„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 22. März 2015

Lew Semjonowitsch Wygotski, Denken und Sprechen. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann, Stuttgart 1964/1969 (1934)

1. Prolog: Tomasello und Rousseau
2. Zusammenfassung
3. Experimentelle Methode
4. Innerer Dialog und Egozentrismus
5. Strukturen der Verallgemeinerung
6. Folien und Meridiane
7. Rekursivität?
8. Wortbedeutung
9. Situationsbegriff
10. Subjekte und Prädikate
11. Gesetz der Bewußtwerdung

In der Psychologie gibt es anscheinend ein ähnliches Problem mit dem disziplinären Status wie in der Pädagogik, wo sich schon Johann Friedrich Herbart (1776-1841) vor über 200 Jahren darüber beklagt gehabt hatte, daß der Pädagogik die einheimischen Begriffe fehlten. Auch die Psychologie scheint nach dem Urteil der Zeitgenossen Piagets aus vielen verschiedenen Psychologien bestanden zu haben, so daß das „Fehlen eines einheitlichen wissenschaftlichen Systems“ dazu führte, „daß jede über eine einfache Anhäufung von Einzelfakten hinausgehende Neuentdeckung von Tatsachen auf irgendeinem Gebiet der Psychologie“ dazu zwang, „eine eigene Theorie zu schaffen, um die neu gefundenen Tatsachen und Abhängigkeiten zu erklären“. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.18) – Mit anderen Worten: Man forschte eifrig drauf los, ohne zu wissen, was dabei rauskommen sollte, und bastelte sich dann zu den gefundenen Daten die passende Theorie. Irgendwie kennt man das ja auch heute noch, etwa in den Neurowissenschaften. (Vgl. meinen Post vom 05.06.2013)

Das Fehlen einer einheitlichen Theorie in der Psychologie bereitete Piaget solche Bauchschmerzen, daß er recht paradoxe Konsequenzen daraus zog. Er schlug die Flucht nach vorne ein und vertrat offensiv den Standpunkt, daß jede Theorie in der empirischen Forschung prinzipiell nichts zu suchen habe; nach dem Motto, wo es keine Theorie gibt, kann es auch keine theoretische Zersplitterung des disziplinären Status der Psychologie geben. Er wollte also nicht nur zu Beginn seiner Experimente auf Theorie verzichten, sondern er wollte sie auch hinterher keiner theoretischen Analyse und Interpretation unterziehen: „Die größte Gefahr ist nach Piaget eine voreilige Verallgemeinerung von Versuchsergebnissen und das Risiko, unter vorgefaßten Meinungen und Vorurteilen zu stehen. Deshalb enthält er sich auch einer allzu systematischen Darstellung und aller Verallgemeinerungen über die Grenzen der Kinderpsychologie hinaus. Er möchte sich nur auf die Analyse von Fakten beschränken und nicht auf die philosophischen Probleme solcher Tatsachen eingehen. Aber er muß zugeben, daß die Logik, die Geschichte der Philosophie und die Erkenntnistheorie mit der Entwicklung der kindlichen Logik in Verbindung stehen. Und so schneidet er nolens-volens viele Probleme aus diesen Grenzgebieten an, obwohl er mit erstaunlicher Konsequenz seinen Gedankengang dann unterbricht, wenn er dicht an die verhängnisvolle Grenze zur Philosophie herangekommen ist.“ (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.49) – Piagets Antwort auf den Zustand der Psychologie seiner Zeit war also die pure, theoriefreie Empirie.

Wygotski hält mit aller wünschenswerten Deutlichkeit fest, daß das so nicht geht. Die Probleme mit der Theorie lassen sich nicht dadurch lösen, daß man auf Theorie verzichtet: „... wer die Tatsachen untersucht, muß das unweigerlich im Lichte der einen oder anderen Theorie tun, zumal die Tatsachen unlösbar mit der Philosophie verknüpft sind; insbesondere solche Fakten der Entwicklung des kindlichen Denkens, wie sie von Piaget mitgeteilt und analysiert sind.“ (Wygotski 1964/1969, S.19)

Was Wygotski der Psychologie seiner Zeit vorwirft, ist weniger das Übermaß an miteinander inkommensurablen Theorien als vielmehr ihr Molekularismus. Anstatt die Analyse psychischer Phänomene mit der Bestimmung der ihnen zugrundeliegenden fundamentalen psychischen Einheiten zu beginnen, wird von vornherein davon ausgegangen, daß man analog zur naturwissenschaftlichen Methodik immer bis zu den kleinsten psychischen Elementen vordringen müsse, um das Ganze eines psychischen Phänomens zu verstehen. Das ist aber ungefähr so sinnvoll wie die chemische Zerlegung des Wassers in seine Elemente Wasserstoff und Sauerstoff, um die Eigenschaften des Wassers zu erklären. Wasser ist nicht brennbar und löscht Feuer. Wasserstoff ist hingegen brennbar und Sauerstoff fördert die Verbrennung. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.8 und S.292) Durch diese Molekularzerlegung wird also nichts erklärt.

Auch die Sprachpsychologie ist durch diesen Molekularismus gekennzeichnet. Anstatt nach den fundamentalen Einheiten der Sprache zu suchen, zerlegt sie die hörbare Sprache in ihre akustischen Elemente. Das Denken wird vom Sprechen getrennt und als ein selbständiges psychisches Phänomen getrennt vom Sprechen untersucht. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.14) Die spezifischen Eigenschaften des sprachlichen Denkens können so nicht erfaßt werden. Wygotski hingegen sieht die nicht weiter zerlegbare fundamentale Einheit des sprachlichen Denkens, die als „Teileinheit“ alle wesentlichen Eigenschaften des sprachlichen Denkens in sich vereint, in der Wortbedeutung: „...in der Wortbedeutung ist die Teileinheit verankert, die wir sprachliches Denken nennen. Ein Wort bezieht sich niemals auf irgendeinen einzelnen Gegenstand, sondern auf eine ganze Gruppe oder eine ganze Klasse von Gegenständen.“ (Wygotski 1964/1969, S.11)

Da jedes Wort als solches schon eine Verallgemeinerung darstellt – also sich auf viele gleichartige Gegenstände bezieht – und da das Denken Wygotski zufolge in der Hauptsache einen Verallgemeinerungsprozeß darstellt, bildet schon das Aussprechen (oder das sich-Vorstellen) eines Wortes einen Denkakt. Die Wortbedeutung bildet also eine fundamentale Teileinheit des sprachlichen Denkens, und Wygotski macht sie zum Hauptgegenstand seiner experimentellen Methode.

Zur essentiellen Möglichkeit seiner experimentellen Methode gehört auch, daß es in der Entwicklung des inneren Denkens eine hörbare Phase gibt, die es dem Experimentator ermöglicht, das Kind beim Denken zu beobachten: die egozentrische Sprache. Wygotski zufolge bildet die egozentrische Sprache, also das die Aktivitäten des Kindes begleitende mit-sich-selbst-Sprechen, eine Übergangsphase von dem sozialen, an andere gerichtete Sprechen hin zum inneren Sprechen, das eine Form des verbalen Denkens bildet, mit dessen Hilfe das Kind sich ihm stellende Probleme zu lösen versucht. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.38) Die egozentrische Sprache ist also der „Schlüssel zur Untersuchung der inneren Sprache“: „Ihr erster Vorteil besteht darin, daß sie eine noch vokalisierte, eine Lautsprache darstellt, d.h. eine ihrer Erscheinungsform nach äußere, ihrer Funktion und ihrer Struktur nach jedoch zugleich innere Sprache ist.“ (Wygotski 1964/1969, S.315)

Eine experimentelle Untersuchung der inneren Denkentwicklung anhand der Wortbedeutung ist also möglich. Dabei geht es Wygotski um vier Aspekte: er will nachweisen, daß sich die Wortbedeutungen im Kindesalter entwickeln; er will den Entwicklungsweg der wissenschaftlichen Vorstellungen verfolgen; er will die Beziehung der Schriftsprache zum Denken klären; und er will das psychologische Wesen der inneren Sprache untersuchen. (Wygotski 1964/1969, S.3) Wie sehr ihn dabei aber die Konzeption einer egozentrischen Sprache mit ihrer für seine Experimente zentralen methodischen Bedeutung behindert, wird im nächsten Post zu klären sein.

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