, S.273) ‚Destillieren‘ verweist auf einen Vorgang zurück, in dem der ‚Geist‘ eines Wortes, die Bedeutung von Wörtern wie ‚Freiheit‘, ‚Autorität‘ und eben auch ‚Schule‘, eine vielfältige (chemische) Verbindung mit Kontexten und Ereignissen eingegangen ist und sich so auf gewisse Weise ‚verdünnt‘ hat, also sich der Wahrnehmung entzogen hat. Der Destillationsvorgang des Essays soll diesen Vorgang wieder rückgängig machen, indem er den Geist aus der Verbindung mit diesen Kontexten und Ereignissen wieder herauszieht und kondensiert (verdichtet), also seine Wiedererkennbarkeit wieder herstellt. Masschelein verwendet den Begriff der ‚Destillation‘ also als chemische Metapher für eine Hermeneutik, die die verloren gegangene, aber verdeckt noch vorhandene Wortbedeutung wie die Phänomene in der Phänomenologie in aktueller Ursprünglichkeit wieder zum Vorschein bringt.

Dabei erhalten auch die Wörter ‚Aufgabe‘ und ‚Lücke‘ einen anderen Sinn als den, den wir schon in Ostermeyers Einleitung kennengelernt haben. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.10f.) Masschelein übersetzt das Wort scholè u.a. mit ‚Lücke‘ (vgl. Masschelein 2015, S.274), und zwar im Sinne einer Muße ermöglichenden ‚Verzögerung‘ bzw ‚Unterbrechung‘ der „gewöhnlichen Ökonomie der Zeit“ (vgl. Masschelein 2015, S.275). Unsere gewöhnliche, vor allem ökonomisch geprägte Zeiterfahrung ist immer zweckorientiert. Der Zeitpfeil ist nicht einfach nur auf eine irgendwie auf uns zukommende Zukunft ausgerichtet, sondern auf bestimmte Zwecke, deren Erfüllung mit dieser Zukunftserwartung verbunden ist. Das gegenwärtige sich-selbst-Geben der Dinge wird dadurch verunmöglicht.

Hinzu kommt der Wiederholungszwang eines Vergangenheitsbezugs, der ebenfalls verhindert, das wir andere Zwecke antizipieren können als jene, die uns unsere Eltern und Voreltern ‚schon immer‘, also lebensweltlich vorgegeben haben. Die ‚Lücke‘, die ums die Muße bzw. scholè ermöglicht, ist also zunächst eine zeitliche und ineins damit aber auch eine zwischen den Generationen: „Studierende oder Schüler“, so Masschelein, sind nicht an die Erfahrungsweisen und Sichtweisen der vorangegangenen Generationen gebunden. (Vgl. Masschelein 2015, S.276) Die Muße bzw. scholè „suspendiert“ die nachwachsende Generation vom Wiederholungszwang. – Das wäre der gute Sinn einer von Günter Dux diagnostizierten konstitutiven Nullage, in der sich jeder neu geborene Mensch in dieser Welt zurechtfinden muß. (Vgl. meine Posts vom 10.09.2012 und vom 10.01.2015)

Aus diesem Verständnis von ‚Lücke‘ ergibt sich auch eine entsprechende Aufgabenbestimmung: die Aufgabe ist nicht durch die Erfüllung eines Zwecks bestimmt. Im „Schatten“ des Dings geht es nicht um die Zurichtung dieses Dinges als Mittel für einen Zweck, sondern um einen Wandel, eine Transformation: „‚Dinge‘ erscheinen, aber in ihrem Erscheinen wird auch das Individuum transformiert und erscheint mit.“ (Masschelein 2015, S.278)

Natürlich kann man hier spitzfindig einwerfen, daß das ja auch ein Zweck wäre, dem das Ding als Mittel dienen könne, eben als Mittel einer Transformation. Aber die Zweck-Mittel-Bestimmung läßt den Wechselbezug außer acht, insofern ‚dieses‘ Mittel zugleich Zweck und ‚dieser‘ Zweck zugleich auch Mittel ist. Wir haben es hier mit Plessners Doppelaspektivität zu tun: Der Mensch erfährt sich in der Begegnung mit dem Ding bzw. dem Phänomen als Zentrum und als Peripherie. Indem ihm das Ding/Phänomen erscheint, erscheint er sich selbst und wird sich selbst zum Phänomen. Und damit wird er sich selbst zur Aufgabe: „Die Aufgabe ist nicht zu wissen oder zu lernen, wer Ich bin, wer Du bist oder wer Wir sind; die Aufgabe ist, sich um das Selbst zu sorgen, d.h. sich darum zu sorgen, was inter-essiert.“ (Masschelein 2015, S.278)

Mit dem Begriff des Interesses greift Masschelein ein altes pädagogisches Motiv auf, auf das schon Johann Friedrich Herbart hingewiesen hatte: die Hauptaufgabe des Lehrers ist es, beim Schüler Interesse zu wecken; mit anderen Worten, den Unterricht „ästhetisch“ so zu „arrangieren“, daß „Studierende oder Schüler in der Stille des Anfangens platziert“ werden. (Vgl. Masschelein 2015, S.278) – Die „Stille des Anfangs“ verweist wiederum auf Husserls Kennzeichnung des Phänomenologen als einem anfangenden Philosophen, einem Philosophen, der wie ein Kind wieder bei den Dingen anfängt, dort, wo sich die Dinge selber geben.

Masschelein zählt drei Begriffe auf, um die Stadien zu bezeichnen, die diesen Anfang begleiten: „Suspension“, „Profanierung“ und „Aufmerksamkeit“. (Vgl. Masschelein 2015, S.279) Mit Suspension ist die Aufhebung aller Zwecksetzungen gemeint, ein Prozeß der „De-sozialisierung, De-Zweckzuweisung, De-Privatisierung“. (Vgl. Masschelein 2015, S.275) Auch hier haben wir es mit einer phänomenologischen Methode zu tun, die Husserl als Epoché bezeichnet, als „Einklammerung“ von Welt – ‚Welt‘ im Sinne eines das einzelne Phänomen verdeckenden Kontextes –, um das jeweilige sich gebende Phänomen aus dieser Welt herauszudestillieren bzw. zu ‚reduzieren‘, wie Husserl es nennt. Allerdings ist Husserl Reduktionstechnik zugegebenermaßen essentialistisch. Ich bevorzuge es, statt vom ‚Wesen‘ eines Phänomens von seiner ‚Gestalt‘ zu sprechen. (Vgl. meinen Post vom 13.06.2010)

Mit Profanierung ist die Freisetzung des ‚Dings‘ aus seinen Kontexten gemeint, die es immer schon mit Bedeutungen besetzen und es so tabuisieren. Um dem phänomenalen Ding begegnen und sich von ihm berühren lassen zu können, muß es von diesen ‚heiligen‘ Tabus befreit werden und dem „allgemeinen Gebrauch der Menschen zurückgegeben“ werden, wie Masschelein Giorgio Agamben zitiert. (Vgl. Masschelein 2015, S.275)

Mit „Aufmerksamkeit“ geht es um eine über das gewöhnliche ‚Interesse‘ hinausgehende Weise der Achtsamkeit, die eben diese Berührung durch das Ding, das von ihm ‚angefaßt‘ Sein meint. (Vgl. Masschelein 2015, S.277) Es hat etwas mit Plessners noli-me-tangere zu tun, einer seelischen Befindlichkeit auf der Grenze zwischen innen und außen, zwischen hier und dort, die Masschelein am Bild eines Schwimmers beschreibt, der einen breiten Fluß – oder besser vielleicht einen See – überquert: „... der Schwimmer hat nicht nur die Flussseite gewechselt, sondern kennt die sie verbindende Linie, und dass es in der Tat ein ‚Ort‘ ist, der alle Richtungen integriert(,) und ein Milieu, das keine eigene Orientierung hat, oder andersherum, offen für alle Richtungen und Orientierungen ist.“ (Masschelein 2015, S.277) – Es handelt sich um das beste Bild für die anthropologische Grundbefindlichkeit des exzentrisch positionierten Menschen, das ich bislang kennenlernen durfte.

Diesen drei Stadien der Ding-Begegnung, der Eröffnung des Muße-Zeitraums (vgl. Masschelein 2015, S.277), entsprechen drei Stadien oder Momente einer pädagogischen Praxis der Ding-Präsentation: „Artikulieren“, „Präsentieren‘ und „Kommunieren“. Die Artikulation bildet eine grundlegende kultur-technische Voraussetzung der pädagogischen Praxis von scholè: „eines ihrer basalen Medien“ war, wie Masschelein festhält, „für lange Zeit offensichtlich alphabetisches Schreiben“. (Vgl. Masschelein 2015, S.279) Diese Abhängigkeit von Medien wie der Schrift verweist auf aktuelle und künftige Herausforderungen im Umgang mit den modernen „Informations- und Kommunikationstechnologien“: wie soll unter den gegenwärtigen Bedingungen „scholè (als Enthüllung und Kommunikation)“ ermöglicht werden? (Vgl. Masschelein 2015, S.279f.)

Letztlich geht es um die Frage des „Tisches“, um den herum sich Schüler und Studierende versammeln, gleichgültig ob dieser Tisch nun die Form einer Alphabetschrift hat oder eine andere Form der Präsentation: „Dinge werden ‚auf den Tisch gelegt‘. Das transformiert sie in gemeinsame Dinge, in Dinge(,) die zu jedermanns freiem Gebrauch zur Verfügung stehen.“ (Masschelein 2015, S.276)

Präsentation ist dabei eben nicht Re-Präsentation, sondern die Präsenz des Dinges selbst. Präsentation meint im Muße-Zeitraum der scholè nicht, die Welt in Modellen zu repräsentieren, sondern die Welt „noch einmal“, als Präsenz: „Stattdessen würden wir eher sagen, dass die Präsentation der Welt noch einmal, ohne Orientierung oder Zielpunkt, etwas in Schulstoff verwandelt. ... weil es exakt darum geht, die Welt noch einmal zu offerieren oder zu präsentieren, ohne zu definieren(,) wie sie fortgesetzt oder gebracht werden soll, das heißt sie un-bestimmt zu offerieren, sie freizusetzen.“ (Masschelein 2015, S.276)

Wenn das ‚auf dem Tisch‘ präsentierte Ding die Studierenden und Schüler so um sich versammeln (kommunieren) könnte, wären sie freigesetzt, „als Gleiche“ bei ‚Null‘ bzw. eben beim ‚Ding‘ „anzufangen“ (vgl. Masschelein 2015, S.277), ohne Unterschiede in der Intelligenz und Leistungsfähigkeit, wie sie den herkömmlichen Schulalltag bestimmen: „Eine Erzieherin (d.h. eine Lehrerin als Erzieherin) handelt ... unter der Annahme der Gleichheit von Intelligenz (wie Jacques Rancière impliziert), was die von einer ungleichen sozialen, institutionellen Ordnung zugewiesenen Positionen suspendiert (die Rancière die Polizeiordnung nennt) ...“ (Masschelein 2015, S.274)

Als Gleiche gehört auch die Erzieherin zu dieser Kommunion dazu, die sie gerade dadurch ermöglicht, daß sie eben nicht professionell an ihre ‚Aufgabe‘ herangeht, die Schüler um diesen Tisch zu versammeln, sondern als „Amateur“, als „eine Liebhaberin der Welt, die (freie) Zeit ‚machen‘ kann“. (Masschelein 2015, S.279) – Wirklich transdisziplinär sind eben nur diejenigen, die die Muße, die freie Zeit haben, die Welt und die Dinge in ihr zu lieben. Was übrigens schon Wilhelm von Humboldt gewußt hatte; denn nicht alle „Bildungsphilosophen“ haben dazu beigetragen, die „Geschichte der Schule“ als „Zweckbindung und Zähmung von ‚freier Zeit‘ oder Muße“ zu betreiben. (Vgl. Masschelein 2015, S.274)

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Freitag, 18. September 2015

Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015

(Waxmann, 280 S., br., 34,90 €)

Serjoscha P. Ostermeyer: Aufgabe, Dialog, Transdisziplinarität: Tätige Wissenschaft, S.9-22

Es ist ein seltsames Gefühl, in diesem Blog ein Buch zu besprechen, in dem sich ein Beitrag von mir selbst befindet. Ich hatte im September 2013 an einer Tagung zum „Dialog der Wissenschaften“ in Magdeburg teilgenommen, und der von Serjoscha P. Ostermeyer und Stina-Katharina Krüger herausgegebene Tagungsband „Aufgabenorientierte Wissenschaft“ (2015) ist jetzt gerade erschienen. Ich möchte in der Folge einige Beiträge dieses Buches besprechen, die in besonderer Weise für das und quer zum grundlegende/n Konzept der mit dem Studiengang „Cultural Engineering“ verbundenen Tagung stehen, und ich beginne mit der Einleitung von Serjoscha P. Ostermeyer: „Aufgabe, Dialog, Transdisziplinarität: Tätige Wissenschaft“ (Ostermeyer 2015, S.9-22).

Ich hatte eine erste Gelegenheit, einen Blick auf Ostermeyers Einleitung zu werfen, als mir Ende Juni dieses Jahres die Korrekturfahnen meines Beitrags zugeschickt wurden. Es gab ein begrenztes Zeitfenster von zwei Wochen für die Korrekturen, und ich warf deshalb nur einen kurzen Blick auf die Einleitung, hauptsächlich um eventuelle Bemerkungen zu meinem Beitrag zu überprüfen. Erst jetzt, nach Erhalt meines Belegexemplars, nehme ich den Inhalt der Einleitung gründlicher zur Kenntnis. Deshalb ist meine Reaktion auf die Einleitung für den Autor vielleicht etwas verspätet, und dafür bitte ich ihn, falls er meine Besprechung lesen sollte, schon jetzt um Entschuldigung. Ostermeyers Einleitung gibt allen von ihm und Stina-Katharina Krüger herausgegebenen Texten, also auch meinem Beitrag, eine theoretische Rahmung, von der ich mich hier in einigen Aspekten distanzieren möchte.

Bevor ich auf Ostermeyers Einleitung zu sprechen komme, möchte ich vorweg eine Positionierung vornehmen. Es geht dabei um die Rolle, die Niklas Luhmanns Systemtheorie für die Geisteswissenschaften und hier insbesondere für die Erziehungswissenschaft spielt. Luhmanns Systemtheorie ist ein illegitimer Bankert der Husserlschen Phänomenologie. Alle seine systemtheoretischen Begriffe hat Luhmann letztlich von Husserl übernommen und für seine Zwecke umgeformt, wobei er die zentralen phänomenologischen Begriffe des Bewußtseins und der Lebenswelt durch die Begriffe des Systems, der Medien und der Umwelt ersetzt hat. Auch seine Methode, die doppelte Negation, die er als Reduktion und gleichzeitige Erhaltung von Komplexität definiert, spiegelt nur Husserls Meditationstechnik mit ihrem Ineinander aus Reduktion und Epoché.

Luhmanns Systemtheorie wurde und wird von vielen Erziehungswissenschaftlern als eine Möglichkeit begrüßt, den eigenen geisteswissenschaftlichen Hintergrund zu verleugnen und den immanenten pädagogischen Handlungsbezug zu kybernetisieren, entsprechend dem Friedrich Kittlerschen Aufruf zur Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Das geschieht insbesondere durch die Umdefinition des Menschen zum weltlosen psychischen System, das nur noch Umwelten hat.

Luhmann verstand erklärtermaßen seine Systemtheorie als eine Theorie von Maschinen und von biologischen Organismen. Dementsprechend soll die Systemtheorie beschreiben, wie die verschiedenen Kommunikationsmedien wie Wahrheit, Geld, Macht und Liebe die Gesellschaft im Sinne einer Kybernetik ‚steuern‘. Der Steuerungsaspekt ist ja auch im Begriff des „Cultural Engineering“ angesprochen, einem Studiengang der Universität Magdeburg, aus dem die Tagung hervorgegangen ist, an der ich teilgenommen hatte. Was und wie auch immer ‚kulturell‘ ‚gesteuert‘ werden soll: der Begriff beinhaltet eine maschinenförmige Vorstellung vom Menschen, sofern hierbei überhaupt noch vom Menschen die Rede sein soll. Engineering ist ein Begriff, der im Trend eines Diskurses liegt, bei dem es darum geht, wie man die Probleme einer – um im Bild des Kybernators zu bleiben – aus dem Ruder laufenden Welt in den Griff bekommen und die Welt wieder auf Kurs bringen kann. Dazu gehört auch der verhängnisvolle Begriff des Geo-Engineering.

Luhmann nimmt in Ostermeyers Einleitung einen umfänglichen Raum ein, umfänglicher als die anderen von Ostermeyer erwähnten Bezugsgrößen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.9 und S.12) In dem sehr dicht geschriebenen Text reiht Ostermeyer diese konträren Perspektiven hintereinander und wechselt dabei von der Handlungstheorie zur Systemtheorie, ohne dabei die auftretenden Widersprüche in den verwendeten Begriffen zu erörtern. Letztlich ergänzt er auf diese Weise den von Luhmann vorgenommenen Prozeß der Enteignung phänomenologischer Verfahren und Erkenntnisse durch eine weitere systemtheoretische Enteignung der Handlungstheorie. Ostermeyer ist sich dessen zumindestens vage bewußt, wenn er etwa an einer Stelle von einer „Umstellung von Handlungstheorie auf Systemtheorie mit ihrer System/Umwelt-Differenz“ spricht. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.12)

Daß Ostermeyers handlungstheoretische Erörterungen letztlich auf eine solche, durch handlungstheoretische Einsichten angereicherte Systemtheorie hinauslaufen, wird insbesondere an seiner Differenzierung zwischen „Aufgaben“ und „Problemen“ deutlich. Den Begriff der Aufgabe ordnet Ostermeyer zunächst der Handlungstheorie zu: „Der Ausdruck Aufgabe im Titel dieser Einleitung wird im Anschluss an Hannah Arendts Vita Activa und der Ausarbeitung als Bildungstheorie von Renate Girmes verwendet. An dieses aktive Leben knüpft auch die Aufgabenorientierte Wissenschaft an.()“ (Ostermeyer 2015, S.9)

Bei dem Begriff des Problems bleibt es zunächst unklar, welche spezifisch wissenschaftliche Position damit gemeint sein könnte. Zunächst scheint Ostermeyer damit eine eher allgemein verbreitete Einstellung bzw. ‚Haltung‘ in der Wissenschaft und in der Gesellschaft anzusprechen. An späterer Stelle deutet sich aber an, daß Ostermeyer den Problembegriff der Systemtheorie zuordnet. Wenn er etwa an einer Stelle die handlungstheoretische Dreiergruppe „Aufgabe, Lücke und Vorstellung“ mit „Lösung, Problem und Problembezug“ parallelisiert, erweckt er den Eindruck, daß die zweite Dreiergruppe zum spezifisch systemtheoretischen „Vokabular“ gehört. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11)

Zu Beginn seiner Einleitung beschreibt Ostermeyer das aus dem Studiengang „Cultural Engineering“ hervorgegangene Konzept der Tagung zum „Dialog der Wissenschaften“ als „tätige Wissenschaft“, die sich den drängenden Aufgaben der Menschheit stellt. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.9) Ostermeyer zufolge „kreisen“ die Beiträge der Tagung (und somit auch des vorliegenden Tagungsbandes) „um die Frage, welche Form solche gemeinsamen Aufgaben annehmen können“. (Vgl. ebenda) Und weiter: „Eine gemeinsame tätige Wissenschaft benötigt, so der Tenor der Beiträge, einen vermittelnden Takt für die Verständigung, etwas das sie versammelt.“ (Ostermeyer 2015, S.9)

Mir gefällt der Gedanke, daß sich die Wissenschaftler um etwas „versammeln“. Das erinnert an buddhistische Meditationstechniken und verleiht dem wissenschaftlichen Dialog, um den es bei dieser Tagung gehen sollte, eine Bewußtheit und eine Achtsamkeit, die nichts mit dem üblichen Wissenschaftsbetrieb gemein haben. In diesem Zusammenhang spricht Ostermeyer von einer „transdisziplinäre(n) Wissenschaftskommunikation im Anschluss an eine Aufgabentheorie“. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.9) Auch ich würde für diesem Zusammenhang das Wort „Transdisziplinarität“ in Anspruch nehmen, um damit die Verantwortung des Wissenschaftlers nicht nur im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses, sondern über diesen hinaus im Sinne einer „Haltung“ jedes „einzelnen Forschers“ als Verantwortung für die Gesellschaft und für die Zukunft des Menschen hervorzuheben. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11) Darauf werde ich am Schluß dieses Posts noch mal zurückkommen.

Wir hätten es dann eben nicht nur mit einer Versammlung im Sinne einer gemeinsamen Tagung zu tun, sondern eben auch mit einer inneren Sammlung, aus der eine „Tätigkeit in der Welt“ (Ostermeyer 2015, S.9) hervorgeht, die die disziplinären Grenzen und die Grenzen des wissenschaftlichen Betriebs überschreitet: „Nimmt man den Aufgabenbezug ernst, dann binden sich Aufgaben zugleich auch immer an die politische Frage des guten Lebens, und nur über eine Antwort gesellschaftlich relevanter Aufgaben erlangt aufgabenorientierte Wissenschaft zu Angemessenheit. ... Aufgabenorientierte Wissenschaft stellt die Forscher in die Verantwortung ihrer Forschung.“ (Ostermeyer 2015, S.11)

Der Unterschied zwischen einer Aufgabenorientierung und einer Problemorientierung besteht nun Ostermeyer zufolge darin, daß Probleme nur „negativ“ seien (vgl. Ostermeyer 2015, S.10) und so etwas wie einen „double bind“ bewirken: „Wenn wir überall Probleme sehen, dann produzieren wir das Problem, dass wir überall Probleme sehen und nicht mehr konstruktiv offen an Sachverhalte herangehen ... .“ (Ostermeyer 2015, S.10) – Darüberhinaus verhindert die Problemorientierung, daß die anstehenden Probleme der Menschheit von Grund auf gelöst werden können, denn sie führt zu „partiellen, fragmentierten Problemlösungen“, aus denen immer nur neue „Folgeprobleme“ hervorgehen. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.10)

Die Orientierung an Aufgaben anstatt an Problemen richtet sich hingegen auf die „Ermöglichung von Etwas“ (vgl. Ostermeyer 2015, S.10). Probleme thematisieren demnach nur „negativ“, was gerade nicht geht. (Vgl. ebenda) Woher Ostermeyer aber seine Gewißheit nimmt, daß diese Aufgabenorientiertheit nicht genauso zu partiellen und fragmentierten Lösungsansätzen führt, wie die von ihm angeprangerte Problemorientierung, bleibt unklar. Die anthropologische Frage, inwiefern das Partielle und Fragmentierte ein grundlegendes Moment der menschlichen Verfassung bildet, stellt sich ihm nicht.

Auf der nächsten Seite überrascht Ostermeyer den Leser dann mit der schon erwähnten handlungs- und systemtheoretischen Zusammenstellung der beiden, den Begriffsfeldern von ‚Aufgabe‘ und ‚Problem‘ zugeordneten Dreiergruppen. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11). Der Übergang zu dieser nicht mehr konträren, sondern parallelisierenden Diskussion des Aufgaben- und Problembegriffs besteht lediglich in einer kurzen Erörterung darüber, daß der (handlungstheoretische?) „Problembezug“ „nicht von Problemen ausgehen“ und daß er nicht „wertend eine Lösung postulieren“ dürfe. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11) Das macht den Leser gleich in zweierlei Hinsicht ratlos: wie soll es einen Problembezug geben ohne Bezug auf ein Problem? Und: kann es denn wertfreie Lösungsansätze überhaupt geben?

Ich frage mich, was dieses begriffliche Hin und Her eigentlich soll. Der eigentliche Zweck dieses ganzen Unternehmens scheint im Versuch einer „Umstellung von Handlungstheorie auf Systemtheorie“ (Ostermeyer 2015, S.12) zu bestehen. Das zeigt sich gleich am Anfang, an einer Stelle, die noch im Zusammenhang einer primär handlungstheoretischen Bestimmung des Begriffs der Aufgabe zu stehen scheint: „Aufgaben gehen von einer Lücke der weltlichen Phänomene im Verhältnis zu einem Beobachter aus ... .“ (Ostermeyer 2015, S.10)

Schon an dieser Stelle wird der Begriff der Aufgabe keinem Handlungssubjekt, sondern einem Beobachter zugeordnet. Der Begriff der „Lücke“ scheint zunächst der exzentrischen Positionalität (Plessner) nahezustehen. Aber während für den von Plessner beschriebenen exzentrisch positionierten Menschen die „weltlichen Phänomene“ immer einen Doppelaspekt im Bezug auf diesen Menschen selbst beinhalten, insofern dieser sich mal ihnen gegenüber, mal mitten unter ihnen befindet (Zentrum und Peripherie), bilden dieselben Phänomene für den Luhmannschen Beobachter nur ‚Umwelten‘, mit denen er niemals die Rollen tauschen kann. Der Beobachter wird immer nur ein Beobachter von Umwelten sein und dabei sich selbst niemals zur ‚Umwelt‘, sprich: zum Phänomen werden können.

Die Aufgabenorientierung verliert also schon an dieser Stelle ihren handlungstheoretischen Sinn und wird so zu einer systemtheoretischen Größe. Der von Hannah Arendt hergeleitete handlungstheoretische Begriff der Aufgabe (vgl. Ostermeyer 2015, S.9) wird systemtheoretisch ‚beerbt‘ (vgl. Ostermeyer 2015, S.11). – Ostermeyers vorangegangene Differenzierung zwischen ‚Aufgaben‘ und ‚Problemen‘ läuft also letztlich auf ein insgesamt systemtheoretisches, auf Handlungssubjekte verzichtendes Konzept von Aufgaben und Problemen hinaus: Luhmann for ever.

So verschwindet auch die Differenz zwischen Phänomenen und Umwelten. Ostermeyer bezeichnet „Phänomene“ als „stabile Bezugsgrößen“ und setzt davon die „Praxen“ und das „Bewußtsein“, also die Lebenswelt, ab. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11) Diese Verdinglichung und Trennung des Phänomenbegriffs vom Bewußtsein ist phänomenologisch nicht zu rechtfertigen. Wir haben es mit einer gleichermaßen konstruktivistischen wie systemtheoretischen Umwandlung des Phänomenbegriffs zu tun. Ostermeyer weist dem Beobachter die Funktion zu, im vorhinein „Bezüge“ auf die jeweiligen, von ihm beobachteten Phänomene festzulegen. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.11) Phänomene zeigen sich aber nicht in dieser Weise. Sie müssen weder zuvor zugerichtet noch konstruiert werden, um sich zu geben.

Phänomene werden nicht von Beobachtern konstruiert, sie bilden keine Momente strukturalistischer Modellierungen, sondern sie sind einem jeweiligen subjektiven Bewußtsein gegeben. Daher der Begriff der ‚Gabe‘: die Phänomene geben sich; wir finden sie in unserer Wahrnehmung und in unserem Erleben vor, weil sie uns widerfahren, und nicht, weil wir sie gemacht haben. Zugleich aber geben sich die Phänomene uns nicht auf eine einverständige, sondern auf eine widerständige Weise. Von diesem weltkonstitutiven Widerstand kommt der Begriff der ‚Aufgabe‘. Aus Gabe und Aufgabe ergibt sich uns ein Bewußtsein von der Welt und von uns selbst.

In diesem Zusammenhang macht der Begriff der ‚Lücke‘ Sinn: Phänomene sind gleichermaßen bewußtseinskonstitutiv – ohne Phänomene kein Bewußtsein – wie vom Bewußtsein verschieden und in diesem Sinne weltkonstitutiv. Aus dieser Verschiedenheit und aus dieser ‚Lücke‘ heraus, dem Plessnerschen Hiatus, positionieren wir uns exzentrisch zur Welt und zu uns selbst. Phänomene sind also alles andere als „stabile Bezugsgrößen“. Aus der „Lücke“, wie sie Ostermeyer im Verhältnis von „weltlichen Phänomene(n)“ „zu einem Beobachter“ verortet (vgl. Ostermeyer 2015, S.10), geht hingegen keine Exzentrik hervor; denn der Luhmannsche Beobachter bleibt der von ihm beobachteten Umwelt wie sich selbst gegenüber gleichermaßen äußerlich.

Mein Haupteinwand gegen die theoretische Rahmung der in dem Tagungsband zum „Dialog der Wissenschaften“ versammelten Beiträge betrifft also die Vermengung von Handlungstheorie und Systemtheorie. Aber ich habe auch einen Einwand gegen Ostermeyers Verwendung des Begriffs der Transdisziplinarität. Ich hatte schon weiter oben den Versammlungsgedanken hervorgehoben, im Sinne einer Achtsamkeitshaltung der Wissenschaftler, die sich der Verantwortung ihrer Forschung stellen. Die Verantwortung wäre aber gerade dann wirklich trans-disziplinär, wenn sich die Wissenschaftler nicht nur über die Grenzen ihrer jeweiligen Disziplinen hinaus untereinander verständigen, sondern wenn sie auch die Grenzen des Wissenschaftsbetriebs überschreiten, sich der Lebenswelt zuwenden und der Kritik der Amateure und Laien stellen. Dafür steht u.a. der Begriff der Bürgerwissenschaft bzw. der citizen-science. Und wir sollten uns hüten, dabei nur an billige und bequeme Hilfstruppen des universitären Wissenschaftsbetriebs zu denken.

Aber es ist wohl gerade die durchgehende systemtheoretische Perspektive, die Ostermeyer daran hindert, die System-Umwelt-Konstellation – die Wissenschaft bildet ja selbst ein institutionelles System – transdisziplinär zu überwinden. So hält Ostermeyer ausdrücklich an der wissenschaftlichen Systemperspektive fest, wenn er schreibt, daß es bei der transdisziplinären Versammlung im Rahmen des Dialogs der Wissenschaften um „Professionalisierung im Spannungsfeld übergreifender Verständigung und fachdisziplinärer Perspektiven“ gehe. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.9) Deutlicher kann man nicht machen, daß der Laie hier nichts zu suchen hat.

Würde die Bürgerwissenschaft in Ostermeyers Verständnis von Transdisziplinarität eine Rolle spielen, müßte er auch nicht an einer Stelle unvermittelt und im Widerspruch zu allen seinen vorangegangenen Äußerungen davor warnen, die Forschung „transdisziplinär auszurichten“. (Vgl. Ostermeyer 2015, S.14) Denn nur einer um sich selbst ‚kreisenden‘ – an einer anderen Stelle spricht Ostermeyer bezeichnenderweise vom „funktionalistischen Zirkel“ (vgl. Ostermeyer 2015, S.11) –, sich von der Lebenswelt abkapselnden Wissenschaftlichkeit könnte durch ‚Transdisziplinarität‘ die Gefahr drohen, eine, wie Ostermeyer sich ausdrückt, „Metadisziplin“ auszubilden.

Eine solche Metadisziplin zu sein behauptet übrigens die Systemtheorie von sich selbst. Aber obwohl Luhmann für seine Systemtheorie eine universelle Allzuständigkeit in Anspruch nimmt, eröffnet sie keinen spezifisch transdisziplinären Horizont.

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Samstag, 12. September 2015

Bewußtsein & Gehirn

Immer wieder gibt es dieses elendige Gezerre zwischen Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern, bei dem beide Seiten aneinander vorbeireden, weil sie den fundamentalen methodischen Unterschied zwischen ihren Disziplinbereichen übersehen. (Vgl. meinen Post vom 20.12.2014) Geisteswissenschaftler haben es mit Texten zu tun, die interpretiert werden müssen. Ihr Wahrheitsanspruch beruht immer nur auf Plausibilität. Plausibilität bedeutet aber, daß ein bestimmter hermeneutischer Ansatz niemals auf Dauer als widerlegt angesehen werden kann. In den Naturwissenschaften hingegen gilt das Falsifikationsprinzip: Nur die Theorien können als wahrheitsfähig akzeptiert werden, die auch falsifizierbar sind. Geisteswissenschaftliche Erklärungsansätze sind in diesem Sinne niemals endgültig widerlegbar.

Anstatt aber den Finger auf diesen Knackpunkt zu legen und hier den interdisziplinären Diskurs zu beginnen, geben viele Geisteswissenschaftler schon im Vorfeld des auszutragenden Streites klein bei und akzeptieren den naturwissenschaftlichen Anspruch auf Falsifizierbarkeit. Wenn sie aber dennoch auf dem „humanistischen Kern unserer Lebenswelt“ beharren wollen, wie der Philosoph Nida-Rümelin in einem von der „Frankfurter Rundschau“ veranstalteten Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Wolf Singer, ergibt sich daraus ein unfruchtbares Gezerre, bei dem sich beide letztlich als erstaunlich einig darin zeigen, daß Bewußtseinsprozesse auf neuronale Prozesse zurückzuführen seien. (Vgl. „Gehirnforscher sind doch keine Unmenschen“) Damit gerät aber die Frage, worin sich Bewußtseinsprozesse eigentlich von neuronalen Ereignissen unterscheiden, aus dem Blick.

Beide, Nida-Rümelin und Singer, verknüpfen Bewußtseinsprozesse unmittelbar mit den neuronalen Ereignissen: „JNR: Selbstverständlich äußert sich das Abwägen in neuronalen Prozessen.“ – Das einzige, worin sie sich uneinig sind, ist der kausale Ablauf: Beeinflussen Bewußtseinsprozesse die neuronalen Ereignisse oder beeinflussen neuronale Ereignisse die Bewußtseinprozesse? Dieses Hin und Her ist ermüdend und verwirrend und bringt keinen Schritt weiter.

Das Bewußtsein ist nicht einfach etwas Kausales, mal Ursache, mal Wirkung von neuronalen Ereignissen, je nach dem, welchen Standpunkt wir einnehmen. Und das Gehirn mit allen seinen neuronalen Prozessen bildet kein eins-zu-eins-Korrelat des Bewußtseins. Schon allein die Tatsache, daß viele Bewußtseinsphänomene auf neuronaler Ebene auf multiple Weise realisiert werden (Neuro-Plastizität) spricht gegen eine solche Korrelation. Auch daß Menschen mit Hydrocephalus (Wasserkopf) mit u.U. bloß 5 Prozent Gehirnmasse ein normales Leben führen können, sollte sogar einen knochenharten Naturalisten doch irgendwie nachdenklich machen. (Vgl. meinen Post vom 06.06.2013)

Das Bewußtsein ist also offensichtlich etwas anderes als das Gehirn. An einer Stelle in dem Streitgespräch spricht Singer vom „Organismus“, von der „Gesamtheit von Körper und Nervensystem“. – Das klingt fast schon wie Plessner, ist aber als Aussage leider völlig irrelevant, weil Singer gleich wieder alles auf neuronale Ereignisse reduziert.

Das Bewußtsein ist aber genau dieses Gesamt von Körper und Nervensystem, der Körperleib, weil wir hier nämlich die Grenze bzw. den Hiatus haben, aus der bzw. aus dem das Bewußtsein hervorgeht. Der Mensch scheitert als Körperleib an der Durchsetzung seiner Bedürfnisse, weil die Welt ihm Widerstand leistet. Erst jetzt wird er sich seiner selbst bewußt und positioniert sich exzentrisch zur Welt und zu sich selbst. Das Bewußtsein geht also aus einer Erfahrung hervor und nicht aus spezifischen neuronalen Ereignissen, und vermutlich auch noch nicht mal aus der Totalität neuronaler Ereignisse eines vollständigen Gehirns. Das impliziert, daß es Menschen mit einem vollständigen Gehirn, aber weitgehend ohne Bewußtsein gibt (vgl. meinen Post vom 01.06.2015), wie es andererseits auch möglich ist, ohne vollständiges Gehirn über Bewußtsein zu verfügen.

Wenn wir das Bewußtsein unmittelbar mit den neuronalen Prozessen zusammendenken, gleichgültig in welche Richtung die Kausalität geht, fokussieren wir eine ‚Innenwelt‘, der der Bezug zur Außenwelt fehlt. Die Differenz, aus der das Bewußtsein hervorgeht, wird irrelevant. Mein hauptsächlicher Einwand gegen eine mit Bewußtsein ausgestattete künstliche Intelligenz besteht darin, daß diese künstliche Intelligenz über keinen Körperleib verfügt und deshalb nicht zwischen Innen und Außen unterscheiden kann. Künstliche Intelligenz kann nur Informationen verarbeiten, und Informationen sind immer Informationen, ohne Unterschied, ob sie wahr oder falsch sind und ob sie real oder fiktiv sind. Diesen Unterschied kann nur ein mit subjektivem Bewußtsein ausgestattetes Lebewesen machen.

Ein Gehirn, das von der Außenwelt abgetrennt in einer künstlichen Nährlösung vor sich hinvegetieren würde, wäre kein Gehirn mehr, und es hätte ganz gewiß auch kein Bewußtsein.

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