„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 24. März 2015

Lew Semjonowitsch Wygotski, Denken und Sprechen. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann, Stuttgart 1964/1969 (1934)

1. Prolog: Tomasello und Rousseau
2. Zusammenfassung
3. Experimentelle Methode
4. Innerer Dialog und Egozentrismus
5. Strukturen der Verallgemeinerung
6. Folien und Meridiane
7. Rekursivität?
8. Wortbedeutung
9. Situationsbegriff
10. Subjekte und Prädikate
11. Gesetz der Bewußtwerdung

Wygotski zufolge sind Verallgemeinerung und Wortbedeutung Synonyme: kein Wort (außer Eigennamen natürlich) bezieht sich nur auf einen Gegenstand. Deshalb, so Wygotski, ist jede „Begriffsbildung“ immer auch ein „Denkakt“, und jedes ausgesprochene Wort bildet eine „Einheit von Wort und Gedanke“. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.293)

Im Sinne der Kantischen Apperzeption werden unsere Wahrnehmungen erst durch Verbalisierung ‚sinnvoll‘, d.h. bewußt. Auch Kants „Ich denke“, das ich meinen Wahrnehmungen und Erlebnissen hinzufügen können muß, bildet ja letztlich nur so eine Verbalisierung. Mit Wygotski kann man also sagen, daß ich meine spontanen und zufälligen Wahrnehmungen erst durch Verbalisierung unter meine Kontrolle und in meinen Besitz nehme. ‚Spontan‘ meint hier sowohl ‚unbewußt‘ wie auch bruchstückhaft und unsystematisch. Die einzige Kritik, die Wygotski an Piagets Begriff des egozentrischen Sprechens hat, richtet sich deshalb nicht auf die damit verbundene Behauptung, daß das primäre Sprechen des Kindes nur ein Sprechen ohne Gesprächspartner sei, sondern sie beinhaltet, daß die eigentliche Differenz, um die es geht, Wygotski zufolge die Differenz zwischen spontanem und nicht-spontanem Sprechen, zwischen unbewußten Alltagsbegriffen und bewußten wissenschaftlichen Begriffen sei: „Wir haben festgestellt, daß die Ursache für die Nichtbewußtheit der Begriffe nicht im Egozentrismus, sondern in der Unsystematik der spontanen Begriffe liegt. ... das Bewußtwerden erfolgt über ein System ...“ (Wygotski 1964/1969, S.210)



Der Synkretismus des kindlichen Bewußtseins steht deshalb zugleich auch für eine sinnlose Wahrnehmungsweise. Damit aber verstellt sich Wygotski den Blick für den inneren Zusammenhang von Gestalt- und Bildwahrnehmungen und von Begriffsbildungen. Kein Begriff kann dem Anspruch einer vollkommenen und durchgängigen Definiertheit durch ein zusammenhängendes System erfüllen, wie ihn Wygotski aufstellt: „Wenn Bewußtwerden Verallgemeinerung bedeutet, dann ist es ganz offensichtlich, daß Verallgemeinerung (ihrerseits) nichts anderes bedeutet als Bildung eines Oberbegriffs, in dessen System der Verallgemeinerung der betreffende Begriff als Sonderfall eingeschlossen ist.“ (Wygotski 1964/1969, S.207)

An die Stelle der ‚Gestalt‘ setzt Wygotski die ‚Struktur‘, wobei er aber dieses Wort recht ambivalent verwendet. Denn es ist gerade auch das „Dunkel des allgemeinen Strukturalismus“ der Gestaltpsychologie seiner Zeit, das Wygotski immer wieder kritisiert. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.298)  Daß er selbst den Strukturbegriff als Verallgemeinerungsprinzip ins Zentrum seiner eigenen Überlegungen stellt, kümmert ihn dabei wenig. Wygotskis ‚Strukturalismus‘-Vorwurf richtet sich auf die von den Gestaltpsychologen seiner Ansicht nach vorgenommene Gleichsetzung der Wahrnehmung von Wörtern bzw. Wortbedeutungen mit der Wahrnehmung von konkreten Dingen und Gegenständen. Er wendet sich gegen die Vorstellung, daß wir beim Sprechen mit Wörtern hantieren wie mit konkreten Gegenständen, als wären Wörter Dinge. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.297)

Darauf wird in einem späteren Post noch einzugehen sein. Für jetzt bleibt festzuhalten, daß Wygotskis eigener Strukturbegriff für ein Verallgemeinerungsprinzip steht, das dem Begriff der formalen Bildung in der Pädagogik entspricht. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.218) An einem einzelnen konkreten Fall kann etwas Allgemeines, also ein neuer Begriff, so gelernt werden, daß er mit einem Schlag das ganze bisherige Begriffsystem des Lernsubjekts neu organisiert, ohne daß es mühsam und kleinschrittig Wort für Wort umstrukturiert werden müßte. Es ist etwa so, als würfe man einen Stein in einen See, und er wird zum Kristallisationskeim einer sich in Sekundenschnelle schließenden Eisfläche. So einen Kristallisationskeim bildet auch der formalbildende Schulunterricht: „Dies ergibt sich aus der Auffassung, daß das Lernen ein struktureller und sinnvoller Prozeß ist.“ (Wygotski 1964/1969, S.217f.)

Der Begriff der Struktur steht also bei Wygotski für den Begriff der Gestalt, mit der er nichts anzufangen weiß. Die Gestalt ist immer etwas konkret Individuelles, wie etwa ein Bild, die Porträtaufnahme eines Menschen: sie bildet nur ein konkretes Individuum ab. Wygotski geht es aber um das Allgemeine, das er mit dem Denken gleichsetzt. Und dieses Allgemeine beginnt mit dem Individuell-Allgemeinen der einzelnen Wortbedeutung, die verallgemeinert, indem sie das konkrete Einzelne aus seinem Wahrnehmungskontext herauslöst und es in den Bereich der Vorstellungen überträgt, in dem ein einzelnes Wort immer für viele Dinge stehen kann.

Dabei bildet die gesprochene, mündliche Sprache immer noch nur die unterste Stufe dieses Verallgemeinerungsprozesses, weil auch das gesprochene Wort noch auf einen Kontext angewiesen ist. Das erinnert an Fritz Mauthner mit seiner Sprachkritik, derzufolge die Sprache immer der Vervollständigung durch einen Kontext bedarf. (Vgl. meinen Post vom 23.10.2013) Darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch zu sprechen kommen.

Bei der inneren Sprache erreichen wir einen neuen Verallgemeinerungsgrad, insofern die mit den Wörtern verbundenen Vorstellungen von ihrer lautlichen Bindung befreit werden. Sie bedürfen auch keiner Ergänzung durch einen äußeren Kontext mehr, da Wygotski zufolge der mit sich selbst sprechende Mensch immer schon weiß, was er meint. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.227)

In der Schriftsprache ist die Befreiung des Wortes von der lautlichen Bindung noch weitgehender, da sie, einmal niedergeschrieben, nicht einmal mehr innerlich gesprochen werden muß. Sie bedarf auch der Gegenwart eines Denksubjekts mit seinem aktuellen Denkkontext nicht mehr und ist insofern unabhängig von Zeit und Raum. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.336f.)

Was den Verallgemeinerungsgrad der Schriftsprache betrifft, vergleicht Wygotski sie mit der Algebra in der Mathematik. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.225) Zahlen abstrahieren wie gesprochene Wörter vom einzelnen Gegenstand. Die Algebra hingegen abstrahiert auch von den Zahlen, so wie die Schriftsprache vom gesprochenen Wort abstrahiert. Deshalb bildet die Mathematik, als Abstraktion von der Sprache, die höchste Form der Verallgemeinerung: „Die völlige Beseitigung der Nichtübereinstimmungen zugunsten des Allgemeinen und ein richtiger Ausdruck wird zweifellos nur außerhalb der Sprache und ihrer Gewohnheiten in der Mathematik erreicht.“ (Wygotski 1964/1969, S.306)

Einen Sonderfall stellt das Erlernen einer Fremdsprache dar. Während die Muttersprache Bedeutungen ein für alle mal an bestimmte, in konkreten Lebenszusammenhängen gesprochene Wörter geknüpft hat, werden diese Bedeutungen nun beim Erlernen einer Fremdsprache aus dieser 1:1-Zuordnung von Bedeutung und Wort befreit und damit grundsätzlich variabel verknüpfbar: „Die Bedeutung des Wortes oder des Begriffs erlangt, da sie bereits mit zwei verschiedenen Wörtern zweier Sprachen ausgedrückt werden kann, also gewissermaßen aus ihrer unmittelbaren Bindung in der Muttersprache herausgelöst wird, eine relative Selbständigkeit, wird von der lautlichen Seite der Sprache differenziert und folglich als solche bewußt.“ (Wygotski 1964/1969, S.261) – Damit wird eine Beweglichkeit in der Analyse und in der Synthese von Wortbedeutungen erreicht, wie sie den wissenschaftlichen Begriffen entspricht. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.151)

Die zunehmende Verallgemeinerung und Befreiung des Wortes von der gesprochenen Sprache und der Vorstellungen und Bedeutungen von den Wörtern hat auf der Ebene der Syntax ihren Preis. Kann die auf einen anwesenden Gesprächspartner angewiesene mündliche Sprache auf eine vollständige Syntax weitgehend verzichten, weil der gemeinsame Kontext das gesprochene Wort ergänzt, ist die Schriftsprache auf eine maximal vollständige Syntax angewiesen, weil nur so der fehlende Kontext ersetzt werden kann. Der vom Schreiber zeitlich und räumlich getrennte Gesprächspartner ist allein auf das geschriebene Wort beschränkt, um sich dessen Bedeutung lesend erarbeiten zu können.

An dieser Stelle macht sich wieder Wygotskis Festhalten am Begriff der egozentrischen Sprache bemerkbar. Er konstatiert, daß die geschriebene Sprache eine Sprache „ohne Gesprächspartner“ sei. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.333) Aber die Schriftsprache ist keineswegs eine Sprache ohne Gesprächspartner, so wenig wie die innere Sprache eine Sprache ohne Gesprächspartner ist! Innere Sprache und Schriftsprache unterscheiden sich an dieser Stelle vor allem darin, daß die innere Sprache eine Sprache der maximalen Verschmelzung der Gesprächspartner ist, im Sinne einer Zweitpersonalität (vgl. meinen gestrigen Post), in der sich ‚Ich‘ als ‚Du‘ imaginiert. Demgegenüber ist die Schriftsprache eine Sprache der maximalen Trennung der Gesprächspartner, nicht ihres Fehlens!

Jan Assmann spricht in diesem Fall von einer zerdehnten Situation und bringt damit zum Ausdruck, daß wir es auch beim Schreiben immer noch mit einem zusammenhängenden Kontext zu tun haben, der das Schreiben des Schreibers und das Lesen des Lesers ergänzen muß. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Das ändert zwar nichts an den von Wygotski vorgenommenen Differenzierungen zwischen innerer, mündlicher und schriftlicher Sprache, insofern diese Sprechweisen sich tatsächlich prinzipiell hinsichtlich des Verhältnisses der Gesprächspartner zueinander unterscheiden lassen. Aber die Annahme, daß es so etwas wie ein egozentrisches Sprechen geben könnte, wird damit doch grundsätzlich in Frage gestellt.

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