„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 25. Juni 2015

Papst Franziskus, Die Enzyklika „LAUDATO SI’“ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015

(Herder, karton. 14,99 €, 268 S.)

1. Adresse: Wer gemeint ist
2. Technokratisches Paradigma
3. Transdisziplinarität
4. Körperleib und Positionalität
5. Wortfeld der Gabe

Die verschiedenen gesellschaftlichen Konzepte, die in unserer Generation zur Entscheidung anstehen, gruppieren sich im Wesentlichen um zwei Wortfelder: um das Wortfeld der „Rendite“, wie es Franziskus nennt, bzw. des Profits und um das Wortfeld der Gabe. Das Wortfeld der Gabe wurde insbesondere von dem Ethnologen Marcel Mauss (1872-1950) untersucht. In der Enzyklika von Franziskus umfaßt es die religiöse und spirituelle Dimension eines Zukunftsbezugs, der an die Stelle der bisherigen nur an kurzfristigen Gewinnen orientierten Wirtschaftsform treten soll.

Von ‚Rendite‘ und ‚Profit‘ ist immer auch gerne im Zusammenhang von Verantwortung für die Zukunft und für die Sicherung des Wohlstands der nachfolgenden Generationen die Rede. Als Zerrbild einer solchen Zukunftsvorsorge wird dann immer auf die drohende Arbeitslosigkeit mit allen ihren Folgen für den sozialen Zusammenhang einer Gesellschaft oder auf die Finanzierbarkeit der Renten verwiesen. Daß aber die Arbeitslosigkeit gerade auch wegen eines technologisch abgesicherten permanenten Wirtschaftswachstums letztlich unvermeidbar ist, deutet Franziskus dort an, wo er sich um den „Wert der Arbeit“ (Laudato si’, S.133) sorgt: „Man darf nicht danach trachten, dass der technologische Fortschritt immer mehr die menschliche Arbeit verdränge, womit die Menschheit sich selbst schädigen würde. Die Arbeit ist eine Notwendigkeit, sie ist Teil des Sinns des Lebens auf dieser Erde, Weg der Reifung, der menschlichen Entwicklung und der persönlichen Verwirklichung.“ (Laudato si’, S.137)

Technologisch läuft alles auf eine Abschaffung der Arbeit, wie wir sie bisher kannten, hinaus. Umso dringender ist es also, sich grundlegend neu über den Sinn der Arbeit zu verständigen. Es bleibt sonst nur eine Alternative, die uns Christina von Braun in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012) vor Augen hält: das Geld, das sich seinen Wert nicht mehr über die menschliche Arbeitsleistung errechnen kann, weil diese weitgehend durch Roboter ersetzt werden wird, wird ihn sich durch eine zunehmende Zahl von Opfern beglaubigen lassen, denen es den Zugang zum technologisch ermöglichten Wohlstand verwehrt. (Vgl. meinen Post vom 15.12.2012) Was das bedeutet, können wir aktuell an den Bankautomaten in Griechenland beobachten.

Aber das fortgesetzte Wirtschaftswachstum schafft nicht nur die Arbeit ab, – und ineins damit die ökonomische Grundlage der Profitbildung. Es beinhaltet auch eine „ständige Beschleunigung“ (Laudato si’, S.31) der menschlichen Lebensrhythmen: „Innerhalb des Schemas der Rendite ist kein Platz für Gedanken an die Rhythmen der Natur, an ihre Zeiten des Verfalls und der Regenerierung und an die Kompliziertheit der Ökosysteme, die durch das menschliche Eingreifen gravierend verändert werden können.“ (Laudato si’, S.195)

Um dem damit einhergehenden Raubbau an menschlichen und natürlichen Ressourcen etwas entgegenzusetzen, haben Umweltschützer den Begriff der „Nachhaltigkeit“ aus der Forstwirtschaft übernommen. In der Forstwirtschaft war es darum gegangen, ein Gleichgewicht zwischen dem Ressourcenverbrauch, also dem Holzbedarf der Prä-Kohle-Ära, und dem Erhalt und der Pflege des vorhandenen Waldbestands herzustellen. Dieses Gleichgewicht wurde als „Nachhaltigkeit“ bezeichnet. Aber die rendite-orientierten Apologeten von ‚Wachstum gleich Wohlstand‘ übernahmen dreisterweise diesen Begriff und sprechen nun nicht etwa von einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, sondern von einem nachhaltigen Wachstum! – Kein Wachstum, egal auf welche Weise wir es auch immer etikettieren mögen, wird aber jemals so etwas wie ein Gleichgewicht ermöglichen!

An dieser Stelle bringt Franziskus den Sachverhalt erfreulich klar auf den Punkt: „In diesem Rahmen pflegt sich die Rede vom nachhaltigen Wachstum in eine ablenkende und rechtfertigende Gegenrede zu verwandeln, die Werte der ökologischen Überlegung in Anspruch nimmt und in die Logik des Finanzwesens und der Technokratie eingliedert, und die soziale wie umweltbezogene Verantwortlichkeit der Unternehmen wird dann gewöhnlich auf eine Reihe von Aktionen zur Verbraucherforschung und Image-Pflege reduziert.“ (Laudato si’, S.199)

Wir dürfen uns deshalb von der Vermischung der Wortfelder, von ‚Profit‘ und ‚Gabe‘, nicht irre machen lassen. Wer immer behauptet, das eine mit dem anderen verbinden zu können, versucht nur sein Interesse am ungebremsten ‚Weiter so‘ zu camouflieren.

Mit ‚Gabe‘ ist eine nicht an Profit orientierte Form des Umgangs des Menschen mit sich und mit seiner natürlichen Umwelt gemeint. Dieser Umgang basiert auf der Einsicht, daß wir die Güter, die uns am Leben erhalten, einschließlich unser Leben selbst, nicht ‚gemacht‘ haben, sondern sie wurden uns ‚gegeben‘. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) meinte wohl so etwas, als er die Religion als das Bewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit beschrieb. Dieses Bewußtsein kann man tatsächlich auch als Gottesverhältnis auslegen: „Die Zerstörung der menschlichen Umwelt ist etwas sehr Ernstes, denn Gott vertraute dem Menschen nicht nur die Welt an, sondern sein Leben selbst ist ein Geschenk, das vor verschiedenen Formen des Niedergangs geschützt werden muss.“ (Laudato si’, S.18)

Diese Vorstellung von ‚Gütern‘, die keine ‚Waren‘ sind, liegt auch der Vorstellung eines Umgangs mit ihnen (und mit den Menschen) zugrunde, der auf einer Solidarität beruht, die keine Gegenleistung erwartet. Ein solches Umgangsverhältnis bestimmt auch das Generationenverhältnis, und zwar insbesondere im Sinne einer Verantwortung der aktuellen Generationen für die Zukunft der noch ungeborenen Generationen: „Ohne eine Solidarität zwischen den Generationen kann von nachhaltiger Entwicklung keine Rede mehr sein. Wenn wir an die Situation denken, in der der Planet den kommenden Generationen hinterlassen wird, treten wir in eine andere Logik ein, in die des freien Geschenks, das wir empfangen und weitergeben.“ (Laudato si’, S.167)

In Bezug auf die noch ungeborenen Generationen kann für uns heute Lebenden natürlich von keiner Gegenleistung die Rede sein. Wir persönlich haben in dieser Hinsicht nichts davon, wenn wir unseren Lebensstil ändern, abgesehen vom Gedanken des „innere(n) Friede(ns)“, den wir möglicherweise finden können, wenn wir unsere eigenen, oftmals nur eingebildeten und durch Konsum und Werbung suggerierten Bedürfnisse beschränken. (Vgl. Laudato si’, S.227)

Auch hier geht es letztlich um die Entscheidung jedes Einzelnen, unabhängig von einer entsprechenden staatlichen Gesetzgebung und von internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz. Sich durch den Gedanken einer Gabe, der Unverfügbarkeit des Lebens auf diesem Planeten, in der eigenen Bedürfnisorientierung einschränken zu lassen, hat tatsächlich etwas zutiefst Religiöses, gleichgültig ob wir diesen Gedanken mit einem Gottesverhältnis verbinden oder nicht.

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Mittwoch, 24. Juni 2015

Papst Franziskus, Die Enzyklika „LAUDATO SI’“ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015

(Herder, karton. 14,99 €, 268 S.)

1. Adresse: Wer gemeint ist
2. Technokratisches Paradigma
3. Transdisziplinarität
4. Körperleib und Positionalität
5. Wortfeld der Gabe

Wenn Franziskus in seiner Enzyklika dem technokratischen Paradigma vorwirft, „dem Menschen jeglichen besonderen Wert abzusprechen“ (Laudato si’, S.128) und überhaupt den „Eigenwert“ der planetaren Ressourcen zu ignorieren (vgl. Laudato si’, S.30, 45, 80f., 128, 211), muß die Lösung des Problems in einer neuen „Kultur der Achtsamkeit“ liegen (vgl. Laudato si’, S.232). Dazu wiederum bedarf es eines „neuen Menschen“. (Vgl. Laudato si’, S.128) Um die Kontur dieses neuen Menschen sichtbar zu machen, bedarf es einer „angemessene(n) Anthropologie“. (Vgl. ebenda) Und um diesen neuen Menschen möglich zu machen, bedarf es einer Erziehung zur Ästhetik und Spiritualität. (Vgl. Laudato si’, S.212-218)

Was den letzten Punkt betrifft, so ergibt sich der ästhetische und spirituelle Schwerpunkt dieser „Umwelterziehung“ aus der erwähnten Notwendigkeit der Achtsamkeit gegenüber dem über eine bloße Profitorientierung hinausgehenden Eigenwert der Schöpfung: „Auf die Schönheit zu achten und sie zu lieben hilft uns, aus dem utilitaristischen Pragmatismus herauszukommen. Wenn jemand nicht lernt innezuhalten, um das Schöne wahrzunehmen und zu würdigen, ist es nicht verwunderlich, dass sich für ihn alles in einen Gegenstand verwandelt, den er gebrauchen oder skrupellos missbrauchen kann.“ (Laudato si’, S.218)

Zur ästhetischen Sensibilisierung des Menschen muß Franziskus zufolge noch eine spiritelle Motivation hinzukommen, „(d)enn es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine ‚Mystik‘, die uns beseelt, ohne ‚innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen‘.“ (Vgl. Laudato si’, S.219)

Franziskus umreißt hier eine Erziehungs- und Entwicklungsperspektive auf einen neuen Menschen hin, die, wie ich finde, dem Problemzusammenhang durchaus entspricht. Aber das damit verbundene anthropologische Konzept überzeugt mich weniger. Dabei geht es um fundamentale Fragen, die mit Begriffen wie ‚Freiheit‘ und ‚Verantwortung‘ zusammenhängen. Schon daß Franziskus dem technokratischen Paradigma einen „fehlgeleitete(n) Anthropozentrismus“ (Laudato si’, S.131) vorwirft, zeigt eine gewisse begriffliche Oberflächlichkeit in seiner Argumentation. Insbesondere die Naturwissenschaftler halten sich etwas darauf zugute, nicht nur auf die Hypothese ‚Gott‘, sondern auch auf die Hypothese ‚Mensch‘ verzichten zu können. Wo aber der Mensch nicht mehr im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit steht, kann man wohl kaum von einem Anthropozentrismus und auch nicht von einem ‚fehlgeleiteten‘ Anthropozentrismus sprechen.

Franziskus scheint es letztlich vor allem darum zu gehen, seine eigene katholische Perspektive auf den Menschen dadurch aufzuwerten, daß sie, angeblich im Unterschied zur modernen Wissenschaft, eben nicht anthropozentrisch ist. Das zeigt sich auch in seiner Distanzierung gegenüber einer Romantik der Naturverherrlichung, die er als einen „als ökologische Schönheit getarnte(n) romantische(n) Individualismus“ und als ein „stickiges Eingeschlossensein in der Immanenz“ beschreibt. (Vgl. Laudato si’, S.130)

Sowohl ‚Freiheit‘ wie auch ‚Verantwortung‘ des Menschen werden Franziskus zufolge erst durch eine außerweltliche Positionierung des Menschen möglich. Das Zentrum seines Handelns soll nicht in ihm selbst bzw. in seiner Weltlichkeit begründet sein, sondern in seinem Gottesverhältnis: „Wenn der Mensch sich selbst ins Zentrum stellt, gibt er am Ende seinen durch die Umstände bedingten Vorteilen absoluten Vorrang, und alles Übrige wird relativ.“ (Laudato si’, S.131)

Aber die Distanzierung zur ‚Romantik‘ ist wohlfeil. Alles was angeblich irrational ist, wird immer wieder gerne als Romantik denunziert. Gerade Franziskus müßte etwas sensibler für die Tatsache sein, daß auch die Romantik durch eine eigene, ernstzunehmende Spiritualität geprägt ist. Sich davon zu distanzieren, schadet dem eigenen Anspruch darauf, Spiritualität als ein notwendiges Moment des neuen Menschen in Betracht zu ziehen.

Letztlich beinhaltet seine eigene ‚Anthropologie‘ einen theologisch verbrämten Anthropozentrismus, denn jedes Gottesverhältnis ist immer allererst ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Überhaupt läßt sich kaum eine Anthropologie ohne ‚Anthropozentrismus‘ denken. Es kommt dabei vor allem auf die Art und Weise an, in der wir das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt bestimmen. Die Vorgaben, die Franziskus in dieser Hinsicht macht, weisen durchaus in die richtige Richtung. Es geht hier ganz wesentlich um Immanenz und Transzendenz des Menschen – oder mit Plessner: es geht um eine Verhältnisbestimmung des Menschen als Zentrum und Peripherie.

Plessner beschreibt das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen als ‚Körperleib‘. Auch Franziskus entwickelt in seiner Enzyklika eine entsprechende anthropologische Bestimmung des Menschen: „Auf dieser Linie muss man anerkennen, dass unser Körper uns in eine direkte Beziehung zu der Umwelt und den anderen Lebewesen stellt.“ (Laudato si’, S.163f.)

Franziskus gibt dieser körperleiblichen Bestimmung des Menschen sogar eine planetarische Perspektive: „Wir vergessen, dass wir selber Erde sind (vgl. Gen 2,7). Unser eigener Körper ist aus den Elementen des Planeten gebildet; seine Luft ist es, die uns den Atem gibt, und sein Wasser belebt und erquickt uns.“ (Laudato si’, S.16) – Diese bemerkenswerte körperleibliche Verbindung des Menschen mit seinem Planeten liefert ein gewichtiges spirituelles Argument gegen das Geoengineering, das in der Konsequenz auf die Verwandlung der Erde in einen Cyborg hinausläuft. Diese Textstelle gehört zu den wirklichen starken, beeindruckenden Argumenten der Enzyklika.

Aber zum Körperleib, wie ihn Plessner konzipiert, gehört eben auch seine exzentrische Positionalität, also die Gleichzeitigkeit von Zentrum und Peripherie, von in der Welt und der Welt gegenüber: „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ (Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 (1928), S.292)

Dieses ‚Ich‘ kennt keine Authentizität. Es ist von einem heillosen ‚Bruch‘ durchzogen, „so daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol.“ (Vgl. Plessner 1975/1928, S.298f.)

An dieser Stelle unterscheiden sich die Anthropologien von Franziskus und von Plessner. Was bei Plessner ein anthropologisches Fundamentum bildet, ist bei Franziskus lediglich die Folge eines Sündenfalls, der die „Beziehung“ des Menschen „zu Gott, zum Nächsten und zur Erde“ zerbrechen ließ: „Dieser Bruch ist die Sünde.“ (Laudato si’, S.77) – Aber, so Franziskus, dieser Bruch ist heilbar.

Anders als Plessner hält Franziskus Authentizität deshalb für möglich. Die Umwelterziehung soll nicht nur zu einer neuen Bedürfnislosigkeit (‚geistige Armut‘ im Sinn des Franziskus von Assisi) des Menschen beitragen, sondern das Ergebnis dieser Erziehung, der „neue Mensch“, soll durch einen „authentisch“ gelebten, „innere(n) Friede(n)“ gekennzeichnet sein. (Vgl. Laudato si’, S.227)

Das zeigt sich auch am christlichen Begriff des Bösen, der eigentlich eher eine Mythologie ist als ein Begriff. Da der Mensch von Gott geschaffen ist, muß er gut sein, und ‚das Böse‘ muß anderweitig verkörpert von außen in die Welt gekommen sein. Dem Menschen hingegen ist durch Gott von vornherein eine „notwendige Beziehung“ zu dem „moralischen Gesetz“ als „seine eigene Natur“ eingeschrieben. (Vgl. Laudato si’, S.163) Deshalb können sich die Menschen „für das Gute entscheiden und sich bessern, über alle geistigen und sozialen Konditionierungen hinweg“: „Diese Fähigkeit ist es ja, der Gott von der Tiefe des menschlichen Herzens aus fortwährend Antrieb verleiht.“ (Laudato si’, S.210)

Bei Plessner gibt es hingegen kein Böses als solches, sondern nur mehr oder weniger richtige und falsche Entscheidungen, die wir auf der Grundlage unserer körperleiblichen Situiertheit treffen müssen. Hier stellt sich die Frage, welche der beiden Anthropologien die Situation des Menschen auf seinem von ihm selbst bedrohten Planeten angemessener beschreibt. Spiritualität ermöglichen beide Konzepte. Sie ist nicht von einem Gott abhängig, denn sonst gäbe es keinen Buddhismus. Das ist allerdings eine Frage, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muß.

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Dienstag, 23. Juni 2015

Papst Franziskus, Die Enzyklika „LAUDATO SI’“ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015

(Herder, karton. 14,99 €, 268 S.)

1. Adresse: Wer gemeint ist
2. Technokratisches Paradigma
3. Transdisziplinarität
4. Körperleib und Positionalität
5. Wortfeld der Gabe

Die Menschheit hat sich weit von ihrem ursprünglichen Naturverhältnis entfernt, das Franziskus zufolge darin bestanden hatte „zu empfangen, was die Wirklichkeit der Natur von sich aus anbietet, gleichsam die Hand reichend“. (Vgl. Laudato si’, S.116) Ein solches Naturverhältnis beinhaltet eine vorwiegend phänomenologische Einstellung zur Wirklichkeit. Von dieser Einstellung ist auch in der gegenwärtigen, auf Technologie ausgerichteten Wissenschaft nichts mehr zu finden: „Jetzt hingegen ist das Interesse darauf ausgerichtet, alles, was irgend möglich ist, aus den Dingen zu gewinnen durch den Eingriff des Menschen, der dazu neigt, die Wirklichkeit dessen, was er vor sich hat, zu ignorieren oder zu vergessen.“ (Ebenda)

Wir brauchen deshalb einen „neuen Menschen“ (Laudato si’, S.128) und eine neue Wissenschaft, eine Wissenschaft, die diesem neuen Menschen und seiner Verantwortung gerecht wird und nicht innerdisziplinär auf eine vermeintliche  Unabhängigkeit der Forschung pocht, die es längst nicht mehr gibt, oder die interdisziplinär auf technologische Großprojekte, vom human genom bis zum human brain, fixiert ist. Es muß vielmehr ein neues, transdisziplinär ausgerichtetes Bündnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften geben: „Eine Wissenschaft, die angeblich Lösungen für die großen Belange anbietet, müsste notwendigerweise alles aufgreifen, was die Erkenntnis in anderen Wissensbereichen hervorgebracht hat, einschließlich der Philosophie und der Sozialethik.“ (Laudato si’, S.121)

Transdisziplinär nenne ich dieses neue, von Franziskus angesprochene Wissenschaftsverständnis, weil diese Wissenschaft über ihre disziplinären Grenzen einer „wissenschaftlich-technischen Sprache“ hinaus „in einen Dialog mit der Sprache des Volkes“ eintreten muß. (Vgl. Laudato si’, S.143) Für diesen transdisziplinären Charakter steht auch der von Franziskus verwendete Begriff der „Kulturökologie“. (Vgl. Laudato si’, S.143ff.) Er gibt der Wissenschaft wieder einen humanen, die Disziplinenvielfalt integrierenden Sinn: „Doch zugleich wird die dringende Notwendigkeit des Humanismus aktuell, der von sich aus die verschiedenen Wissensgebiete – auch das wirtschaftliche – zusammenführt, um eine umfassendere wie integrierendere Perspektive zu erhalten.“ (Laudato si’, S.151)

Es ist allererst diese transdisziplinäre Orientierung am menschlichen Wohl, die die verschiedenen Disziplinen  daran hindert, sich „in die Grenzen ihrer eigenen Sprache zurückzuziehen“. Sie sprengt die „Abschottung“ und die „Verabsolutierung des eigenen Wissens“ auf und ermöglicht so den wahren interdisziplinären „Dialog unter den Wissenschaften selbst“. (Vgl. Laudato si’, S.205)

Wir haben es also mit einem zweifachen Dialog zu tun: der Wissenschaften untereinander und der Wissenschaften mit der Lebenswelt, aus der sie letztlich selbst hervorgegangen sind. Ihre transdisziplinäre Verantwortung besteht darin, sich diesem Dialog ohne Vorbehalt zu öffnen. ‚Ohne Vorbehalt‘ meint nicht zuletzt auch: ohne methodischen Vorbehalt. Es gibt kein methodisches Paradigma, auch nicht das naturwissenschaftliche, das die Wahrheit für sich gepachtet hätte.

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Montag, 22. Juni 2015

Papst Franziskus, Die Enzyklika „LAUDATO SI’“ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015

(Herder, karton. 14,99 €, 268 S.)

1. Adresse: Wer gemeint ist
2. Technokratisches Paradigma
3. Transdisziplinarität
4. Körperleib und Positionalität
5. Wortfeld der Gabe

Franziskus’ Kritik am technokratischen Paradigma bezieht sich zum großen Teil auf Romano Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ (1965/1950). Franziskus hebt dabei insbesondere den Gestellcharakter des technokratischen Paradigmas hervor: „Das technokratische Paradigma ist nämlich heute so dominant geworden, dass es sehr schwierig ist, auf seine Mittel zu verzichten, und noch schwieriger, sie zu gebrauchen, ohne von ihrer Logik beherrscht zu werden. Es ist ‚kulturwidrig‘ geworden, wieder einen Lebensstil mit Zielen zu wählen, die zumindest teilweise von der Technik, von ihren Kosten und ihrer globalisierenden und vermassenden Macht unabhängig sein können.“ (Laudato si’, S.118)

Die Gestell-Logik des technokratischen Paradigmas liegt also darin, daß es auf eine Weise ‚alternativlos‘ geworden ist, daß wir sogar bei unseren Versuchen, mit den von ihm ausgelösten Problemen fertigzuwerden, nicht auf Technologie verzichten können. Die unverbesserlichen Fortschrittsideologen plädieren deshalb dreist für eine weitere Steigerung dieses Gestellcharakters in Form eines Geoengineering und für eine Umwandlung der Erde in einen planetarischen Cyborg. Franziskus widerspricht solchen Vorstellungen: „Die rein technischen Lösungen laufen Gefahr, Symptome zu behandeln, die nicht den eigentlichen Problematiken entsprechen.“ (Laudato si’, S.155)

Franziskus plädiert für eine Politik, die sich nicht der Wirtschaft unterwirft, und für eine Wirtschaft, die sich nicht „dem Diktat und dem effizienzorientierten Paradigma“ beugt. (Vgl. Laudato si’, S.193) Er plädiert für eine „Humanökologie“, die die Beziehung „des Menschen zu dem moralischen Gesetz“ berücksichtigt, „das in seine eigene Natur eingeschrieben ist“. (Vgl. Laudato si’, S.163) Dem Gestell-Charakter des technokratischen Paradigmas setzt er eine ökologische Planwirtschaft entgegen, die eine kreativere Form der „Produktionsentwicklung“ ermöglicht, die „auf kluge(n) und rentable(n) Formen von Wiederverwertung, Umfunktionierung und Recycling“ basiert und die „Energieeffizienz der Städte“ verbessert und „vieles mehr“. (Vgl. Laudato si’, S.196)

Zugleich aber läßt Franziskus keinen Zweifel daran, daß es hier nicht um kosmetische Korrekturen am bestehenden technokratischen Paradigma geht, sondern um einen fundamentalen Wandel, um einen „neuen Menschen“. (Vgl. Laudato si’, S.128) Denn der Kern des technokratischen Paradigmas besteht Franziskus zufolge insbesondere in zwei den Menschen und seinen Planeten bedrohenden Momenten: in der beständig zunehmenden Beschleunigung der Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse und in der Reduktion der biologischen und kulturellen Diversität auf die Rendite. Damit hebt Franziskus die unheilige Allianz zwischen Technologie und Geldwirtschaft hervor.

Franziskus verweist auf die „ständige Beschleunigung in den Veränderungen der Menschheit und des Planeten“, die zu „einer Intensivierung der Lebens- und Arbeitsrhythmen“ führt. (Vgl. Laudato si’, S.31) Diese Beschleunigung steht „im Gegensatz zu der natürlichen Langsamkeit der biologischen Evolution“ (ebenda). Genau das macht den technologischen Fortschritt so gefährlich. Er ist nicht mehr kontrollierbar, weil er sowohl die Grenzen des menschlichen Verstandes wie auch die Grenzen der Natur sprengt. Die Beschleunigung der techno-ökonomischen Entwicklung verleiht uns zwar eine ungeheure Macht (vgl. Laudato si’, S.113), aber dieser Macht entspricht auf Seiten des Menschen eine „dürftige Selbsterkenntnis in Bezug auf die eigenen Grenzen“. (Vgl. Laudato si’, S.115)

Zu dieser ‚dürftigen‘ Selbsterkenntnis gesellt sich die Reduktion des menschlichen Handelns auf die „Rendite“: „Innerhalb des Schemas der Rendite ist kein Platz für Gedanken an die Rhythmen der Natur, an ihre Zeiten des Verfalls und der Regenerierung und an die Kompliziertheit der Ökosysteme, die durch das menschliche Eingreifen gravierend verändert werden können.“ (Laudato si’, S.195) – Diese ‚Rendite‘ bzw. Profitorientierung der Geldwirtschaft betrachtet die biologische und kulturelle Vielfalt des Planeten und der menschlichen Gesellschaft lediglich als eine Ressource für die Gewinnmaximierung (vgl. Laudato si’, S.44ff., 74, 153f.), und sie „erwägt nicht ernstlich den realen Wert der Dinge, ihre Bedeutung für die Menschen und die Kulturen, die Interessen und Bedürfnisse der Armen“. (Vgl. Laudato si’, S.195) – Franziskus betont, daß das „Verschwinden einer Kultur ... genauso schwerwiegend sein (kann) wie das Verschwinden einer Tier- oder Pflanzenart, oder sogar noch gravierender.“ (Vgl. Laudato si’, S.155f.)

Trotz der alles durchdringenden Reduktionslogik des technokratischen Paradigmas verweist Franziskus auf die Notwendigkeit, daß sich auch der einzelne Mensch der eigenen Verantwortung bewußt sein müsse: „Es ist nützlich, immer daran zu erinnern, dass der Mensch ‚fähig‘ ist, ‚in eigener Verantwortung sein materielles Wohl, seinen sittlichen Fortschritt, seine geistige Entfaltung in die Hand zu nehmen‘.“ (Laudato si’, S.136; vgl. auch S.21f.)

Gerade weil der Gestellcharakter die ganze menschliche Lebenswelt durchdringt, nützen staatliche Maßnahmen in Form von Gesetzesinitiativen wenig, zumal sie oft nur eine kurze Halbwertzeit haben, bis zur nächsten Wahl einer Regierung, die vielleicht wieder alles, was ihre Vorgängerregierung in Gang gesetzt hat, rückgängig macht. (Vgl. Laudato si’, S.183ff., 214)

Eine dauerhaftere Umwandlung der Lebensverhältnisse muß deshalb auf der Ebene der Lebenswelt stattfinden, also auf der Ebene der ‚Gewohnheitsbildung‘. Es kommt darauf an „Gewohnheiten zu entwickeln“ (Laudato si’ S.214), die es dem Menschen ermöglichen, den Versuchungen seiner finanziellen Möglichkeiten zu widerstehen und seine Umwelt durch einen eingeschränkten Konsum zu schonen: „Man kann wenig benötigen und erfüllt leben, vor allem, wenn man fähig ist, das Gefallen an anderen Dingen zu entwickeln und in den geschwisterlichen Begegnungen, im Dienen, in der Entfaltung der eigenen Charismen, in Musik und Kunst, im Kontakt mit der Natur und im Gebet Erfüllung zu finden.“ (Laudato si’, S.226)

Diese Form der persönlichen Lebensführung als Widerstand gegen das technokratische Paradigma ist keineswegs geringzuschätzen. Und Franziskus sieht auch die Notwendigkeit einer international vernetzten Klima- und Umweltpolitik. (Vgl. Laudato si’, S.171ff.) Dennoch scheint mir, daß ihm die Verwendung mancher Worte zum „Lebensstil“ ein wenig zu leicht fällt, etwa wenn er davon spricht, daß der mit der Bedürfniseinschränkung einhergehende „innere Friede der Menschen“ „authentisch gelebt“ werden müsse. (Vgl. Laudato si’, S.227) Hier stellt sich mir die Frage, ob Franziskus tatsächlich über eine den Notwendigkeiten der Ökologie entsprechende „angemessene Anthropologie“ verfügt, wie er selbst sie einfordert. (Vgl. Laudato si’, S.128) Dazu aber mehr in einem der folgenden Posts.

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Sonntag, 21. Juni 2015

Papst Franziskus, Die Enzyklika „LAUDATO SI’“ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015

(Herder, karton. 14,99 €, 268 S.)

1. Adresse: Wer gemeint ist
2. Technokratisches Paradigma
3. Transdisziplinarität
4. Körperleib und Positionalität
5. Wortfeld der Gabe

Wenn ich mich als an kein spezifisches Glaubensbekenntnis gebundener Mensch zu einem Text von einem Autor äußere, der (was sowohl für die Textform wie für den Autor gilt) wie kein zweiter eine spezifische religiöse Autorität für sich in Anspruch nimmt, so mache ich das, weil sich dieser Text u.a. auch an Menschen wie mich richtet: „Angesichts der weltweiten Umweltschäden möchte ich mich jetzt an jeden Menschen wenden, der auf diesem Planeten wohnt.“ (Vgl. Laudato si’, S.16)

Allerdings enthält dieser Text umfängliche Textpassagen, wie z.B. das zweite Kapitel (vgl. Laudato si’, S.73-110), die sich ausschließlich an Menschen katholischen Glaubens richten und in denen sich Franziskus auf Päpste und andere religiöse Autoritäten beruft, sorgsam sortiert nach ‚heiligen‘ – wie z.B. Johannes XXIII, Johannes Paul II., Bonaventura usw. – und vorerst bloß ‚seligen‘, der Heiligsprechung noch entbehrenden Persönlichkeiten – wie z.B. Paul VI., Charles de Foucauld –, so daß man sich letztlich doch wieder nach dem Status und dem Adressaten dieser Enzyklika fragt.

Auf begrifflicher Ebene ist die Enzyklika insgesamt unzulänglich. Es gibt mehrere Stellen, die von zentraler Bedeutung für die Gesamtaussage des Textes sind, an denen die begriffliche Analyse aber nur an der Oberfläche bleibt. So wendet sich Franziskus mehrfach dagegen, „die Wirklichkeit in einen bloßen Gebrauchsgegenstand und ein Objekt der Herrschaft zu verwandeln“. (Vgl. Laudato si’, S.26) Der Gebrauch und Verbrauch von Dingen scheinen also eher negativ konnotiert und mit einer instrumentellen Zweckrationalität und einer Konsumorientierung der Menschen verbunden zu werden. An anderen Stellen wird aber deutlich, daß Franziskus sich vor allem gegen einen ‚unmittelbaren‘, unachtsamen Gebrauch richtet, der den Eigenwert der Dinge und der Welt nicht zur Kenntnis nimmt. (Vgl. Laudato si’, S.17f. u.ö.) Insgesamt fehlt aber eine tiefergehende Analyse einer Ökonomie des Geldes, für die die Zeit des Ge- und Verbrauchs, die Eigenzeit der Dinge, keine Rolle spielt.

Damit bleibt aber die verheerende Auswirkung der Geldwirtschaft ungeklärt. Auch wenn sich gelegentlich bemerkenswerte Sätze finden, die dieses Thema aufgreifen – „Die Finanzen ersticken die Realwirtschaft“ (Laudato si’, S.119) –, bilden sie doch im Gesamtzusammenhang der Enzyklika bloß folgenlose Floskeln. So begnügt sich Franziskus immer wieder mit letztlich harmlosen Relativierungen, daß etwa eine „mit dem Finanzwesen verknüpfte Technologie“ „oft nicht fähig“ sei, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und deshalb „manchmal“ mehr Probleme schaffe, als sie löse. (Vgl. Laudato si’, S.34) Das klingt so, als wolle Franziskus es seinen Lesern überlassen, ob sie sich eher beruhigt oder eher beunruhigt fühlen möchten.

Auch die Kritik am Wachstums- und Forschrittsdenken leidet unter solchen begrifflichen Unschärfen. So heißt es z.B. an einer Stelle, „dass das Wachstum der letzten beiden Jahrhunderte nicht in allen seinen Aspekten einen wahren ganzheitlichen Fortschritt und eine Besserung der Lebensqualität bedeutet“ habe. (Vgl. Laudato si’, S.55) – Textstellen wie diese könnten einen Leser wie mich in Verzweiflung stürzen, weil hier die Wurzel des ökonomischen Übels nicht nur nicht benannt, sondern durch Wischi-Waschi-Formulierungen regelrecht verdeckt wird, wären da nicht noch andere Passagen, die den tatsächlichen Sachverhalt in erfreulich wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck bringen, wie etwa die folgende: „Es genügt nicht, die Pflege der Natur mit dem finanziellen Ertrag oder die Bewahrung der Umwelt mit dem Fortschritt in einem Mittelweg zu vereinbaren.“ (Laudato si’, S.198)

Wo es keinen „Mittelweg“ zwischen der Ökologie und einer auf profitorientierter Geldwirtschaft basierenden Ökonomie gibt, muß die Ökonomie logischerweise grundlegend geändert und nach völlig neuen Prinzipien ausgerichtet werden. Denn die vergangenen Jahrhunderte der Plünderung des Planeten und der Ausbeutung des Menschen waren nicht etwa nur teilweise falsch, sondern schlicht ein bedauernswerter Irrweg. Dessen ist sich Franziskus durchaus bewußt, wenn er von der mangelnden „Genügsamkeit und Demut“ früherer Generationen spricht (vgl. Laudato si’, S.226), die als die „verantwortungslosesten der Geschichte“ in Erinnerung bleiben werden (vgl. Laudato si’, S.173). Aber mangels tieferreichender begrifflicher Analyse bleibt er doch immer wieder nur an der Oberfläche des Problems.

Das zeigt sich gerade auch dort, wo die Kritik am technokratischen Paradigma an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. (Vgl. Laudato si’, S.116-125) Die ganze Radikalität der fortschrittskritischen Intervention dieser Enzyklika, die Franziskus geradezu als von jenem Virus der ‚German Angst‘ infiziert erscheinen läßt – einem Virus, vor dem noch vor kurzem auf einem FDP-Parteitag so eindringlich gewarnt worden war –, geht durch die Fehldiagnose, daß wir es hier mit einem „modernen Anthropozentrismus“ (Vgl. Laudato si’, S.125) zu tun hätten, ins Leere. Das von Franziskus kritisierte Paradigma mag alles mögliche sein; auf keinen Fall ist es anthropozentrisch! Ganz im Gegenteil läuft die ganze bisherige, unheilvolle Allianz aus Wissenschaft und Technik in Theorie und Praxis auf eine Abschaffung des Menschen hinaus.

Deshalb handelt es sich auch keineswegs um eine „Schizophrenie“, wie Franziskus meint, wenn die „Verherrlichung der Technokratie“ dazu führt, „dem Menschen jeglichen besonderen Wert abzusprechen“. (Laudato si’, S.128) Das ist vielmehr genau in der anthropophoben Grundeinstellung des technokratischen Paradigmas begründet. Zumindestens was den naturwissenschaftlichen Mainstream betrifft sind unsere Wissenschaftler auf nichts stolzer als auf ihrer Ignoranz gegenüber allem Menschlichen.

Die fehlende begriffliche Analyse zeigt sich auch bei Franziskus’ Stellungnahmen zur Geburtenkontrolle und zur Reproduktionstechnologie. Vehement richtet sich Franziskus gegen die Vorstellung, die Überbevölkerung könnte ein Problem darstellen: „Anstatt die Probleme der Armen zu lösen und an eine andere Welt zu denken, haben einige nichts anderes vorzuschlagen als eine Reduzierung der Geburtenrate.“ (Laudato si’, S.59)

Diese Stellungnahme ist von einem Papst durchaus erwartbar und nicht weiter verwunderlich. Allerdings hindert das katholische Dogma Franziskus daran, zu erkennen, daß das technokratische Paradigma und der unbedingte Kinderwille mancher Eltern genau zu dem Skandalon führen, das Franziskus an anderer Stelle als „‚Wegwerfen‘ von Kindern“ anprangert. (Vgl. Laudato si’, S.123) Eltern, die sich weder von biologischen noch von gesellschaftlichen Beschränkungen davon abhalten lassen wollen, Kinder zu kriegen, und Eltern, die darüberhinaus vorweg darüber entscheiden wollen, was für Kinder sie bekommen wollen, ‚werfen‘ in gleicher Weise ‚Kinder‘ weg, die bei der technologischen Prozedur durch das Raster fallen. Es kann also aus ethischer Sicht nicht alles gut an der Vorstellung sein, daß jedes Kind gewollt sein muß. Kein Kind ist mehr gewollt und erwünscht, als das technologisch ermöglichte. Letztlich setzen sich aber auch in diesem heiklen Bereich menschlichen Wollens und Handelns die Allmachtsphantasmen der Ingenieure und der Konsumismus von ‚Märkten‘ und ‚Verbrauchern‘ ungehemmt und skrupellos durch.

Der Status dieser Enzyklika liegt also nicht so sehr auf wissenschaftlicher und begriffsanalytischer Ebene. Sie hat ihre eigentliche Bedeutung im Bereich der Pragmatik. Damit meine ich, daß eine gleichermaßen religiöse und moralische Autorität wie die des Papstes Franziskus in der Welt gehört wird. Jetzt wird es nicht mehr so leicht sein, den grünen ‚Spinnern‘ überall auf der Welt „mit Geringschätzung und Ironie“ (Laudato si’, S.169) zu begegnen. Die katholische Kirche steht nicht mehr automatisch auf Seiten des Kapitals als Ausdruck einer gottgewollten Naturordnung, und Kapitalisten sind auch nicht mehr automatisch gute Christen. Das war zwar noch nie der Fall gewesen; aber es ist auch noch nie so deutlich gesagt worden wie in dieser Enzyklika.

Diese Wirkung der Enzyklika zeigt sich schon jetzt an den diversen Aufgeregtheiten beiderseits des Atlantiks. Das notorisch gute Gewissen des ‚Weiter so‘ und ‚Nach uns die Sintflut‘ ist wohl endgültig vorbei. Der Begriff der Sünde hat einen neuen Inhalt: Technokratie. Und dieser Papst erteilt keine Absolution.

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Mittwoch, 17. Juni 2015

Das Geld ist keine Ware

Das Geld ist keine Ware, die gegen eine andere Ware getauscht wird. Waren, die ich gegen andere Waren tausche, sind immer noch Gebrauchsgegenstände. Es findet keine Wertübertragung vom einen auf den anderen Gebrauchsgegenstand statt. Sie behalten beim Tausch ihren eigenen Wert und nehmen ihn in das neue Besitzverhältnis mit.

Tausche ich hingegen Geld gegen eine Ware, so berechnet es Engster zufolge den Wert dieser Ware, und dieser berechnete Wert geht in den Geldschein ein und kehrt so über den Geldschein zum vormaligen Besitzer der Ware zurück. Die Ware geht in die Richtung des Käufers, ihr berechneter Wert in die Richtung des Verkäufers. Der Wert wechselt also gar nicht; er bleibt vielmehr beim Verkäufer. Im Grunde funktioniert das Geld wie ein Filter, der nur für die Ware in Richtung des Käufers durchlässig ist, aber ihren Wert aus ihr herausfiltert und in den Händen des Verkäufers zurückbehält.

Der Geldschein für sich bleibt ohne diesen ‚Warentausch‘ wertlos. Er hat keinen eigenen Gebrauchswert. Paradox ist deshalb, daß hier in der klassischen Ökonomie immer noch von einem Warentausch die Rede ist. Stattdessen haben wir es eher mit einem Diffusionsprozeß zu tun. Die Ware diffundiert dorthin, wo ‚nichts‘ ist. Denn daß die Ware die Bedürfnisse des Kunden befriedigt, ist nur ein schlechter Witz der sogenannten Marktwirtschaft. Der Zweck der Ware besteht nicht darin, Bedürfnisse von irgendwelchen Kunden zu befriedigen. Tatsächlich befriedigt die Ware nur das Bedürfnis des Geldes, sich mit Wert aufzuladen.

Die Ware geht also dorthin, wo ‚nichts‘ ist. Dieses Nichts wird durch den Geldschein symbolisiert. Im Durchgang durch das Nichts des Geldscheins tränkt die Ware diesen Geldschein mit Wert. Bis zum nächsten Filtervorgang.

Bei reinen Geldgeschäften, in denen das Geld selbst als Ware behandelt wird, werden keine Werte übertragen oder herausgefiltert. Sie sind wertlos.

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Dienstag, 16. Juni 2015

Das Geld und unsere Ressourcen

In meinen Posts vom 05.03. und vom 23.03.2014 habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, wie es dazu kommt, daß aus Geld immer mehr Geld wird, was man für gewöhnlich als ‚Mehrwert‘ bezeichnet. In meinem Post vom 25.03.2014 habe ich dazu auch eine Graphik gezeichnet, um die für mich schwierige Materie und den damit verbundenen impliziten Betrug am arbeitenden Menschen etwas anschaulicher darzustellen. Ob mir das gelungen ist, müssen andere beurteilen.

Der von dieser Graphik veranschaulichte, von Frank Engster stammende Grundgedanke besteht darin, daß das Geld eine Ökonomie der Zeit ermöglicht. Es nimmt in Form einer Investition des Unternehmers in die Produktion seiner Waren den aus dem Verkauf dieser Waren hervorgehenden Gewinn vorweg. Engster bezeichnet diese Art des Rechnens mit Geld als Futurum II.

Der Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Mehrwertbildung, die dadurch ermöglicht wird, daß die menschliche Arbeitskraft über die Notwendigkeit ihrer eigenen Reproduktion hinaus zusätzliche unbezahlte Arbeit leistet und so mehr Waren produziert als nötig. Dieser Betrug an der ‚vulgären‘ Lebenszeit des Arbeiters ist schon schlimm genug. Dabei entgeht unserer analytischen Aufmerksamkeit aber, daß der auf diesem Betrug beruhende, scheinbar positive Zukunftsbezug des Geldes noch einen ganz anderen Sachverhalt verdeckt. Tatsächlich haben wir es beim Geld nämlich nicht mit einer wie auch immer betrügerischen Ökonomie der Zeit zu tun, sondern mit einer regelrechten Zeitvernichtungsmaschine. Was ich damit meine, möchte ich in der folgenden Graphik veranschaulichen.


Engster weist darauf hin, daß das Geld ein Wertspeicher sei. Beim Kauf einer Ware, etwa eines Spatens, geht der Wert des Spatens – nehmen wir an 20 € – in den Geldschein über, den ich dafür zahle. Dieser Vorgang der Wertübertragung ist allerdings erst dann vollständig, wenn sich der Spaten durch jahrelangen Gebrauch verbraucht hat. Erst dann existiert der Wert des Spatens nur noch im Geldschein; er ist aus der Zeit gefallen. Nehmen wir an, daß das nach ca. 20 Jahren der Fall ist. Engster bezeichnet dieses mit dem Verbrauch des Spatens einhergehende Vergehen der Zeit als ‚vulgäre Zeit‘.

Was macht der Händler jetzt? Legt er den Geldschein auf die Seite, hebt ihn zwanzig Jahre lang auf und erkundigt er sich dann vielleicht sogar bei dem ehemaligen Kunden, ob er seinen Spaten inzwischen verbraucht hat, um sicher zu gehen, daß der Geldschein nun seinen vollen Wert hat? Wohl kaum.

Der Händler wird vielmehr den Geldschein gleich bei nächster Gelegenheit wieder verwenden, entweder indem er ihn beim Verkauf einer Ware gegen einen größeren Schein einwechselt oder indem er sich für seinen eigenen Gebrauch einen Fahrradreifen im Wert von 20 € kauft, der vielleicht eine ‚Lebenszeit‘ von fünf Jahren hat. Das heißt: die zwanzig Jahre des Spatens werden nicht abgewartet, sondern das Geld realisiert diese zwanzig Jahre unmittelbar beim Kauf bzw. Verkauf der nächsten Ware, die wiederum mit ihrer eigenen ‚Lebenszeit‘ in den Wert des Geldscheins eingeht.

Das ist also der wahre Charakter des Geldes: die sogenannte ökonomische Zeit, in der sich der Mehrwert des Geldes realisiert, vernichtet im Falle des Spatens zwanzig und im Falle des Fahrradreifens fünf Jahre, ohne daß der Geldschein selbst dafür irgendwie Zeit verbrauchen müßte. Und das macht der Geldschein unentwegt. Da Geldscheine sich nicht verbrauchen, sondern eine unendliche ‚Lebenszeit‘ haben, vernichten sie also mit ihren Kaufakten unendlich viel Gebrauchszeit von Spaten und Fahrradreifen usw.

Woraus bestehen aber Spaten und Fahrradreifen? Aus den Ressourcen unserer Erde, aus Erzen und aus nachwachsenden Rohstoffen. Im Falle des Fahrradreifens auch noch aus diversen Kunststoffen, die wiederum aus fossilen Rohstoffen hergestellt wurden. Okay: Spaten und Fahrradreifen sind jetzt nicht so das passende Beispiel. Denken wir also an Autos, Computer, Fernsehgeräte, Handys etc. Daran wird noch auffälliger, was hier alles durch Geld vernichtet wird, zumal hier oft genug den Geräten vom Hersteller noch ein Verfallsdatum eingebaut wird, damit sie nicht so lange halten und so die Wiederverwertung des herausgefilterten Geldwerts behindern. Fernsehgeräte werden nicht mit hdtv-Standards und 3D ausgestattet, um die Bedürfnisse von Kunden zu befriedigen, sondern um die alten Fernsehgeräte durch neue zu ersetzen. Technologische Innovationen dienen ausschließlich der Geldwertvermehrung.

All die Gebrauchszeit, die vulgäre Zeit dieser Geräte, wird durch das Geld, das deren Verbrauch nicht abwarten kann und in neuen Kaufakten wiederverwendet werden will, null und nichtig. Sie müssen ständig technologisch neu erfunden werden, nicht etwa, weil ein Bedarf daran besteht, sondern weil sie durch das Geld gleichermaßen entwertet wie verwertet werden. Das Geld hat ein unwiderstehliches Bedürfnis danach, sich ständig neu zu produzieren. Es kann nicht einfach herumliegen und darauf warten, bis sich alle diese Dinge, die mit seiner Hilfe produziert werden, verbraucht haben.

Deshalb wird unser Planet ausgeplündert, bis auf den letzten Tropfen Öl, den letzten Tropfen Trinkwasser und das letzte Krümelchen Mutterboden. So einfach ist das.

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Dienstag, 9. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

9. Verhältnis von Denken und Intuition

Julian Jaynes setzt die bikamerale Psyche und das subjektive Bewußtsein in ein sich wechselseitig ausschließendes Voraussetzungsverhältnis zueinander: entweder spricht die rechte Gehirnhälfte über das Wernicke-Zentrum der linken Gehirnhälfte, und dann schweigt das Bewußtsein, oder das subjektive Bewußtsein kommt zu Wort, und dann schweigen die rechtsseitigen ‚Stimmen‘. Darüberhinaus ist ein wesentliches Kennzeichen dieser Stimmen der bedingungslose Gehorsam des bikameralen Menschen, und „(m)it dem Bewußtseinserwerb haben wir eine einfachere, bedingungslosere Methode der Verhaltenskontrolle, wie sie für die bikamerale Psyche charakteristisch war, aufgegeben.“ (Vgl. Jaynes 1993, S.491)

Dieser mit Aktivitäten der rechten Hemisphäre einhergehende Bewußtseinsverlust bildet auch ein Moment einiger Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt: der Besessenheit, die Jaynes zufolge mit der „Auslöschung des gewöhnlichen Bewußtseins“ einhergeht, und der Schizophrenie, die mit der  „Aufweichung der ... Bewußtseinsstruktur“ und dem „Verlust der Fähigkeit des Narrativierens“ verbunden ist. (Vgl. Jaynes 1993, S.414 und S.499) Allerdings wissen Besessene aufgrund des Bewußtseinsverlustes nicht, was sie im Zustand der Besessenheit gesagt oder getan haben. Die Helden der Ilias hingegen vergaßen nicht, was die Götter ihnen mitgeteilt hatten. (Vgl. Jaynes 1993, S.415)

Dabei sollten Besessenheit und Schizophrenie nicht miteinander verwechselt werden. So unterscheidet sich die Besessenheit als eine mediale Form des Sprechens mit ‚fremder Stimme‘ von den Stimmphänomenen der bikameralen Psyche: „Nirgendwo in der ‚Ilias‘ oder der ‚Odyssee‘ oder sonst einer frühgeschichtlichen Dichtung findet sich auch nur der leisteste Hinweis auf Besessenheit oder sonst etwas dergleichen. Während des eigentlich bikameralen Zeitalters kommt es niemals vor, daß ein ‚Gott‘ durch den Mund eines Menschen spricht. Dagegen ist diese Erscheinung allen Anzeichen nach bis um 400 v.Chr. genauso selbstverständlich geworden, wie es heute etwa Kirchenbauten sind: Nicht nur in den zahlreichen öffentlichen Orakeln, sondern auch in einzelnen Privatleuten ist sie über ganz Griechenland verbreitet.“ (Jaynes 1993, S.413)

Im Unterschied zur Besessenheit sind es Jaynes zufolge deshalb vor allem die „Symptome der vollausgebildeten Schizophrenie“, die „auf einzigartige Weise mit der Beschreibung der bikameralen Psyche übereinstimmen“. (Vgl. Jaynes 1993, S.499)

Das Symptom eines mit Aktivitäten der rechten Hemisphäre einhergehenden weitgehenden Bewußtseinsverlusts könnte den Eindruck erwecken, daß wir in dieser Hemisphäre auch die neurophysiologische Grundlage der Schwarmintelligenz zu suchen haben. (Vgl. meine Posts vom 13.08. bis 31.08.2011) Aber aus Jaynes’ Ausführungen zu Untersuchungen an Split-Brain-Patienten geht hervor, daß es noch tiefer liegende Gehirnbereiche gibt, zu denen beide Gehirnhälften gleichermaßen auch nach einer Kommissurotomie nach wie vor gemeinsam Zugang haben: das limbische System und das Stammhirn. (Vgl. Jaynes 1993, S.147) Ich vermute, daß die bikamerale Psyche nichts mit Schwarmintelligenz zu tun hat und daß die Schwarmintelligenz, mit Frans de Waal gesprochen, als eine Form des „Synchronismus“ und der „Gefühlsansteckung“ neurologisch eher diesem limbischen System zuzuordnen ist. (Vgl. hierzu meinen Post vom 17.05.2011)

Auch bei bikameralen ‚Relikten‘ wie Dichtung und Musik gehen Jaynes zufolge aktiv-kreative und rezeptiv-passive Höchstleistungen von Autoren, Komponisten und Publikum aus einem rauschähnlichen, bewußtseinsverminderten Zustand hervor. So war die Dichtung ursprünglich vor allem eine Art Gesang in Form gebundener Rede (Rhythmik, Reimformen etc.). (Vgl. Jaynes 1993, S.440) Das verlieh der Poesie „Ton und Tonart des Autoritativen“: „Die Poesie befahl, wo die Prosa nur bitten konnte.“ (Jaynes 1993, S.440) – Die Musik, die von vornherein auf das Gehör gerichtet war, bewirkte und bewirkt heute noch eine Form der Aufmerksamkeitsbindung, die dem Gehorsam des bikameralen Menschen gegenüber seinen ‚Stimmen‘ gleicht. Außerdem „hören und verstehen“ wir, so Jaynes, die Musik „mit der rechten Hemisphäre“: „Dieser Befund spricht ausdrücklich für die Möglichkeit, daß die Organisation des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt es dazu disponiert, Reizungen im rechtsseitigen Gegenstück zum Wernicke-Zentrum, das heißt musikalischen Eindrücken, zu ‚gehorchen‘ und sich nicht von ihnen ablenken zu lassen – genau wie nach unserer früheren Feststellung der bikamerale Mensch den Halluzinationen aus diesem Bereich gehorchen mußte.“ (Jaynes 1993, S.447f.)

Jaynes’ Darstellungen zum sich gegenseitig hemmenden bis sich gegenseitig ausschließendem Verhältnis von linker und rechter Hemisphäre sind mir für meinen Geschmack zu radikal-negativ. Es fehlt mir der positive Hinweis auf eine Balance zwischen den Hemisphären, im Sinne eines ausgeglichenen Verhältnisses von Naivität und Kritik. Mit ‚Naivität‘ meine ich die Offenheit für Intuitionen und ‚Bauchgefühle‘ aller Art, eine Form der Achtsamkeit, wie sie Plessner mit Nietzsche auch als „zweite Naivität“ beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 28.10., 17.11. und vom 07.12.2010). Diese zweite Naivität bildet genau diese Balance aus Naivität und Kritik, in der sich das individuelle Bewußtsein seine Intuitionen und Gedanken geben läßt, ohne daß sie ihm aufgezwungen werden, wie es Schizophrenie-Patienten erleben: „Manche Kranken erklären, sie bekämen zum Selberdenken überhaupt keine Chance mehr; stets würde das Denken ihnen abgenommen und die Gedanken ihnen gegeben.“ (Jaynes 1993, S.504)

Anders als der an Schizophrenie erkrankte Mensch hat der mit einem individuellen subjektiven Bewußtsein ausgestattete Mensch alle Zeit der Welt, sich seinen Gedanken zuzuwenden und sie zu denken, wie und wann sie ihm auch immer gerade einfallen mögen. Für ihn gilt nicht, was ein sumerisches Sprichwort dem bikameralen Menschen rät: „Handle unverzüglich, mach deinem Gott Vergnügen.“ (Jaynes 1993, S.251)

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Montag, 8. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

Der Begriff des Körperleibs steht bei Helmuth Plessner für eine neue Verhältnisbestimmung des Gehirns im Organsystem des menschlichen Körpers. Die anatomische Gegenüberstellung des Kopfes gegenüber dem Körper überträgt sich bei der Herausbildung eines individuellen subjektiven Bewußtseins auch auf das Gehirn: es ist nun nicht länger nur Organ unter Organen, sondern bildet jetzt zugleich auch ein Reflexionsmedium des lebendigen Organismusses, ein Bewußtsein ermöglichendes Unterbrechungsorgan des Reflexbogens. (Vgl.u.a. meinen Post vom 11.07.2013)

Auch Jaynes zeichnet auf vergleichbare Weise eine Entwicklung der verschiedenen menschlichen Organsysteme über die Muskulatur, die Lungen, den Blutkreislauf und die Eingeweide zu einem integrierten, einen Bewußtseinsraum eröffnenden Körperleib nach. Die diese Organsysteme bezeichnenden Wörter werden im Laufe der Kulturentwicklung zu Metaphern für subjektives Bewußtsein: „Insgesamt sieben solcher Wörter sind es, die wir hier in Augenschein nehmen wollen: thymos, phrenes, noos und psyche, die allesamt abwechselnd mit ‚(innerer) Sinn‘, ‚Gemüt‘, ‚Seele‘ oder ‚Geist‘ übersetzt werden, sowie kradie, ker, und etor, häufig mit ‚Herz‘ übersetzt und manchmal auch mit ‚Gemüt‘ oder ‚Geist‘.“ (Jaynes 1993, S.314)

Die Grundlage dieser Liste bildet die Ilias. Die Helden der Ilias handeln nicht aus eigenem Bewußtsein, sondern sie sind von den Stimmen der Götter gesteuerte „Marionetten“. Sie besitzen keine Moral, und „Gut und Böse existiert für sie nicht“. (Vgl. Jaynes 1993, S.335) Ihr Handeln wird deshalb in der Ilias ausschließlich anhand der äußerlich beobachtbaren „physiologische(n) Begleiterscheinungen“ (Jaynes 1993, S.316) beschrieben, eben jener Phänomene, auf die sich die genannten sieben Wörter beziehen: „Gefäßveränderungen, die als Hitzewallungen empfunden werden, üble Veränderungen der Atmung, Herzklopfen oder Herzflattern und so weiter – und diese Reaktionen sind es, die in der ‚Ilias‘ als thymos, phrenes oder kradie bezeichnet werden. ... bis ihnen sogar die göttliche Funktion zuwächst und sie sich im phänomenalen Bereich als das alleinige handlungsauslösende Moment darstellen.“ (Jaynes 1993, S.314f.) – Anhand der späteren Literatur, u.a. der Odyssee, kann man dann rekonstruieren, wie diese Organsysteme allmählich „zu einem einheitlichen Seelenraum mit seinem Analogon-‚Ich‘ zusammenwachsen, den wir heute Bewußtsein nennen“. (Vgl. Jaynes 1993, S.330)

Der Thymos steht Jaynes zufolge für motorische Agilität, für die Beweglichkeit des lebendigen Körpers. Solange der Körper sich bewegt, ist er lebendig. Endet diese Beweglichkeit, z.B. durch Tötung in einer Schlacht, ist er auch nicht mehr lebendig. In Erweiterung dieser Beobachtung bezieht sich der Begriff dann auch auf die Blutgefäße und auf die „Skelett- und Herzmuskulator“. Im Zuge der Verwandlung dieses Begriffs zu einer Metapher für Bewußtsein bezeichnet er Eigenschaften wie „Mut und Stärke“, die meist in der Brust lokalisiert werden. So wird auf metaphorischem Wege der Innenraum erzeugt, „in dem wir den Vorläufer unseres zeitgenössischen Bewußtseins vor uns haben.“ (Jaynes 1993, S.320)

Die Phrenes bezeichnen die Lungen. Mit ihnen sind alle möglichen Erregungen verbunden, die sich auf unsere Atmung auswirken. Sie bilden Jaynes zufolge „eine Art seismographische(n) Apparat“, der alles, was wir tun, genau und differenziert registriert“: „Es ist zum mindesten denkbar, daß dieser innere Spiegel des Verhaltens im Reizuniversum der vorbewußten Psyche eine weit beherrschendere Position einnahm, als er es für uns heute tut.“ (Jaynes 1993, S.321)

Die Kradie bezeichnet das Herz. Das Wort leitet sich von dem Verb kroteo (schlagen, klopfen) ab und bedeutete Jaynes zufolge „ursprünglich einfach eine zitternde oder zuckende Bewegung“. (Vgl. Jaynes 1993, S.323) Ähnlich wie die Lungen reagiert das Herz sensibel auf alle möglichen Aspekte unserer Umwelt. Die Bedeutung des Herzens als Synonym für ‚Seele‘ ist wohl für jeden von uns heutigen Menschen unmittelbar gegenwärtig.

Mit Etor werden alle möglichen Bauchgefühle bezeichnet. Es stammt von ‚etron‘ ab, was ‚Bauch‘ bedeutet. Ich frage mich, ob ‚etor‘ ethymologisch mit ‚ethos‘ zusammenhängt? Jaynes zufolge fungiert dieses Organsystem als ein allgemeines „Reizfeld für die Seelentätigkeit“. (Vgl. Jaynes 1993, S.325) Von den damit zusammenhängenden psychischen Erkrankungen leitet Jaynes auch den Begriff der Psychosomatik ab, der ja letztlich auch nur ein anderes Wort für ‚Körperleib‘ ist: „In der Tat ist der Magen eines der reizbarsten Körperorgane, das mit Krämpfen und Entleerung, mit Veränderungen der Motorik und der Sekretion auf nahezu alle Emotionen und Empfindungen reagiert. Deshalb auch waren Magen-Darm-Erkrankungen der historische Ausgangspunkt für die psychosomatische Betrachtungsweise.“ (Jaynes 1993, S.325)

‚Ker‘ ordnet Jaynes dem Wortfeld von ‚Kradie‘ zu. Insbesondere sind damit „zitternde Hände und Glieder“ gemeint, und das Wort bezeichnet deshalb vor allem Gefühlszustände wie Angst und Furcht. (Vgl. Jaynes 1993, S.326)

‚Noos‘ stammt von ‚sehen‘, und dieses Wort ist zur Metapher von Bewußtsein schlechthin geworden. (Vgl. Jaynes 1993, S.327) Der Gesichtssinn steht in einem gewissen Gegensatz zum Gehör, das weniger auf ein selbständiges Bewußtsein als vielmehr auf Gehorsam und Hörigkeit verweist: „Der Grund dafür mag darin liegen, daß das Gehör das eigentliche Wesen der bikameralen Psyche ausmacht.“ (Jaynes 1993, S.328) – Die „Heraufkunft des Bewußtseins“ hat Jaynes zufolge zu einem „Wechsel von einer auditiven zu einer visuellen Psyche“ geführt. (Vgl. ebenda)

Ähnlich wie die Phrenes verweist die Psyche auf die Atmung. Ursprünglich war damit eine sichtbare Eigenschaft des lebendigen Körpers gemeint. Sobald die Atmung ausbleibt, verliert der Körper die Eigenschaft, lebendig zu sein. Lebendigkeit war also eine Eigenschaft und kein selbständiges Substantiv. Wenn die Psyche nach dem Tod in den Hades entweicht, führt sie dort kein eigenständiges Leben, sondern nur ein substanzloses Schattendasein: „Der Ausdruck meint in diesen Fällen fast das genaue Gegenteil von dem, was er in ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ sonst bedeutet: nicht Leben, sondern was da ist, nachdem das Leben gewichen ist.“ (Jaynes 1993, S.351)

Man kann also sagen, daß die Psyche nach der Loslösung vom Körper nur eine Weise des Todseins bezeichnet und nicht etwa in eine andere Art des Lebens übergeht. In späteren Epochen des subjektiven Bewußtseins wird die Psyche zu einer eigenständigen Substanz, und jetzt entsteht so etwas wie ein Leib-Seele-Dualismus, wie er zum ersten Mal in den Philosophien von Platon und Sokrates zum Ausdruck gekommen ist: „Das Wort soma hatte zuvor Leichnam oder Leblosigkeit bedeutet, strukturell-funktional also den Gegensatz zu psyche qua Belebtheit. Während aus psyche jetzt die Seele wird, bleibt die strukturelle Relation erhalten, so daß soma die Bedeutung von Körper annimmt. Und damit ist der Leib-Seele-Dualismus, die vorgeblich separaten Daseinsformen von Geist und Körper, institutionalisiert.“ (Jaynes 1993, S.353f.)

Aus der schlichten Notwendigkeit der Ausdifferenzierung eines subjektives Bewußtsein ermöglichenden Innenraums, also schon früh, praktisch im direkten Anschluß an die bikamerale Epoche, ist also ein Leib-Seele-Dualismus hervorgegangen, wie er das okzidentale Denken und die schriftbasierten Offenbarungsreligionen bis in unsere Gegenwart hinein geprägt hat.

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Sonntag, 7. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

Der bikamerale Mensch war Jaynes zufolge ein ‚Gewohnheitstier‘, das in einem „Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele zwischen den Polen ‚gefährlich‘ und ‚sicher‘, ‚angenehm‘ und ‚unangenehm‘“ lebte. (Vgl. Jaynes 1993, S.110) Seine Lebensgrundlage bildete also der Reflexbogen und deshalb entsprach er perfekt dem behavioristischen Weltbild. Jaynes zitiert ein dazu passendes sumerisches Sprichwort: „Handle unverzüglich, mach deinem Gott Vergnügen.“ – Und er kommentiert es wie folgt: „Denke nicht nach: laß keinen Zeit-Raum sein zwischen dem Hören deiner bikameralen Stimme und der Ausführung dessen, was sie dich tun heißt.“ (Vgl. Jaynes 1993, S.251)

Das ‚Denken‘ des bikameralen Menschen läuft also auf einer anderen, vorbewußten Ebene ab. Es entspricht dem, was Antonio Damasio „rasche Kognition“ nennt. (Vgl. Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007, S.V) Bei Schizophrenen findet sich das in der Klage wieder, daß sie keine Zeit zum eigenen Denken finden, weil ihnen etwas in ihrem Inneren immer zuvorkommt: „Es ist nichts Ungewöhnliches, Patienten in bestimmten Stadien der Krankheit darüber klagen zu hören, daß die Stimmen ihre Gedanken aussprechen, bevor sie selber Zeit gehabt hätten, sie zu denken.“ (Jaynes 1993, S.504)

Es liegt also nahe, daß das, was wir bewußtes Denken nennen, ein eher mühsames und vergleichsweise ‚langweiliges‘ Geschäft ist, ein ‚Nachdenken‘ im Sinne eines unseren vorbewußten Denkprozessen Hinterher-Denkens. Das bewußte Denken bedarf der Unterbrechung des Reflexbogens, um seine Chance zu erhalten, des „Hiatus“, wie Plessner das nennt. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010) Jaynes spricht von der „profanisierenden Pause“ und meint mit Profanisierung wahrscheinlich das Verstummen der göttlichen Stimmen, das es dem subjektiven Bewußtsein erlaubt, selbst zu Wort zu kommen. (Vgl. Jaynes 1993, S.251) Diese ‚Pause‘ braucht aber einen „wirksame(n) Schutzschild“, der sie vor Ablenkung durch das umweltliche „Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele“ bewahrt. Mit anderen Worten: es bedarf „eines Analog-Raums mit einer Komponente namens ‚Ich‘“. (Vgl. ebenda)

Dabei kehrt Jaynes die Genese von Ich und Fremd-Ich um. In der Husserlschen Phänomenologie war immer die Fremdpsyche das Problem: woher weiß ich, daß der andere Mensch mir gegenüber ebenfalls ein Bewußtsein hat wie ich? In der bikameralen Welt konnten sich die Menschen schon deshalb diese Frage nicht stellen, weil es zu ihrer Welt zumeist keine Außenperspektive gab, was übrigens der Husserlschen Definition der Lebenswelt entspricht. Erst über den Handel in der Begegnung mit fremden Menschen konnte das Problem bewußt werden, daß die fremden Menschen die gleiche Welt ‚mit anderen Augen‘ sahen.

An dieser Stelle greift Jaynes zu einem verblüffenden Argument: nicht ich selbst bin mir von vornherein meiner selbst gewiß und übertrage diese Selbstgewißheit auf das fremde Bewußtsein. Es ist vielmehr umgekehrt: weil ich sehe, daß der fremde Mensch die gleiche Welt anders wahrnimmt als ich, muß er ein inneres Erleben haben, das sich von meiner Wahrnehmung unterscheidet: „Es wäre also möglich, daß der Einzelmensch, bevor er zu seinem eigenen inneren Selbst kam, dieses zuerst unbewußt in anderen Menschen, vor allem in Fremden, als die Ursache ihres andersartigen und bestürzenden Verhaltens voraussetzte. Mit anderen Worten: Die philosophische Tradition, für die die Erkenntnis des Fremdpsychischen in einer Logik des Schließens von der eigenen Subjektivität auf die Subjektivität anderer gründet, stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf.“ (Jaynes 1993, S.267)

Wir entdecken also unser eigenes Bewußtsein in dem Moment, wo es sich am Bewußtsein des fremden Menschen ‚bricht‘; wo also unsere Wahrnehmungsroutinen durch die Begegnung mit fremden Menschen aufgebrochen werden. Auch das wäre ein Hiatus im Plessnerschen Sinne.

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Samstag, 6. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

In der Zeit zwischen 2000 und 1000 v.Chr. begannen die Stimmen der Götter allmählich zu verstummen. (Vgl. Jaynes 1993, S.243, 306, 533) Jaynes führt das einerseits auf von einem gewaltigen Vulkansausbruch auf der griechischen Insel Thera und durch große Kriege ausgelöste Völkerwanderungen zurück, die ein solches soziales Chaos anrichteten, daß die Stimmen des bikameralen Menschen nicht damit fertig wurden (vgl. Jaynes 1993, S.257f. uns S.261ff.), und auf die Erfindung der Schrift um 2500 v.Chr. (vgl. Jaynes 1993, S.332). Die Schrift war notwendig geworden, weil die bikamerale Kultur überall dort an ihre Grenze gekommen war, wo die städtischen Zivilisationen wie in Ägypten und in Assyrien zu Großreichen angewachsen waren: „Und in der Tat meine ich, daß sich hier (in Memphis um 2100 v.Chr. – DZ) die Schwachstelle der bikameralen Psyche zeigte, ihre Unzulänglichkeit angesichts wachsender Komplexität, und daß ein solch vollständiger Zusammenbruch politischer Machtstrukturen nur daraus zu erklären ist.“ (Jaynes 1993, S.243)

Es gibt Jaynes zufolge historische, bis in die Zeit um 1000 v.Chr. zurückreichende Schriftquellen, die den Übergang von der bikameralen Kultur zum subjektiven Bewußtsein dokumentieren. Zu diesen Quellen zählt Jaynes die Ilias und die Odyssee und die Schriften des Alten Testamentes. Die von Ereignissen um 1200 v.Chr. berichtende Ilias (vgl. Jaynes 1993, S.100) handelt noch von durch und durch bikameralen Menschen, während Odysseus der erste Held der Menschheitsgeschichte ist, der in einem Epos mit einem subjektiven Bewußtsein ausgestattet wird. Die erste Niederschrift der Ilias erfolgte um 900 v.Chr. (vgl. Jaynes 1993, S.90), die der Odyssee etwa hundert Jahre später (vgl. Jaynes 1993, S.331).

Die „Helden der ‚Ilias‘“, so Jaynes, „überlegen nicht, was als nächstes zu tun sei. Sie haben kein Bewußtsein in dem Sinn, wie wir das von uns sagen, und auf gar keinen Fall verfügen sie über die Gabe der Introspektion. Für uns mit unserer Subjektivität ist es unmöglich nachzuempfinden, wie das ist. ... Stets ist es ein Gott, der die Heere in die Schlacht führt, der in kritischen Momenten zu den einzelnen Kriegern spricht, der Hektor vorschlägt und ihn lehrt, was er tun soll, der die Krieger antreibt oder ihre Niederlage bewirkt, indem er einen lähmenden Bann auf sie legt oder ihr Gesichtsfeld vernebelt. ... Kurzum, die Götter spielen die Rolle des Bewußtseins.“ (Jaynes 1993, S.94f.)

So etwas wie bewußte Täuschung, Hinterlist und Betrug kennen die Helden der Ilias nicht. Mit diesen Fähigkeiten wird erst Odysseus ausgestattet. Die Odyssee, so Jaynes, „ist das Epos des gewundenen Wegs zum Ziel. Ihr Thema ist die ‚Verschlagenheit‘: Sie wird hier entdeckt, erfunden und gefeiert.“ (Jaynes 1993, S.332)

Bemerkenswert an diesen zwei Epen ist Jaynes zufolge insbesondere, daß sie nicht von einem einzelnen Autoren verfaßt wurden, der alle Charaktere und Handlungsverläufe bewußt geplant und ausgeführt hätte. Jaynes glaubt nicht an einen einzelnen Autor namens Homer. (Vgl. Jaynes 1993, S.100) Die Autoren bzw. ‚aoidoi‘, wie Jaynes sie nennt, waren vielmehr noch bikameral geprägt. Umso erstaunlicher sei es, daß sie in der Lage gewesen waren, anhand von Odysseus’ Abenteuern eine ihnen unbekannte Bewußtseinsverfassung vorwegzunehmen: „Ich meine nämlich – und muß mich anstrengen, mir selbst zu glauben –, daß diese ganze Sagengeschichte mit ihrer gründlich durchkomponierten Anlage, in der sich unverkennbar die metaphorische Abbildung des gewaltigen Umschwungs zum Bewußtsein entdecken läßt, weder in ihren Einzelelementen verfaßt noch im Großen geplant und kompiliert wurde von Dichtern, die sich ihres Tuns bewußt gewesen wären. Es ist, als hätte sich die Gott-Komponente dem Bewußtseinszustand genähert, die rechte Hemisphäre früher als die linke. ... Wie kann ein Epos, das in sich selbst vielleicht eine Art Impulsgeber für das Bewußtsein war, von nichtbewußten Menschen verfaßt worden sein?“ (Jaynes 1993, S.337)

Wenn man aber Jaynes’ eigene Ausführungen zur rechten Gehirnhemisphäre heranzieht, so ist diese bikamerale Leistung doch nicht so ungewöhnlich, wie Jaynes an dieser Stelle meint. Schließlich liegt die Stärke der rechten Hemisphäre ja gerade in der Gestaltwahrnehmung und im Erkennen von Sinnzusammenhängen, weshalb sie ja auch lange Zeit so ein guter und verläßlicher Ratgeber des bikameralen Menschen gewesen ist. Da ist es eigentlich sogar naheliegend, daß die damaligen Menschen auf noch unbewußte Weise ahnten, was auf sie zukam und welche Veränderungen in ihrer Lebensführung notwendig werden würden. Wo die Grenzen solcher vagen Intuitionen liegen, ist schwer zu sagen. Aber möglicherweise bildet die Odyssee ja tatsächlich eine Form des Abschieds der göttlichen Stimmen aus dem Lebensalltag des Menschen.

Mit der Einführung der Schrift wurden die göttlichen Stimmen also allmählich überflüssig. Anweisungen und Gesetze konnten nun in schriftlicher Form festgehalten und abgelesen werden, ohne daß die Menschen Stimmen halluzinieren mußten, die ihnen sagten, was sie zu tun hatten. Dabei dürfte in der Übergangsphase das Lesen selbst noch mit dem Halluzinieren einer Stimme einhergegangen sein: „Lesen dürfte also im dritten Jahrtausend v.Chr. eine Sache des Hörens der Keilschrift gewesen sein, das heißt des Halluzinierens gesprochener Rede beim Betrachten ihrer Bild-Symbole, ungleich dem visuellen Lesen von Silben nach unserer Art.“ (Jaynes 1993, S.224)

In einer solchen Übergangsphase wurden auch die Gesetzestexte von Hammurabis (um 1750 v.Chr.) verfaßt. Überliefert ist der Codex Hammurabis auf einer Stele. Dazu gehört ein Relief, das Hammurabis stehend vor seinem Gott Marduk zeigt. (Vgl. Jaynes 1993, S.245) Dieses Relief sagt einiges über das Verhältnis des bikameralen Menschen zu seinen Göttern aus: „Zum Großartigsten dieser Szene gehört die trancegleiche Unerschütterlichkeit, mit der Gott und Intendant (‚Verwalter‘, also Hammurabis – DZ), beide gleichermaßen majestätisch ruhig, die Blicke ineinandersenken ... Noch nichts ist hier zu finden von den Selbstdemütigungen, der bettlerischen Haltung im Angesicht eines Gottes, wie sie nur wenige Jahrhunderte später in Erscheinung treten.“ (Jaynes 1993, S.246)

Was auf dieser Stele als Relief dargestellt wird, ist zugleich im Keim schon durch die ebenfalls auf dieser Stele schriftlich festgehaltenen Gesetze  bedroht: „Um 2100 v.Chr. begann man in Ur damit, die Urteilssprüche, die die Götter durch den Mund ihrer Statthalter kundgaben, schriftlich festzuhalten. Hier liegen die Anfänge der Idee des Rechts. Solche in Schriftform niedergelegten Urteile konnten räumlich gestreut werden und bewahrten Dauer in der Zeit ... Wir begegnen hier erstmals einem Verfahren der sozialen Kontrolle, das, wie wir im nachhinein feststellen können, binnen kurzem die bikamerale Psyche ablösen sollte.“ (Jaynes 1993, S.244f.)

Im ausgehenden vorletzten Jahrtausend v.Chr. beginnt in Assyrien eine Epoche der Gewalt- und Schreckensherrschaft, für die insbesondere der Großkönig Tiglat-Pileser I. (1115-1077 v.Chr.) steht: „Warum diese brutale Härte? Und dies zum erstenmal in der Geschichte der Zivilisation? Die einzige Erklärung liegt darin, daß die vorausgegangene Methode der sozialen Kontrolle vollständig zusammengebrochen sein mußte. Und diese Form der sozialen Kontrolle war die bikamerale Psyche. Eben diese Anwendung von Grausamkeit in dem Bemühen, eine Schreckensherrschaft aufzurichten, markiert nach meinem Dafürhalten den Übertritt zum subjektiven Bewußtsein.“ (Jaynes 1993, S.264)

Mit dem Entstehen des subjektiven Bewußtseins und der Schrift gingen dem Menschen die göttlichen Stimmen und die mit ihnen verbundenen Gewißheiten verloren. Die Schrift hatte nicht mehr dieselbe Gewalt über den Menschen wie die Stimme: „... sobald das Wort Gottes tonlos auf stummen Tontafeln oder schweigsamen Steinblöcken erschien, konnte man sich den göttlichen Befehlen oder den königlichen Anweisungen kraft eigener Anspannung zuwenden oder auch von ihnen abwenden ...“ (Jaynes 1993, S.256)

Mit dieser Abwendungsbewegung des Menschen von seinen Göttern entstand eine seltsame Ambivalenz in seiner psychischen Verfassung, die etwas mit dem zu tun hat, was ich in diesem Blog immer als ‚Seele‘ bezeichne. Ähnlich der sich gleichzeitig zeigen und verbergen wollenden Seele ging nämlich die Abwendung des Menschen von seinen Göttern mit dem Bedürfnis einher, sich diesen Göttern wieder zuzuwenden, weil die Menschen Sehnsucht nach der verlorengegangen Sicherheit hatten, die die Götter ihnen einst gegeben hatten. Zugleich wurde das Schweigen der Götter als eine Abwendung von und als ein sich Verbergen der Götter vor dem abtrünnigen Menschen empfunden. So entstand die Vorstellung von Gut und Böse und von Sünde, die der bikamerale Mensch noch nicht gekannt hatte: „... die Vorstellung von Gut und Böse, die Vorstellung von einem guten Menschen, von der Erlösung von Sünde und göttlicher Vergebung – dergleichen kam erst auf mit dem quälerischen Nachgrübeln über die Ursachen des Verstummens der göttlichen Führer.“ (Jaynes 1993, S.278)

Die Götter verbargen sich also vor dem suchenden Menschen, der sie ‚verraten‘ hatte, und es entstanden Kulte und Religionen, die an die Stelle der alten bikameralen Götter traten. Das Verstummen der Götter ist, so Jaynes, die „Geburtsstunde der modernen Religiosität“: „Noch wir selber vermögen uns in diesem psalmistischen Verlangen nach religiöser Gewißheit wiederzuerkennen, das seit der Zeit des Tukulti-Nimurta bis weit in das erste Jahrtausend v.Chr. die akkadische Literatur durchzieht.“ (Jaynes 1993, S.309)

Ein die fortwährende Unsicherheit des modernen Menschen kompensierendes ‚Relikt‘ der bikameralen Psyche bildet Jaynes zufolge u.a. die „Besessenheit“, die nicht mit der Schizophrenie verwechselt werden darf, sondern einen Bewußtseinszustand meint, in den Wahrsager und Propheten verfallen, wenn sie ihre Voraussagen und Prophezeiungen machen. Sie geht mit Bewußtseinsschwund einher, denn die betreffenden ‚Medien‘ wissen hinterher nicht, was sie gesagt oder getan haben. (Vgl. Jaynes 1993, S.415) Außerdem treten Orakel aller Art an die Stelle der bisherigen göttlichen Stimmen. Insbesondere die Los-Orakel erinnern an die heute noch beliebten Glücksspiele, wobei die Menschen in der Übergangsphase vor dreitausend Jahren und auch noch lange Zeit danach sich von uns heutigen Menschen dadurch unterschieden, daß sie nicht an Zufall glaubten. Das Werfen von Stäbchen oder Knochen, das Lesen aus den Eingeweiden von Tieren mußte in ihrer Vorstellung zwangsläufig zu verläßlichen Voraussagen über die Zukunft führen, weil alles kausal miteinander verknüpft und determiniert war: „Denn da es keinen Zufall gab, mußte das Resultat von den Göttern bewirkt sein, deren Absichten auf diese Weise offenbart wurden.“ (Jaynes 1993, S.293) – Auf diese Weise konnte man also die Götter zum Sprechen zwingen.

Dieser Glaube an umfassende Determination erinnert sehr an den Determinismus der modernen Naturwissenschaften. Auch Lévi-Strauss hatte auf diesen Zusammenhang in seinem Buch über „Das Wilde Denken“ hingewiesen. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Ganz ähnlich zieht Jaynes diese Parallele zwischen dem Bedürfnis des bikameralen Menschen und seiner ‚modernen‘ Nachfolger nach Sicherheit und Autorität und der heutigen Wissenschaft: „Auffällig wird diese Suche (nach den „verlorenen Direktiven“ – DZ) in der assyrischen Omenliteratur mit der ... die Wissenschaft anhebt. Nicht minder augenfällig wird sie ein bloßes halbes Jahrtausend später in der griechischen Kultur, wenn Pythagoras die entschwundenen Invarianten des Lebens in einer Theologie der göttlichen Zahlen und ihrer Relationen dingfest zu machen sucht und damit die Mathematik begründet. Und das geht ohne Wandel in den Motiven über zwei Jahrtausende hin weiter, bis Galilei die Mathematik als die Sprache Gottes bezeichnet und Pascal und Leibniz, das Stichwort aufnehmend, in der ehrfurchtgebietenden Ordnung der Mathematik die Stimme Gottes zu vernehmen meinen.“ (Jaynes 1993, S.530f.)

Wie schon erwähnt, bildet Jaynes zufolge auch das Alte Testament eine schriftliche Quelle, die den Übergang zwischen der bikameralen Kultur und dem modernen subjektiven Bewußtsein dokumentiert: „Die These, auf die wir uns in diesem Kapitel verpflichten wollen, besagt, daß diese herrliche Sammlung von Geschichten und Gedichten, Gelehrsamkeit und Beredsamkeit, Predigt und Poesie im groben Umriß nichts anderes darstellt als die Geschichte vom Verlust der bikameralen Psyche und ihrer Ersetzung durch die Subjektivität im Lauf des ersten Jahrtausends v.Chr.“ (Jaynes 1993, S.358f.)

Neben der in diesem Zusammenhang naheliegenden Geschichte vom Paradies (der bikameralen Epoche) und der Vertreibung aus ihr (vgl. Jaynes 1993, S.364) befaßt sich Jaynes insbesondere mit den Büchern „Amos“ und „Prediger Salomo“, die er auf das achte Jhdt. und auf das zweite Jhdt. v.Chr. datiert. Zu Amos hält Jaynes fest: „Wörter wie ‚Seele, ‚denken‘, ‚glauben‘, ‚verstehen‘ oder auch nur im entferntesten mit diesem verwandte Wörter gibt es im Buch Amos nicht. Amos erwägt niemals etwas in seinem Herzen: Dazu ist er nicht in der Lage, mehr noch: Er wüßte einfach nicht zu sagen, was das überhaupt ist. ... Sein Denken wird anderwärts für ihn erledigt.“ (Jaynes 1993, S.360f.)

Die Verfasser des Buches von Prediger Salomo verfügten hingegen schon über ein modernes subjektives Bewußtsein: „Man braucht ein Analogon ‚Ich‘, das einen Seelenraum überblickt, um so (wie Prediger Salomo – DZ) sehen zu können. Und in den berühmten Versen des 3. Kapitels: ‚Alles hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel geht vorüber nach seiner Zeit ...‘ haben wir exakt die bewußtseinstypische Spatialisierung der Zeit, ihre lineare Projektion in den inneren Raum vor uns.“ (Jaynes 1993, S.361)

In dem erst spät in das Alte Testament eingegliederten, beim Säubern und Reinigen des Tempels in Jerusalem wiederentdeckten 5. Buch Moses findet Jaynes „die quälende Sehnsucht eines subjektiv bewußten Volkes nach der verlorenen Bikameralität“. Und er hält fest: „Nichts anderes ist Religion.“ (Jaynes 1993, S.362)

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Freitag, 5. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

Der von Jaynes geprägte Begriff der bikameralen Psyche verweist auf die beiden Gehirnhälften, die die biologische Grundlage einer „Zwei-Kammer-Psyche“ bilden. Der mit so einer Psyche ausgestattete bikamerale Mensch hat kein eigenes Bewußtsein von sich und seiner Welt und läßt sich stattdessen von in der Regel aus seiner rechten Gehirnhälfte stammenden, vom wiederum in der Regel in der linken Gehirnhälfte befindlichen Wernicke-Zentrum verbalisierten ‚Stimmen‘ leiten: „Wollen, Planung und Handlungsanstoß kommen ohne irgendwelches Bewußtsein zustande und werden sodann dem Individuum fix und fertig in seiner vertrauten Sprache ‚mitgeteilt‘, manchmal allein in einem Stimmphänomen. Das Individuum gehorcht diesen Stimmen, weil es nicht ‚sieht‘, was es von sich aus tun könnte.“ (Jaynes 1993, S.98)

Die ‚Stimmen‘, die die bikameralen Menschen hören, sind für sie physisch so präsent und real wie die Stimmen ihrer realen Zeitgenossen. Sie erscheinen entweder bloß als unkörperliche Gehörshalluzinationen oder gemeinsam mit visuellen Halluzinationen entweder in Form von verstorbenen Verwandten oder in Gestalt männlicher oder weiblicher Götter. Solche individuellen Halluzinationen wurden auch in Form von Statuetten oder lebensgroßen oder überlebensgroßen Statuen der öffentlichen Anbetung durch eine Gemeinschaft zugänglich gemacht. Dabei war das „Standbild“ der Gott selbst und nicht einfach nur eine Abbildung von ihm. (Vgl. Jaynes 1993, S.221) Das unterscheidet die bikamerale Kultur des Neolithikums von der Übergangszeit zwischen dem vorletzten und dem letzten vorchristlichen Jahrtausend, wo solche Statuen und Altäre zunehmend zu „Halluzinationshilfen“ wurden, weil die Götter immer schweigsamer wurden und nicht mehr ohne weiteres von sich aus sprachen. (Vgl. Jaynes 1993, S.205)

Auslöser für die ‚Stimmen‘ war Streß. Der bikamerale Mensch war ein ‚Gewohnheitstier‘, dessen Leben nach festgelegten Mustern und Ritualen verlief. Sobald Störungen in seinem Lebensablauf auftraten, meldeten sich die Stimmen, die ihm sagten, was er jetzt zu tun habe: „Der einzig erforderliche Streß war der, der auftritt, wenn irgend etwas hinzutretend Neuartiges an einer Situation eine Verhaltensänderung notwendig macht. Alles, womit nicht auf habitueller Basis fertig zu werden war, jeder Konflikt zwischen Leistungsanforderung und Erschöpfungsgrad, zwischen Angriffs- und Fluchtmeldung, jede Wahl, wem man gehorchen und was man tun sollte, kurzum alles, was irgendeine Entscheidung erforderte, reichte aus, um eine Gehörshalluzination zu bewirken.“ (Jaynes 1993, S.120)

Durch das einfache Aufwachsen in einer bikameralen Kultur hatte sich in jedem Menschen auf individuell ontogenetischer Ebene ein reicher Erfahrungsschatz an Praktiken angesammelt, die es ihm ermöglichten, Problemsituationen zu bewältigen. Dieser Erfahrungsschatz, dieses lebensweltliche Wissen hatte (und hat auch heute noch) seinen Sitz in der rechten Gehirnhälfte, das Jaynes zufolge für Gestaltwahrnehmung und Sinnzusammenhänge zuständig ist. Auch heute noch liegt Jaynes zufolge eine „der heute residual noch verbliebenen Funktionen der rechten Hemisphäre im Organisatorischen ..., in der taxonomischen Gliederung der innerhalb einer Kultur anfallenden Erfahrungen und ihrer Integration zu einer figuralen Ganzheit, die dem Individuum ‚sagt‘, was es zu tun hat.“ (Jaynes 1993, S.149)

Die ‚Stimmen‘ des bikameralen Menschen sind mit erzieherischer Autorität ausgestattet: „Die Götter, so habe ich an früherer Stelle noch ein bißchen spekulativ gesagt, waren Amalgame aus erzieherischen Erfahrungen, Mischprodukte aus sämtlichen Befehlen, die dem Individuum je erteilt worden waren.“ (Jaynes 1993, S.136)

In diesem Sinne heißt ‚hören‘ beim bikameralen Menschen so viel wie ‚gehorchen‘. Die Autorität dieser Stimmen ist um so größer, als sie ohne Zwischenraum – es sei denn einem halluzinierten Zwischenraum – ertönen. Noch für uns heutige, moderne Menschen gehen die Worte unserer Mitmenschen uns um so mehr ‚unter die Haut‘, je geringer der Abstand des Sprechers zu uns ist. Wird ein Sicherheitsabstand überschritten, fühlen wir uns durch die Worte eines leibhaftigen Sprechers regelrecht bedroht. Um wieviel mehr, so Jaynes, muß die Gewalt von Worten empfunden worden sein, wo es wie bei den halluzinierten Stimmen keinerlei „räumliche(n) Fixpunkt“ gibt, „von dem die Stimme ausgeht: eine Stimme, der man nicht ausweichen, zu der man nicht auf Distanz gehen kann, die einem so nahe ist, ‚als wär’s ein Stück von mir‘, nämlich vom eigenen Ich ...“ (Vgl. Jaynes 1993, S.126) – „(D)ie Stimme hören“, bringt Jaynes die Befindlichkeit des bikameralen Menschen auf den Punkt, „hieß ihr gehorchen“, (Vgl. Jaynes 1993, S.127)

Ein eigentliches Zeiterleben im heutigen Sinne gab es Jaynes zufolge für den bikameralen Menschen nicht. Er lebte vom Aufstehen bis zum Schlafengehen in einem „Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele“ (vgl. Jaynes 1993, S.110): „Das Wissen des bikameralen Menschen war Verhaltenswissen, ein Reagieren auf die Hinweisreize zum Aufstehen und Schlafengehen, für die Aussaat und für die Ernte: Hinweisreize, die so wichtig waren, daß sie – wie etwa in Stonehenge – zum Gegenstand kultischer Verehrung gemacht wurden und wahrscheinlich an und für sich schon halluzinogen wirkten. Für die Angehörigen einer Kultur, in der die Achtsamkeit auf derlei Hinweisreize von einem anderen Zeitgefühl abgelöst wurde, bedeutet die krankheitsbedingte Einbuße jenes Schemas der räumlichen Aufeinanderfolge soviel wie in eine mehr oder weniger zeitgemäße Welt hineinversetzt zu werden.“ (Jaynes 1993, S.515) – In einer ‚zeitgemäßen‘ Welt, also in unserer heutigen, würden diese bikameralen Menschen wahrscheinlich auf Schizophrenie diagnostiziert.

Die bikamerale Psyche war Jaynes zufolge eine Reaktion auf die zunehmende kulturelle Komplexität des Neolithikums mit seinen ersten durch die Landwirtschaft ermöglichten städtischen Zivilisationen: „Zivilisation ist die Kunst des menschlichen Zusammenlebens in Städten von solcher Größe, daß nicht mehr jeder jeden kennt. ... Wir haben die Hypothese aufgestellt, daß es die bikamerale Psyche war, die die sozialorganisatorischen Rahmenbedingungen dafür schuf.“ (Jaynes 1993, S.185)

Es waren Jaynes zufolge die ‚Stimmen‘, die dazu beitrugen, daß die Menschen im Rahmen einer immer komplexer werdenden Arbeitsteilung bei der Stange gehalten wurden und nicht einfach bei ersten Ermüdungserscheinungen den Krempel hinschmissen, um sich irgendwo in den Schatten zu legen und sich ein Nickerchen zu gönnen. Wenn etwa ein bikameraler Mensch von seinem Clanchef die Aufgabe erhielt, ein Fischwehr anzulegen – und der Clanchef darüberhinaus selbst einen Bestandteil der inneren Stimmen dieses bikameralen Menschen bildete –, so begleitete ihn diese Stimme bei der Arbeit und drangsalierte ihn solange, bis er seine Arbeit erledigt hatte: „Ein Mensch des mittleren Pleistozäns würde sofort wieder vergessen haben, was er da zu tun im Begriff war. Doch der sprechende Mensch hätte seine Sprache, ihn daran zu erinnern: entweder indem er sich selbst das Kommando wiederholt – was einen Typ des Wollens voraussetzt, zu dem er meiner Meinung nach seinerzeit noch nicht in der Lage war – oder aber, wie es wahrscheinlich ist, vermittels wiederholter ‚innerer‘ Sprachhalluzination, die ihm sagt, was zu tun ist.“ (Jaynes 1993, S.169)

Diese Funktionsbestimmung der göttlichen Stimmen erinnert an die Zweitpersonalität, die Tomasello einer bestimmten Phase der Sprachevolution zuordnet. (Vgl. meine Posts vom 29.10. und vom 02.11.2014) Der Frühmensch vor etwa 400.000 Jahren organisierte Tomasello zufolge die  arbeitsteiligen Tätigkeiten bei der Großwildjagd über Ich-Du-Interaktionen, die noch frei waren von der dritte-Person-Perspektive einer komplexeren Sozialordnung. Ganz ähnlich haben wir es bei der bikameralen Psyche nicht etwa mit einer auf das individuelle Bewußtsein gerichteten komplexen sozialen Hierarchie zu tun, sondern mit vielen verschiedenen Ich-Du-Interaktionen zwischen dem bikameralen Menschen und seinen Göttern.

Diese Götter waren durchaus hierarchisch komplex organisiert. Es gab komplizierte Systeme von Privatgöttern bis hinauf zu kollektiven höherrangigen Gottheiten, die auch öffentlich in zentralen Gotteshäusern zur Schau gestellt wurden. (Vgl. Jaynes 1993, 226f. und S.255) Diese Gottheiten bildeten aber gegenüber dem bikameralen Menschen keine die Ich-Du-Perspektive überschreitende dritte Perspektive. Der bikamerale Mensch bedurfte dieser dritten Perspektive nicht, um in der sozialen Gemeinschaft zu funktionieren. Er mußte weder gesellschaftlich noch staatlich kontrolliert und beaufsichtigt werden. Es gab keine Polizei. (Vgl. Jaynes 1993, S.248) Polizei und staatliche Kontrolle gab es erst, als die bikamerale Kultur zusammenzubrechen begann: „In der bikameralen Epoche war die bikamerale Psyche die soziale Kontrolle – und nicht Schrecken oder Unterdrückung oder auch nur Gesetz und Recht. ... weil der bikamerale Mensch keinen inneren Raum hatte, in dem er hätte privat, also ‚für sich‘ sein können, und kein Analogon namens ‚Ich‘ ... Die Binnenbeziehungen in einem bikameral verfaßten Staatsgebilde waren daher höchstwahrscheinlich friedlicher und freundschaftlicher als in jeder anderen Zivilisation seither.“ (Jaynes 1993, S.252)

Deshalb ist Jaynes’ Vergleich der göttlichen Stimmen mit Freuds Überich irreführend. (Vgl. Jaynes 1993, S.97) Jenseits des Ich-Du zwischen dem bikameralen Menschen und seinen Göttern gab es keine dritte Perspektive bzw. kein Überich, dem er sich hätte unterwerfen müssen, weil er einfach keine Vorstellung davon hatte, was es überhaupt hätte bedeuten können, sich seinen Göttern zu widersetzen. Der bikamerale Mensch lebte mit seinen Mitmenschen und mit seinen Göttern in genau der moralfreien dyadischen Zweitpersonalität, wie sie Michael Tomasello dem Frühmenschen zuordnet.

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Donnerstag, 4. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

2. Bewußtseinstheorien
3. Metaphern
4. Differenz von Innen und Außen

Die Differenz zwischen Innen und Außen bildet Jaynes zufolge ein unverzichtbares Moment eines jeden Bewußtseins. Mit dem Verlust dieser Differenz geht beim modernen, mit subjektivem Bewußtsein ausgestatteten Menschen eine schwere Geisteskrankheit einher: „Und wenn es (das Ich-Bewußtsein – DZ) dann, wie das in der Schizophrenie geschieht, zu schwinden und der Raum, in dem es zu Hause ist, einzustürzen beginnt – was für eine grauenhafte Erfahrung muß das sein!“ (Jaynes 1993, S.510)

Der Schizophrene befindet sich in derselben psychischen Verfassung wie der bikamerale Mensch. Er unterscheidet sich von diesem nur dadurch, daß er in einer Kultur lebt, die dieser psychischen Verfassung keine Anerkennung gewährt: „Im Ergebnis ist der Schizophrene eine schutzlos ihrer Umwelt preisgegebene Psyche, ein Lakai der Götter in einer entgötterten Welt.“ (Jaynes 1993, S.528)

So wichtig also die Konstitution eines Innenraums ist, eines Raums, in dem sich ein „Analogon unserer selbst“, ein ‚Ich‘ herausbilden kann (vgl. Jaynes 1993, S.510), so sehr betont Jaynes demgegenüber aber auch, daß wir es hier nicht mit einem realen physischen Ort, einem im Körper lokalisierbaren physiologischen „Gewebe“ (Jaynes 1993, S.61) zu tun haben: „Tatsächlich hat das Bewußtsein überhaupt keinen Ort außer dem, den wir ihm in unserer Vorstellung zuweisen.“ (S.62f.) – Das Bewußtsein entsteht allererst durch metaphorische Projektion. (Vgl. meinen gestrigen Post)

Die durch metaphorische Projektion auf den psychischen Innenraum übertragenen Raumeigenschaften (vgl. Jaynes 1993, S.74) verwandeln sich in eine Reihe von psychologischen Prädikaten. Die fundamentalste Eigenschaft, aus der sich die meisten anderen Prädikate ergeben, besteht in der Innenräumlichkeit selbst, die Jaynes auch als „Spatialisierung“ der menschlichen Psyche bezeichnet: „Eben dieser metaphorische ‚innere‘ Raum ist es, in den wir bei der Introspektion ... hineinblicken und den wir dabei fortwährend neu erzeugen und mit jedem Ding und jeder Relation, die wir neu ‚ins‘ Bewußtseins aufnehmen, ‚erweitern‘.“ (Jaynes 1993, S.79) – Der mit subjektivem Bewußtsein ausgestattete moderne Mensch setzt Jaynes zufolge „diese ‚Räume‘“ „umstandslos“ voraus: „Sie gehören zum ‚Bewußtsein haben‘ (im eigenen Fall) und zum (fraglos unterstellten) ‚Fremdbewußtsein‘ einfach mit dazu.“ (Jaynes 1993, S.80)

Unmittelbar verbunden mit dieser räumlichen Spatialisierung ist auch eine Spatialisierung der Zeit, die wir nach räumlichen Mustern strukturieren: „Es ist unmöglich – absolut unmöglich –, sich die Zeit vorzustellen, ohne sie zu verräumlichen.“ (Jaynes 1993, S.80) – Ohne Konstitution eines inneren psychischen Raums gibt es also kein Vorher und Nachher, keine Vergangenheit und keine Zukunft und keine Gegenwart.

Ebenfalls unmittelbar mit der Spatialisierung hängt die Möglichkeit eines „Ich (qua Analogon)“ zusammen, „das sich in unserer ‚Vorstellung‘ stellvertretend ‚frei bewegen‘ und dabei ‚tun‘ kann, was wir realiter nicht tun.“ (Jaynes 1993, S.83) – Während das analogische Ich also einen stellvertretend handelnden Agenten bzw. neudeutsch ein ‚Avatar‘ unseres Bewußtseins bildet, unterscheidet Jaynes davon noch ein „Ich (qua Metapher)“. (Vgl. ebenda) Damit ist im Unterschied zum Agenten eine Art Beobachtungs-Ich gemeint, über das wir reflektieren und urteilen können. Es ist eher ein Gegenstand von Meditationen als ein Subjekt von Handlungen.

Ein weiteres unmittelbar aus der Spatialisierung unserer Psyche hervorgehendes Moment des Bewußtseins bildet Jaynes zufolge die „Narrativierung“. Damit ist das gemeint, was die heutigen Psychologen als autobiographisches Ich bezeichnen: „Der Dieb narrativiert sein Handeln in einen Kausalzusammenhang mit der Armut, der Künstler mit der Schönheit, der Wissenschaftler mit der Wahrheit, wobei Ursache und Zweck unauflöslich mit eingeflochten sind in die Spatialisierung des Verhaltens im Bewußtsein.“ (Jaynes 1993, S.84)

Alle diese Merkmale des Bewußtseins hängen mit seiner Innenräumlichkeit zusammen und gehen mit deren Auflösung verloren: „Mit der Auflösung des ‚Ich‘-qua-Analogon und seines Seelenraums wird das Narrativieren zu einer Unmöglichkeit. Es ist, als ob alles, was im Zustand der Normalität narrativiert wurde, in Assoziationen auseinanderfalle, die wohl von irgendeiner allgemeinen Sache beherrscht sein können, jedoch in keinerlei Beziehung zu einem einheitsstiftenden begriffenen Zweck oder Ziel stehen, wie es bei der normalen Narrativierung der Fall ist.“ (Jaynes 1993, S.516)

Die anderen „Eigenschaften des Bewußtseins“ (Jaynes 1993, S.79), die Jaynes aufzählt, sind eigentlich seiner eigenen Definition nach keine Eigenschaften des Bewußtseins, sondern gehören auch zum bewußtlosen Verhaltensrepertoire von Tieren und des bikameralen Menschen. Bei diesen ‚Bewußtseinseigenschaften‘ handelt es sich um die Fähigkeit zur „Exzerpierung“ und zur „Kompatibilisierung“.

Mit der etwas umständlichen Formulierung „Exzerpierung“ ist letztlich nichts anderes gemeint als die Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung, zu den wahrgenommenen sichtbaren Teilen eines Gegenstands die nichtsichtbaren Rückseiten dieses Gegenstands hinzuwahrzunehmen. Wir sehen die Dinge immer als Ganzes und nicht als Fragmente, weil wir in der Lage sind, die Teile stellvertretend für das Ganze zu nehmen: „Aus dem Ensemble der möglichen ‚Hinsichten‘ – der ‚Aspekte‘ einer Sache, die ipso facto Teilaspekte sind – greifen wir ein Stück heraus, ein ‚Exzerpt‘, das unser Wissen vom Ganzen in sich verkörpert.“ (Jaynes 1993, S.81)

Mit „Kompatibilisierung“ ist gemeint, daß wir unsere Wahrnehmungen den Kontexten und Situationen anpassen, in denen wir sie wahrnehmen. Wir können dieselben Gegenstände, Landschaften und Personen unter den verschiedensten Umständen und zu den verschiedensten Zeiten als dieselben wiedererkennen: „Das reale Urbild jenes Bewußtseinsmerkmals ist das schlichte Wiedererkennen, bei dem ein maßvoll mehrdeutiges Wahrnehmungsobjekt einem zuvor erworbenen Schema angeglichen wird ...“ (Jaynes 1993, S.85)

Exzerpierung und Kompatibilisierung bilden zugleich Momente der Narrativierung. Die narrativierende Sinnstiftung, mit der wir Handlungsverläufe nach Szenenabfolgen gliedern, entspricht der Gestaltwahrnehmung und bildet gewissermaßen das psychische Analogon zur physischen Außenwelt: „Die Kompatibilisierung setzt Einzelelemente zur Einheit eines Bewußtseinsgegenstands zusammen, genauso wie die Narrativierung Einzelelemente zur Einheit einer Geschichte zusammensetzt.“ (Jaynes 1993, S.85)

Aus der Narrativierung gehen letztlich alle Kulturleistungen hervor. Im Grunde sind sämtliche Kulturleistungen nichts anderes als Narrativierungen, und sie erhalten durch die Narrativierung zugleich immer schon eine normative Komponente: „Meine Vermutung geht dahin, daß die Narrativierung aus dem Bedürfnis entstand, die Ergebnisse zurückliegender politischer Entwicklungen zu normieren: Das Epos stattet den Bericht von den Ereignissen mit der normativen Kraft des Kodex aus.“ (Jaynes 1993, S.269)

Das normierende Potential der Narrativierung ist im Sicherheitsbedürfnis des subjektiven Bewußtseins begründet, das ein fortgesetztes Bestreben nach Selbstvergewisserung nach sich zieht. Deshalb ist die Lage des Schizophrenen, der der „Quellen der Sicherheit und der Narrativierungsfähigkeit beraubt“ ist und „von Halluzinationen heimgesucht“ wird, „die von den Menschen in seiner Umgebung als illegitim und irreal verworfen werden“ (vgl. Jaynes 1993, S.527), in einer auf subjektivem Bewußtsein basierenden Kultur so desolat. Er lebt einfach in der falschen Kultur und in der falschen Zeit.

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Mittwoch, 3. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

2. Bewußtseinstheorien
3. Metaphern
4. Differenz von Innen und Außen

Julian Jaynes will die verschiedenen Bewußtseinstheorien sprachanalytisch nach ihren unterschiedlichen „Verwendungsweisen“ untersuchen, um so ihre Brauchbarkeit beurteilen zu können. (Vgl. Jaynes 1993, S.34) Mit dieser kritischen Funktion, in der der eigentliche Zweck der sprachanalytischen Methode besteht, läßt Jaynes es aber nicht bewenden. Er weist ihr auch die positive Funktion zu, zu klären, was Bewußtsein tatsächlich ist: nämlich ein Nebeneffekteffekt der sprachlichen Evolution. Die Entwicklung des Bewußtseins, so Jaynes, „kann nur nach der Entwicklung der Sprache stattgefunden haben.“ (Vgl. Jaynes 1993, S.89; vgl. auch S.87 und S.159)

Damit bewegt sich Jaynes zwar im Mainstream des das 20. Jhdt. prägenden linguistic turn, aber seine Position ist wie bei allen seinen in „Der Ursprung des Bewußtseins“ vertretenen Thesen doch gleichermaßen originell wie anregend. Anders als die Sprachanalytiker seiner Zeit legt Jaynes die Sprache nicht auf das Verwenden von Begriffen fest. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß er den Ursprung des Bewußtseins auf die Zeit zwischen vier- und dreitausend Jahren vor heute in einer Phase des Übergangs von den bikameralen Menschen des Neolithikums – den „Natoufiens“, wie Jaynes sie auch nennt (vgl. Jaynes 1993, S.177) – zum modernen subjektiven Bewußtsein ansetzt. ‚Begriffe‘ sind traditionell derart mit einem rationalen Bewußtsein verknüpft, das sich seines Denkens bewußt ist, daß der Gebrauch von Begriffen immer schon ein Bewußtsein voraussetzt, wie auch umgekehrt ein Bewußtsein immer schon die Fähigkeit impliziert, über Begriffe zu verfügen. Wäre aber die Sprache immer schon wesensmäßig eine Begriffssprache, könnte das individuelle subjektive Bewußtsein nicht erst Jahrtausende nach dem Ursprung der Sprache, den Jaynes mit dem Neolithikum vor 12.000, frühestens aber vor 40.000 Jahren ansetzt (vgl. Jaynes 1993, S.163), aufdämmern.

Also führt Jaynes den Ursprung des  Bewußtseins nicht auf die Begriffssprache zurück, sondern auf die Verwendung von Metaphern. Unter ‚Metaphern‘ versteht er aber wiederum etwas anderes, als hier im Blog bislang von mir immer behauptet wurde. Ich verstehe unter Metaphern eine Überlagerung von mindestens zwei verschiedenen sprachlichen Bedeutungen, durch die eine neue Bedeutung geschaffen wird. Das vergleiche ich gerne mit Bildern. Reale Wahrnehmungen, Zeichnungen und Gemälde, Photographien haben mit sprachlichen Bildern gemeinsam, daß man sie auf verschiedene Weise fokussieren kann. Ich kann von einem gleichbleibenden Hintergrund verschiedene Vordergründe abheben. Metaphern sind also niemals eineindeutig, anders als Begriffe, denen man qua Definition eindeutige Bedeutungen zuweisen kann.

Ganz anders Jaynes: für ihn sind Metaphern tatsächlich eineindeutig. (Vgl. Jaynes 1993, S.76) Ihre Funktion erschöpft sich Jaynes zufolge ganz und gar nicht darin, sprachliche Bilder zu erzeugen. Vielmehr haben diese Bilder Verweisungscharakter. Metaphern sind nicht etwa expressiv, wie ich es immer behaupte, sondern referentiell. Sie verweisen auf einen neuen Gegenstand bzw. auf eine neue Bedeutung, die es vor der Erfindung einer Metapher so noch nicht gegeben hat. Metaphern schaffen neue Bedeutungen (vgl. Jaynes 1993, S.65f.) – darin gehen Jaynes und ich durchaus konform –, aber hinsichtlich dieser neuen Bedeutungen – und darin unterscheidet sich Jaynes’ Position von meiner – sind die Metaphern genauso referentiell wie irgendein anderes Wort oder irgendein anderer Begriff. Mit dieser Eineindeutigkeit von Metaphern schließt Jaynes die mit der Bildhaftigkeit von Metaphern verbundene individuelle Perspektivierbarkeit innerhalb eines weitergefaßten Bedeutungsspektrums aus. Im Grunde funktionieren bei ihm Metaphern wie Begriffe.

Diese Festlegung von Metaphern auf Referentialität und auf Eineindeutigkeit verleiht ihnen ein projektives Potential, das Jaynes zufolge für die Entstehung von Bewußtsein entscheidend ist. Einfache Metaphern wie „Schneedecke“ beziehen Bilder nur auf gegebene Situationen. Sie erschaffen zwar neue Bedeutungen, aber keine neuen Realitäten. So erschafft die Metapher der Schneedecke nur die Vorstellung – und verweist zugleich auf sie –, „daß die Erde unter der Schneedecke geborgen Winterschlaf hält, bis sie im Frühjahr wieder erwacht“. Das „steckt“, so Jaynes, in der einfachen „Verwendung der Wörter ‚Decke‘ und ‚einhüllen‘ für die Art und Weise, wie der Schnee sich zum Unterboden verhält“. (Vgl. Jaynes 1993, S.76)

Es gibt Jaynes zufolge aber darüberhinaus auch Metaphern, deren projektive Kraft nicht nur neue Bedeutungen, sondern auch neue Realitäten erschafft. Und dazu gehört das Bewußtsein. Um diese Funktionsweise von Metaphern zu erklären, entwickelt Jaynes eine originäre Theorie der Metapher, wie ich sie in dieser Form noch nirgendwo anders gelesen oder gehört habe.


Jaynes bezeichnet die Fähigkeit der Sprache, Metaphern zu bilden, als den „eigentliche(n) Wesensgrund der Sprache“. (Vgl. Jaynes 1993, S.64) Letztlich kann jedes Wort zur Metapher werden, wenn wir es aus seinem ursprünglichen Verwendungszusammenhang entfernen und eine neue Verwendung dafür finden. Indem wir es ‚zweckentfremden‘, wird es zur Metapher. Es nimmt gewissermaßen seine alte Bedeutung aus dem ursprünglichen Verwendungszusammenhang mit und schafft mit ihr im neuen Verwendungszusammenhang eine neue Bedeutung. So ist es auch mit dem Wort ‚sehen‘ geschehen. Ursprünglich eine Grundeigenschaft unseres Gesichtssinns kann es zu einer Metapher für eine Bewußtseinsleistung werden: „Wir ‚sehen‘ die Lösung eines Problems, die uns womöglich noch ‚glanzvoll‘ erscheint. Während wir dem einen Menschen ein ‚helles‘ Köpfchen zugestehen, scheint es bei anderen in dieser Hinsicht ‚düster‘ oder ‚trübe‘ auszusehen. Diese Ausdrücke sind samt und sonders Metaphern, und der Innenraum, auf den sie sich beziehen, ist eine Metapher des realen Raums.“ (Jaynes 1993, S.73f.)

In Anlehnung an die Operatoren in der Mathematik bezeichnet Jaynes das Verb ‚sehen‘ als einen Metaphorator, der sich auf einen Metaphoranden bezieht. (Vgl. Jaynes 1993, S.65f.) Der Metaphorand ist das Bewußtsein. Anders als bei der „Schneedecke“ bildet das Bewußtsein aber keine real vorhandene Situation, auf die sich die Metapher des Sehens bezieht. Diese Metapher erzeugt vielmehr allererst ihren Metaphoranden. Ohne ein Bewußtsein, das eine Lösung sehen kann, bzw. ohne ein Wort wie ‚sehen‘, das wir auf eine bestimmte Bewußtseinsleistung anwenden können, gäbe es das Bewußtsein nicht! – Die „metaphorische Relation“, so Jaynes, wird zur „Erzeugungsbedingung des Bewußtseins“. (Vgl. Jaynes 1993, S.75)

Die Metapher ‚sehen‘ ist aber nicht einfach nur irgendein Wort, das ich aus seinem ursprünglichen Verwendungszusammenhang entnehme. Wie schon angedeutet, folgt dieser Metapher ihre ursprüngliche Wortbedeutung, die nicht einfach nur in einer einfachen Fähigkeit, der Sehleistung, besteht. Dazu gehören auch alle möglichen Aspekte der Räumlichkeit und eben auch der Unterscheidung von Hintergründen und Vordergründen etc. Diese verschiedenen Aspekte des Sehens bezeichnet Jaynes als Paraphoratoren, die ebenfalls auf das Bewußtsein übertragen werden, so daß es selbst zu etwas Räumlichem wird, zu einem Innenraum. (Vgl. Jaynes 1993, S.74)

So entsteht auch die Differenz von Innen und Außen, von der Jaynes festhält, daß sie ein grundlegendes Moment jedes Bewußtseins bildet. Nur in einem Innenraum, getrennt von der Außenwelt, kann sich ein „Analogon unserer selbst“, ein Ich-Bewußtsein herausbilden: „... dieses Ding, das einzig uns in den Stand setzt, narrativierend die Lösungen für unsere persönlichen Entscheidungsprozesse zu finden und zu wissen, wohin wir uns bewegen und wer wir sind.“ (Jaynes 1993, S.510)

Um die Wirkungsweise von Metaphoratoren und Paraphoratoren, von Metaphoranden und Paraphoranden zu erklären, verwendet Jaynes wiederum eine Metapher, die zugleich auch nochmal verständlich macht, inwiefern Metaphern „eineindeutig“ sind. Jaynes’ zentrale Metapher für die Entstehung von Bewußtsein ist die Landkarte:
„Jedem Gebietssektor in der Natur entspricht ein Sektor auf der Karte, wenngleich das Gelände und die Karte aus völlig verschiedenen Materialien bestehen und die Merkmale des Geländes bei der Abgleichung völlig entfallen. Die Beziehung nun zwischen dem Analogon Landkarte und dem dazugehörigen Gelände ist metaphorischer Natur. Wenn ich auf einen Punkt auf der Landkarte zeige und sage: ‚Da ist der Montblanc, von Chamonix aus können wir die Ostwand auf diesem Weg erreichen‘, ist das eigentlich eine verkürzte Art zu sagen: ‚Die Beziehung zwischen dem als ‚Montblanc‘ bezeichneten Punkt und anderen Punkten auf der Karte ähneln den Verhältnissen in der Natur.‘“ (Jaynes 1993, S.72f.)
Die Beziehung zwischen der Landkarte und der Natur ist also metaphorisch. Jedem Punkt auf der Karte entspricht eineindeutig ein realer Punkt in der Landschaft. Auch hier haben wir es wieder mit realen Situationen und Gegebenheiten zu tun und nicht mit der Erschaffung neuer Realitäten wie dem Bewußtsein. Aber interessanterweise kann man die Landkarte und die Landschaft auf verschiedene Weise zueinander ins Verhältnis setzen. Ein Kartenzeichner und Landvermesser ist vor allem daran interessiert, reale Eigenschaften einer Landschaft auf die Karte zu übertragen. In diesem Fall fungiert die Landschaft als Metaphorator und die Karte als Metaphorand: der Blick geht von der Landschaft auf die Karte. Der normale Benutzer einer Landkarte hingegen versucht, die Zeichen auf der Karte mit örtlichen Gegebenheiten zu verbinden. In diesem Fall ist die Karte der Metaphorator und die Landschaft ist der Metaphorand: der Blick geht von der Karte auf die Landschaft. (Vgl. Jaynes 1993, S.78)

Ganz ähnlich wechseln die Projektionen im Bereich des Bewußtseins: „Das Bewußtsein ist der Metaphorand, wenn es von den Paraphoranden unserer sprachlichen Ausdrücke erzeugt wird. Aber das Bewußtsein in Funktion ist sozusagen die Reise in die Gegenrichtung: Es wird zum Metaphorator voll vergangener Erfahrungen, in fortwährender selektiver Operation mit Unbekannten befaßt ... Und wir verdanken es der vorgängig erzeugten Bewußtseinsstruktur, daß wir uns in der Welt zurechtfinden.“ (Jaynes 1993, S.79)

So wie das Bewußtsein durch die Metapher des Sehens erzeugt wird, so erzeugt nun wiederum umgekehrt das Bewußtsein seine Welt. Es wird vom Metaphoranden zum Metaphorator. Das Bewußtsein  überträgt seine Paraphoratoren, die Erfahrungen, auf die Außenwelt und macht sie zu deren Paraphoranden. Je nach dem, wie wir unsere Erfahrungen organisieren – nach Begriffen, Formeln, mathematischen Gesetzen oder nach Metaphern und Imaginationen – entstehen auf der einen Seite die Naturwissenschaften und die Technik, und auf der anderen Seite entstehen Literatur, Kunst und alle möglichen Arten kultureller Institutionen. Wir sehen die Welt und machen aus ihr immer jeweils das, was wir von ihr denken.

Jaynes’ referentielle Sicht auf die Metapher unterschlägt natürlich, wie weiter oben schon angedeutet, deren expressives Moment als Ausdruck seelischer Stimmungen. In diesem Blog habe ich diese Expressivität immer mit Plessners Beschreibung der Seele als einem Noli-me-tangere verknüpft. Die Seele ist dabei eine Form des Verhaltens auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Sie will sich gleichzeitig zeigen und verbergen, und genau dieses Schwanken bezeichne ich mit Plessner als Seele.

Tatsächlich finden sich solche expressiven Aspekte auch bei Jaynes. So spekuliert er darüber, ob das wechselseitig hemmende Verhältnis zwischen der rechten und der linken Hemisphäre – überlassen wir uns unseren rechtsseitigen Intuitionen, stört das Bewußtsein; analysieren wir linksseitig rational-kritisch Begriffe, stören uns die rechtsseitigen Emotionen – vielleicht einen Hinweis auf „höhere() Geistesprozesse“ enthält, möglicherweise in dem Sinne, daß wir diese höheren Geistprozesse „als Resultanten aus der Gegenstrebigkeit der beiden Hemisphären“ verstehen können. (Vgl. Jaynes 1993, S.523) An dieser Stelle ist Jaynes nahe dran an einer expressiven Verhältnisbestimmung dessen, was ich in diesem Blog als ‚Seele‘ bezeichne.

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