„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Februar 2015

Mittwoch, 4. Februar 2015

Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2/2015

(Verlag C.h. Beck, 848 Seiten mit 120 Abbildungen, davon 60 in Farbe, und 19 Karten, Leinen 39,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methode I: Lückenhaftigkeit der Befunde
3. Methode II: kulturelle Modernität
4. Körperleib und Bruch

Parzinger nennt immer wieder prägnante Wendepunkte in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die er als „definitiv“ und als „irreversibel“ bezeichnet. (Vgl.u.a. Parzinger 2/2015, S.24 und 39) Zu diesen Wendepunkten zählt Parzinger die Zähmung des Feuers, bestimmte Werkzeuge wie die Speerschleuder und die Nähnadel (vgl. Parzinger 2/2015, S.31 und 107) und die Übergänge zwischen verschiedenen Ernährungsweisen (Pflanzenfresser/Aasfresser/Raubtier (vgl. Parzinger 2/2015, S.25ff., 698)) bis hin zum „grundlegendste(n) Wandel“, dem „Schritt vom aneignenden zum produzierenden Wirtschaften“ (vgl. Parzinger 2/2015, S.122) im Neolithikum: also dem Schritt zur Landwirtschaft.

Trotz dieser verschiedenen Zäsuren will Parzinger die einzelnen geschichtlichen Ereignisse nicht als Brüche im großen Kontinuum der Menschwerdung verstanden wissen, die er vielmehr als einen Naturprozeß interpretiert. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.67) Diese Interpretation paßt aber nicht zu Parzingers Forderung, auch der menschlichen Vorgeschichte den „Status der Geschichtlichkeit“ zuzuerkennen. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.12) Als „Teil der Natur“ (Parzinger 2/2015, S.67) kann die Evolution des Menschen nur als Stammesgeschichte, eben als Vorgeschichte des heutigen Menschen verstanden werden.

Parzinger will aber auch nicht darauf verzichten, die Menschheitsgeschichte insgesamt als einen großen Sprung zu verstehen. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.106) Das macht aber nur in zwei sich gegenseitig ausschließenden Hinsichten Sinn: entweder sollen wir, und das scheint Parzinger zu meinen, die verschiedenen Einzelereignisse in ihrer Summe als einen großen Sprung verstehen, so daß wir es im Hintereinanderreihen dieser ‚Schritte‘ gewissermaßen mit einem Sprungkontinuum zu tun haben. So bildet z.B. der Dreisprung in der Leichtathletik einen aus drei kleineren Sprüngen bestehenden großen Sprung.

Oder aber wir geben dem großen Sprung, der die gesamte Menschheitsgeschichte durchzieht, noch einmal eine besondere anthropologische Qualität, im Sinne eines „grundlegende(n) Bewegungsgesetze(s)“ (vgl. Parzinger 2/2015, S.697), das Parzinger aber nur  auf die Notwendigkeit der „Versorgung mit Nahrung“ bezogen wissen will (vgl. Parzinger 2/2015, S.14).

Ich nehme jedenfalls an dieser Stelle Parzingers Hinweis auf einen großen, die gesamte Menschheitsgeschichte durchziehenden Sprung zum Anlaß, mich einer entsprechenden anthropologischen Fragestellung zuzuwenden. Dabei verstehe ich den Begriff des Sprungs im doppelten Sinne zum einen als Bruch, wie etwa bei einer gesprungenen Tasse oder einem gesprungenen Glas, und zum anderen als Sprung über die Kluft zwischen der einen und der anderen Seite, also zwischen Tier und Mensch, der diese Kluft überwindet, ohne sie zu schließen.

Es gibt verschiedene Ansätze, über diese Kluft zu sprechen, ohne daß es in einen Leib-Seele-Dualismus mündet, in dem das Körperliche mit dem Tierischen gleichgesetzt und davon eine geistige Substanz abgespalten wird. Bei diesen Ansätzen geht es vielmehr um eine Anatomie des Menschlichen. So spricht Hans Blumenberg immer gerne vom aufrechten Gang und dem damit verbundenen Horizontgewinn. Diesen Horizontgewinn interpretiert Blumenberg sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht im Sinne einer actio per distans. Was mit dem Blick auf den Horizont räumlich in die Ferne rückt, ist zugleich auch zeitlich weit weg. Man sieht, was auf einen zukommt, und hat Zeit darauf zu reagieren. Planung und Vorsorge werden möglich.

Das ist übrigens ein Aspekt, den Parzinger selber anspricht, den er aber nicht auf den aufrechten Gang, sondern auf eine Jagdwaffe, den Speer bezieht: „Sicher scheint, dass Homo erectus kräftiger war als der moderne Mensch und es besser vermochte, mit einem Wurfgeschoss sicher sein Ziel zu treffen. Das Werfen muss für ihn zu einer neuen Wahrnehmung von Raum und Entfernung und zu einem veränderten Umgang mit diesen Dimensionen geführt haben.“ (Parzinger 2/2015, S.35f.)

Das macht es auch verständlich, warum Parzinger der Speerschleuder eine so enorme Bedeutung als einer ersten Maschine in der Menschheitsgeschichte zuspricht. (Parzinger 2/2015, S.107) Sie erweitert noch einmal diesen Ausblick ins Weite und Ferne. Allerdings kann man mit Blumenberg dagegen halten, daß der Speer erst durch den aufrechten Gang möglich wird, dieser ursprünglichsten, anatomisch begründeten Horizonterweiterung der Menschheit.

Einen anderen anatomischen Ansatz hat Helmuth Plessner. Er setzt Gehirn und Körper zueinander in Beziehung, allerdings nicht in dem schon in meinem Post vom 02.02.2015 angesprochenen Sinne von Hirnvolumen und Körpermasse. Vielmehr bildet sich im Verhältnis von Kopf und Körper ein Weltverhältnis ab, das beim Menschen in ein Selbstbewußtsein mündet. Plessner spricht vom Körperleib. Das Gehirn bildet dabei ein Organ unter Organen, als Teil des menschlichen Organismusses (Körper). Zugleich ist es über den Kopf dem Körper gegenübergestellt und bildet so dessen Zentralorgan (Leib). Diese ‚Anatomie‘ bezeichnet Plessner auch als exzentrische Positionalität, und er überträgt sie auf das menschliche Weltverhältnis: der Mensch ist gleichzeitig Zentrum und Peripherie, Teil der Welt und ihr gegenübergestellt.

Das spezifisch Menschliche ist in Plessners Anthropologie deshalb nicht in den Notwendigkeiten der „Versorgung mit Nahrung“ begründet. Plessner legt noch nicht einmal den Fokus auf den kulturellen Aspekt, also auf die Art und Weise, in der der Mensch den Herausforderungen begegnet, vor die ihn die Nahrungsversorgung stellt. Es ist vielmehr das alltägliche Scheitern, durch das die tägliche Nahrungsaufnahme gekennzeichnet ist, das dem Menschen seine prekäre Existenz vor Augen führt und ihn seiner selbst bewußt werden läßt. Indem er sich zu diesem täglichen Scheitern verhält, erweist er sich als Mensch, d.h. als ein Wesen, das sein Leben nicht einfach lebt, sondern führt.

Deshalb durchzieht dieser Sprung, als Bruch, die gesamte Menschheitsgeschichte, als ihr grundlegendes Bewegungsgesetz, das sich nicht an einzelnen Ereignissen festmachen läßt. Allerdings ist es erst die Schrift, die diese exzentrische Positionalität zu ihrer vollen Wirksamkeit kommen läßt. Bis dahin erstreckte sich die Menschheitsgeschichte über so lange Zeiträume, daß der historische Wandel individuell nicht zum Bewußtsein kommen konnte. Erst die Schrift ermöglichte ein echtes historisches Bewußtsein und die volle Erkenntnis der kulturellen Kontingenz.

Auch Parzinger selbst verweist an verschiedenen Stellen auf körperleibliche Momente der Menschwerdung. Auch er spricht vom „aufrechten Gang“ und von der „vielfältig einsetzbare(n) Greifhand“, die er als ein „Organ des Verstehens“ bezeichnet. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.20f.) Das erinnert an André Leroi-Gourhans anthropologische Verhältnisbestimmung von „Hand und Wort“ (1964/65). Parzinger spricht ganz ähnlich von „Hand und Verstand“. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.21) Um so bedauerlicher ist es, daß eine Auseinandersetzung Parzingers mit Leroi-Gourhan fehlt.

An Plessner erinnert wiederum Parzingers Hinweis auf das „sprichwörtliche Fingerspitzengefühl“. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.21) Dieses Fingerspitzengefühl erinnert an Plessners Grenzbestimmung zwischen Innen und Außen, die sich in den tastenden Fingerspitzen mit einer maximalen Empfindsamkeit verbindet. Tastende Zuwendung und hastiges Zurückschrecken sind hier gleichsam eins und versinnbildlichen das Noli-me-tangere der Seele.

Wenn wir den Menschen kulturell und individuell in diesem Sinne anthropologisch als prekär situiert beschreiben, dann haben wir es tatsächlich mit einem die gesamte Menschheitsgeschichte durchziehenden ‚Sprung‘ zu tun und nicht einfach nur mit einzelnen Ereignissen, die wir geneigt sind als ‚Fortschritte‘ mißzuverstehen. Tatsächlich haben wir es, wie Parzinger selbst hervorhebt, mit fortgesetzten Abbrüchen und Abstürzen zu tun, mit einer universellen „Hinfälligkeit aller menschlichen Kultur“. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.15f.)

Da fällt es dann schon auf, daß die stabilsten Gesellschaftsformen die Wildbeutergemeinschaften des Paläolithikums gewesen waren. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.729f.) Die dem Fortschrittsdenken verpflichteten Präshistoriker sprechen in diesem Zusammenhang übrigens von einer „ökologischen Bremse“, insofern der „Überfluss der Natur“ eine „nachhaltige Weiterentwicklung“ verhinderte (vgl. Parzinger 2/2015, S.730), was auch immer mit ‚nachhaltiger‘ Weiterentwicklung gemeint sein mag. Vielleicht aber waren „Menschen- und Lebensform“ (Parzinger 2/2015, S.62) in den Wildbeutergemeinschaften auch nur in besonderer Weise zur Deckung gekommen. Und ihre Gehirne sollen auch größer gewesen sein.

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Dienstag, 3. Februar 2015

Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2/2015

(Verlag C.h. Beck, 848 Seiten mit 120 Abbildungen, davon 60 in Farbe, und 19 Karten, Leinen 39,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methode I: Lückenhaftigkeit der Befunde
3. Methode II: kulturelle Modernität
4. Körperleib und Bruch

Im letzten Post habe ich geschrieben, daß sich ohne Spekulation mit der lückenhaften Befundlage in der Paläontologie nichts anfangen läßt. Um aber auf rationale Weise ‚spekulieren‘ zu können, bedarf es eines begrifflichen Rahmens, innerhalb dessen die wichtigsten Begriffe und ihr Gebrauch geklärt sind. Zu diesen Begriffen gehören in Parzingers Buch ‚Modernität‘ und ‚Geschichte‘ und eine zumindestens grobe Differenzierung zwischen ‚anatomischer‘ und ‚kultureller‘ Modernität. Weiterhin gehören dazu eine Differenzierung zwischen ‚Kontinuität‘ und ‚Diskontinuität‘ und eine Differenzierung zwischen ‚Ausdruck‘ und ‚Mitteilung‘ bzw. ‚Kommunikation‘. Trotz des häufigen Gebrauchs dieser Begriffe verzichtet Parzinger aber weitgehend auf ihre Klärung. Das führt zu sich widersprechenden Deutungen der archäologischen Befunde.

Da Parzinger den mit der Erfindung der Schrift verbundenen kulturellen Bruch zur viele Jahrhunderttausende umfassenden Phase der Mündlichkeit leugnet und er auch der sogenannten Vorgeschichte des Menschen echte Geschichtlichkeit attestiert (vgl. Parzinger 2/2015, S.12), verlegt er den Beginn der Moderne weit nach vorne und setzt sie mit dem ersten Auftreten des homo sapiens gleich: „Der fortan weltweit verbreitete Homo sapiens gilt jedoch nicht nur in anatomischer Hinsicht als moderner Mensch, sondern all das, was wir über ihn und sein Handeln wissen, weist ihn auch als kulturell modern aus.“ (Parzinger 2/2015, S.60)

Den Begriff der Geschichtlichkeit setzt Parzinger sogar noch früher an: „Immer dann, wenn der Mensch schöpferisch tätig wird, nimmt er sein Geschick in die Hand und gestaltet Geschichte. Insofern ist es verfehlt, dem Leben und der Zeit unserer frühesten Vorfahren den Status der Geschichtlichkeit abzusprechen und sie als Vor-Geschichte abzutun.“ (Parzinger 2/2015, S.12)

Damit wird auch die früheste Bearbeitung von Steinwerkzeugen durch den homo erectus schon als geschichtlich eingestuft. Die Frage, ob der Begriff der Geschichtlichkeit nicht sinnvollerweise mit dem Bewußtsein der Menschen verknüpft sein müßte, die sich selbst und ihr eigenes Handeln als geschichtsbeeinflussend und schicksalsverändernd wahrnehmen, kann so gar nicht mehr gestellt werden. Wenn der „lange Weg zum anatomisch wie auch kulturell modernen Menschen“, wie Parzinger schreibt, über Jahrzehntausende „ausgesprochen kontinuierlich“ verlief, „weil selbst solche Veränderungen, die uns im Rückblick äußerst abrupt erscheinen, bei genauerem Hinsehen doch Jahrtausende in Anspruch nahmen“ (vgl. Parzinger 2/2015, S.105), fragt man sich, wo denn dieses geschichtliche Bewußtsein hergekommen sein sollte. Man muß wohl eher von „shifting baselines“ ausgehen, einem evolutionären Prozeß, der sich dem individuellen und kulturellen Bewußtsein der Menschen entzog.

Es macht also wenig Sinn, die Begriffe der Modernität und der Geschichte so weit auszudehnen, daß sie die ganze Entwicklungsgeschichte des homo sapiens und des homo erectus umfassen. Immerhin schlägt Parzinger eine weitergehende Differenzierung des Begriffs der Modernität vor, indem er zwischen anatomischer und kultureller Modernität unterscheidet. Der Begriff der anatomischen Modernität umfaßt dann neben dem homo sapiens auch noch den Neanderthaler: „Von einem anatomisch modernen Menschen spricht man dann, wenn die Anatomie eines fossilen Menschen innerhalb der Variationsbreite des modernen Menschen liegt.“ (Parzinger 2/2015, S.57) – Und: „Da, wie wir gesehen haben, die Erbanlagen des Neandertalers innerhalb der Variationsbreite des homo sapiens lagen und mithin keine Veranlassung besteht, die beiden in zwei biologische Arten mit unterschiedlich stark ausgeprägter kultureller Modernität zu scheiden – die sich auch im archäologischen Material der Übergangszeit so nicht abbildet –, darf die These aufgegeben werden, kulturell modernes Verhalten wäre auch nur beim anatomisch modernen Menschen anzutreffen.“ (Parzinger 2/2015, S.62)

Wenn also auch der Neanderthaler schon als anatomisch modern bezeichnet werden kann, schlußfolgert Parzinger konsequenterweise, ist die kulturelle Modernität von der Anatomie des Menschen unabhängig: „Menschen- und Lebensform“ bilden keine Einheit! (Vgl. Parzinger 2/2015, S.62) Das ist eine anthropologisch anspruchsvolle These. Weitergedacht würde sie zu einer exzentrischen Positionierung des Menschen führen, wie sie Helmuth Plessner vorgenommen hat. Es gibt in Parzingers Buch auch verschiedene Ansatzpunkte für eine solche Vertiefung des Begriffs der kulturellen Moderne. So ist zum Beispiel von der Fragilität der menschlichen Kulturen die Rede: „Das Signum aller Kulturen, denen er (der Leser – DZ) bei der Lektüre (von Parzingers Buch – DZ) begegnen wird, ist ihre Fragilität. Sie erheben sich, halten sich – mitunter gar für Jahrtausende – und verschwinden ausnahmslos wieder.“ (Parzinger 2/2015, S.15)

Dieser Fragilität steht die Stabilität von Wildbeutergesellschaften gegenüber: trotz teilweise „fortgeschrittener sozialer Komplexität“ „befanden sich Wildbeutergemeinschaften stets in einem Zustand ausgeprägter Stabilität.“ (Parzinger 2/2015, S.729) – Offensichtlich gibt es hier eine deutliche kulturelle Differenz zwischen Wildbeutergesellschaften und Agrargesellschaften, die sicher nicht unerheblich für einen gehaltvollen Begriff kultureller Modernität ist.

Außerdem ist an verschiedenen Stellen von ‚Wendepunkten‘ (vgl. u.a. Parzinger 2/2015, S.23f.) in der Entwicklung des Menschen die Rede, die Parzinger vor allem an der „Zähmung“ des Feuers (vgl. Parzinger 2/2015, S.31) und der Nutzung von Werkzeugen wie der Speerschleuder, die Parzinger auch als erste „Maschine“ in der Menschheitsgeschichte bezeichnet, und an der Erfindung der Nähnadel festmacht (vgl. Parzinger 2/2015, S.107). Diese Wendepunkte bezeichnet Parzinger als „definitiv“. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.24) Mit ihnen unterscheidet sich der Mensch „ein für alle Mal vom Tier“. (Vgl. Parzinger, 2/2015, S.39) Solche Formulierungen verleihen diesen Wendepunkten etwas Apodiktisches und Irreversibles und deuten so etwas wie einen Bruch in der Entwicklung der Menschheit an. Parzinger spricht sogar explizit vom „große(n) Sprung“ in der Menschheitsgeschichte, der „auf etwas ganz und gar Irreversibles (verweist)“, den er aber nicht an einem einzelnen Ereignis festgemacht, sondern auf die „gesamte Menschheitsgeschichte“ bezogen wissen will. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.106)

Anstatt also an diesen kulturellen Phänomenen – Fragilität und Stabilität der Lebensformen, Werkzeug- und Technikgeschichte – einen gehaltvollen, analytischen Begriff kultureller Modernität herauszuarbeiten, zerdehnt er diese epochalen Grenzmarken, indem er sie großzügig auf die ganze Länge der menschlichen Stammesgeschichte bezieht. Alle Einzelphänomene, die auf eine Diskontinuität (Irreversibilität) hindeuten, werden ein- und demselben übergreifenden Kontinuum der Naturgeschichte eingeordnet: „So wenig wie die Natur sich in Sprüngen entwickelte, so allmählich ging auch die kulturelle Entwicklung des Menschen als eines Teils der Natur vonstatten.“ (Parzinger 2/2015, S.67)

Zum Begriff kultureller Modernität hätte aber auf jeden Fall auch eine Klärung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität gehört und damit auch eine Differenzierung zwischen biologischer Evolution, menschlicher Stammesgeschichte und kultureller Entwicklung. Mit anderen Worten: die Paläontologie bedarf einer anthropologischen Bestimmung des Menschen, die die Interpretation archäologischer Befunde unterstützt. Indem Parzinger aber das grundlegende „Bewegungsgesetz“ des Menschen auf die „Versorgung mit Nahrung“ zurückführt (vgl. Parzinger 2/2015, S.14), setzt er die Anthropologie so tief an, daß die Tier-Mensch-Grenze dadurch nicht geklärt, sondern nivelliert wird. Aus anthropologischer Perspektive ist nicht die Notwendigkeit der Nahrung bemerkens- und bedenkenswert – ernähren müssen sich auch die Tiere –, sondern die Art und Weise, wie der Mensch vom Vegetarier zum Aasfresser (vgl. Parzinger 2/2015, S.698), vom Aasfresser zum Jäger (vgl. Parzinger 2/2015, S.699) und schließlich zum Nahrung produzierenden, seßhaften Landwirt wurde. Anders als die Tiere ist der Mensch nicht durch seine biologische Natur auf eine bestimmte Ernährungsweise festgelegt. Es bedarf also einer anthropologischen Bestimmung des Menschen, die dieses kulturelle Moment reflektiert.

Einen Ansatz dazu liefert Parzinger selbst, wenn er die „komplexe(n) und planvoll durchgeführte(n) Handlungsabfolgen“ bei der Herstellung von die Ernährung sicherstellenden Werkzeugen thematisiert. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.24) Auf sozialer Ebene bezieht sich Parzinger auf die kommunikative Abstimmung von Jägergruppen bei der Großwildjagd. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.34, 37) Hier fehlen allerdings entsprechende Differenzierungen, wie wir sie von Michael Tomasello kennen.

Zu einem entsprechenden Begriffsrahmen hätte also auch eine Klärung des Kommunikationsbegriffs gehört. Dabei hätte es nahegelegen, Michael Tomasellos Begriff der geteilten Intentionalität zu diskutieren. Tatsächlich verweist Parzinger im Literaturverzeichnis auf Tomasello. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.740) Aber so, wie Parzinger nirgendwo in seinem Buch näher auf die Literatur eingeht und sich mit einzelnen Autoren auseinandersetzt, fehlt auch an dieser Stelle jede inhaltliche Auseinandersetzung mit Tomasello.

Eine solche Auseinandersetzung wäre gerade dort wünschenswert gewesen, wo Parzinger vom „Bedürfnis“ des Menschen „zur Mitteilung und zur Kommunikation von ganz bestimmten Inhalten und Botschaften“ spricht. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.88) Hier spricht Parzinger ein wichtiges Kommunikationsmotiv an, wie es Tomasello der Fähigkeit des Menschen zur geteilten Intentionalität zuschreibt. Dieses Kommunikationsmotiv besteht darin, zu wissen, was für den anderen Menschen relevant ist, und in dem Wunsch, ihm helfen.

An anderen Stellen, wo Parzinger sich mit der Eiszeitkunst und der Höhlenmalerei befaßt, tauchen gelegentlich Formulierungen auf, die eine Differenzierung zwischen ‚Mitteilung‘ im Sinne von Information (Tomasello) und ‚Ausdruck‘ im Sinne von Expressivität (Plessner) andeuten. So beschreibt Parzinger Verzierungen an Werkzeugen und Schmuckstücke als kulturelle „Ausdrucksformen“, und er betont ihre Relevanz als „kennzeichnende() Merkmale()“ der kulturellen Modernität. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.73; vgl. auch S.85) – Hier hätte es nur noch eines weiteren Gedankenschritts hin zu einer Bestimmung dessen bedurft, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet.

Eine Differenzierung zwischen Expressivität und Informativität hätte also nahegelegen. Daraus hätte sich eine anthropologische Bestimmung des Menschen ergeben, die den Tier-Mensch-Übergang nicht nivelliert und dennoch den Begriff der kulturellen Modernität für einen späteren Zeitpunkt in der Menschheitsentwicklung hätte aufsparen helfen. Dann hätten auch die Begriffe der Geschichte und der Geschichtlichkeit wieder einen Sinn ergeben, der ihnen durch ihre Ausdehnung auf die menschliche Stammesgeschichte verloren gegangen ist.

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Montag, 2. Februar 2015

Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2/2015

(Verlag C.h. Beck, 848 Seiten mit 120 Abbildungen, davon 60 in Farbe, und 19 Karten, Leinen 39,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methode I: Lückenhaftigkeit der Befunde
3. Methode II: kulturelle Modernität
4. Körperleib und Bruch

Bevor ich auf Parzingers Methodik eingehe, möchte ich noch ein paar Worte zum Buch selbst schreiben. Es fällt auf, daß in einem Buch, dessen Autor einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, die verschiedenen Aussagen, die in ihm gemacht werden, an keiner Stelle über Verweise zur Fachliteratur belegt werden. Parzinger geht nicht einfach nur sparsam mit solchen Verweisen um. Er verzichtet vielmehr völlig darauf. Stattdessen befindet sich am Ende des Buches ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das pauschal für das gesamte Buch auf die zu seinem Thema gehörige Fachliteratur verweist. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.735-821)

Wer sich aber als Leser einen pauschalen Überblick über die dem Buch zugrundeliegende Fachliteratur verschaffen will, wird erheblich dadurch behindert, daß der Autor die Literatur kapitelweise ordnet. Bei 16 Kapiteln bedeutet das, daß der Leser es mit 15 verschiedenen Literaturverzeichnissen zu tun hat (für das sechzehnte Kapitel verzichtet der Autor auf ein Literaturverzeichnis). Der Leser ist also gezwungen, 15 verschiedene Literaturverzeichnisse zu durchblättern, um die vom Autor verwendeten Belege annähernd beurteilen zu können. Ich frage mich, warum der Autor es seinem Leser so schwer macht und ob er sich mit seinem Buch vielleicht nur an ein Laienpublikum wendet, das seiner Ansicht nach an wissenschaftlichen Belegen nicht sonderlich interessiert ist.

Dazu paßt, daß Parzinger die Quellen zu den von ihm verwendeten Abbildungen und Karten im Anhang zwar nachweist (vgl. Parzinger 2/2015, S.822ff.), aber zu Abbildungen und Karten selbst leider detailliertere Legenden fehlen. Es gibt meist nur kurze, pauschale Hinweise auf die Themen dieser Abbildungen, die aber oft eine größere, oft auch durchnummerierte Anzahl von Artefakten oder graphischen Elementen beinhalten. Diese einzelnen Bildelemente, wie etwa Steinwerkzeuge, Skulpturen und Keramikfragmente, werden in der Legende nicht entsprechend aufgelistet, und so bleibt für den Leser letztlich unklar, was genau da im Einzelnen abgebildet wird.

Zieht man neben den im letzten Post erwähnten, ausgesprochen detaillierten Ausführungen zu regionalen Entwicklungsverläufen den Umstand in Betracht, daß es zwar noch ein Register geographischer Begriffe (vgl. Parzinger 2/2015, S.828ff.) und ein Register archäologischer Kulturen (vgl. Parzinger 2/2015, S.844ff.) gibt, aber ein Autoren- und Personenregister fehlt, erweckt Parzingers Buch insgesamt eher den Eindruck eines Lexikons als einer Monographie.

Soweit ich bei meiner Recherche durch das kapitelweise zergliederte Literaturverzeichnis nicht völlig verwirrt worden bin, fällt mir insbesondere auf, daß zwei Namen nicht auftauchen: Jan Assmann und André Leroi-Gourhan. Was Jan Assmann betrifft, läßt sich das vielleicht dadurch erklären, daß Parzingers Hauptthese in der weitgehenden Irrelevanz der Schrift für die Geschichte der Menschheit besteht. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn Parzinger seinen Ansatz durch eine fundierte Auseinandersetzung mit Vertretern der gegenteiligen These begründet hätte. Und dazu hätte unbedingt Jan Assmann gehört.

Das Fehlen von André Leroi-Gourhan läßt sich aber nun überhaupt nicht rechtfertigen. Immerhin hat Leroi-Gourhan sich intensiv im Detail mit der eiszeitlichen Höhlenmalerei auseinandergesetzt (vgl. meine Posts vom 01.03. bis 08.03.201324.03.2013), der ja auch Parzinger eine prominente Position in der Menschheitsentwicklung einräumt (vgl. Parzinger 2/2015, S.77ff., 87f., 90, 93, 106, 109). Parzingers Aussagen zur Höhlenmalerei sind aber wiederum nur pauschalisierend und beinhalten kaum detailbezogene Analysen. Wenn Parzinger, gewissermaßen im ‚Vorübergehen‘, von den „Mythen und Geschichten“ spricht, die „vielleicht“ auf die „Eiszeitkunst“ eingewirkt haben könnten (vgl. Parzinger 2/2015, S.89), vermißt man die analytische Tiefenschärfe eines Leroi-Gourhan, der die Höhlenmalerei einem dreidimensionalen Graphismus zuordnet, der schon auf die spätere Schriftlichkeit vorausweist, aber noch von einer primären Mündlichkeit, eben durch „Mythen und Geschichten“ geprägt ist.

Damit komme ich aber auch schon zu dem von Parzinger hervorgehobenen grundsätzlichen methodischen Problem: bezogen auf Stein- und Knochenfiguren, insbesondere solche Mischfiguren aus Mensch und Tier („Löwenmensch“ (Parzinger 2/2015, S.81)) konstatiert Parzinger, daß man der „weit ausdifferenzierten geistigen Vorstellungswelt des Homo sapiens“ mit spekulativer Zurückhaltung begegnen sollte: „Wir sollten ihr zunächst einmal die Fremdheit zugestehen, mit der sie uns begegnet, ehe wir sie allzu eilfertig mit naheliegenden Hypothesen über frühen Schamanismus etikettieren und kommerzialisieren.“ (Parzinger 2/2015, S.80)

Mit dieser Mahnung zur Zurückhaltung hat Parzinger sicher sehr recht. Aber was bedeutet das für eine Wissenschaft wie die Archäologie, deren „Fundüberlieferung“, wie Parzinger nüchtern feststellt, durch „Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit“ gekennzeichnet ist? (Vgl. Parzinger 2/2015, S.40) Wie bereitet sie die spärlichen Funde gerade zur bis zu sechs oder sieben Millionen Jahre zurückreichenden Frühzeit der Menschheitsgeschichte auf, die oft nur aus Knochensplittern und Zähnen bestehen? Ist eine Wissenschaft, die es mit solchen Minimalbefunden zu tun hat, nicht geradezu zur Spekulation verdammt? Spekulative Zurückhaltung würde letztlich nur dazu führen, sich damit zu begnügen, Knochensplitter und Zähne zu nummerieren und nach Fundort zu sortieren und sich jeder Mutmaßung über ihre Einordnung in einen Stammbaum, wie Parzinger ihn präsentiert (vgl. Parzinger 2/2015, S.20), zu enthalten.

Ohne Spekulation kommt also eine Frühgeschichte des Menschen nicht aus. Und deshalb ist es auch berechtigt, ‚fremd‘ anmutenden Steinfiguren und Höhlenbildern mit spekulativer Phantasie zu begegnen, solange diese Phantasie, wie bei Leroi-Gourhan, mit einem analytischem Verstand einhergeht. Von einem Buch zu einer Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift hätte ich mir jedenfalls mehr erwartet als Mahnungen, sich mit Spekulationen angesichts der „Fremdheit der Vorstellungswelt“ des frühen homo sapiens zurückzuhalten. Denn dann hätte Parzinger sein Buch gar nicht erst schreiben dürfen. Zumal ihn gerade diese Zurückhaltung nicht davor bewahrt, dennoch, nur eben in pauschalisierender Weise, zu spekulieren.

Pauschalisierungen gibt es auch an anderer Stelle, gerade auch dort, wo Parzinger auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift, „ohne die“, wie er hervorhebt, „inzwischen jeder Versuch einer tragfähigen Rekonstruktion frühester Geschichte kaum mehr recht gelingen mag.“ (Vgl. Parzinger 2/2015, S.12) Zu diesen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zählt Parzinger insbesondere DNA-Analysen und Datierungsmethoden wie die Radiokarbonmethode. Es gibt auch Verweise auf die Hirnforschung. Dabei korreliert er immer wieder das allmähliche Hirnwachstum angefangen von den ersten Australopithecinen bis hin zum modernen homo sapiens mit wachsender Intelligenzleistung. Das ist so ein üblicher Analysemechanismus, den man in der Paläontologie ungefragt aus der Hirnforschung übernimmt. Die Faustregel lautet: je größer das Gehirn, um so intelligenter und näher am modernen Menschen befindet sich der fossile Vertreter einer Frühmenschengattung.

Dabei gibt es dann aber das Problem, daß ein sogenannter ‚Frühmensch‘ wie der Neanderthaler ein größeres Gehirn gehabt hatte als der heutige Mensch. Um diese Peinlichkeit aus der Welt zu schaffen, behilft sich der Paläontologe mit einer Sonderregel: „Das Hirnvolumen des Neandertalers überstieg das des modernen Menschen, was jedoch nichts mit gesteigerter intellektueller Leistungsfähigkeit zu tun hat, weil das Hirnvolumen stets im Verhältnis zur Körpermasse zu sehen ist, die ebenfalls über der des heutigen Menschen lag.“ (Parzinger 2/2015, S.42)

Ich habe diese Sonderregel nie verstanden, zumal sie, so oft ich ihr in der Literatur begegnet bin, niemals begründet wurde. Sie wird einfach immer nur behauptet. Es handelt sich um eine dieser Pauschalbehauptungen, deren sich Parzinger zufolge der Paläontologe eigentlich enthalten sollte. Betrachtet man beide ‚Faustregeln‘ im Zusammenhang – Gehirngröße gleich Intelligenz und Gehirngröße relativ zur Körpermasse –, so bedeutet das rein logisch, daß auch die Intelligenz relativ zur Körpermasse sein müßte: je dicker ein Mensch, um so weniger intelligent. Gemeint ist aber etwas anderes: die Intelligenz soll vom Verhältnis der Gehirngröße zur Körpermasse abhängig sein, und das fällt im Interspeziesvergleich beim modernen Menschen besonders günstig aus.

Nehmen wir statt des Neanderthalers allerdings eine Spitzmaus, dann wäre sie intelligenter als der Mensch, denn bei ihr macht das Gehirngewicht vier Prozent des Körpergewichts aus. Übertragen auf mein Körpergewicht von 70 kg würde das dann ein Gehirngewicht von 2,8 kg ergeben. Tatsächlich habe ich übrigens ein für homo sapiens eher kleines Gehirn, wie ich jedesmal, wenn ich mir einen Hut kaufen gehe, feststellen muß. Es wird wahrscheinlich sogar weniger als die sapiensüblichen 1,3 Kilogramm wiegen. Übrigens hatte auch der nomadisierende Jäger-und-Sammler-Vorfahr innerhalb unserer eigenen sapiens-Spezies ein größeres Gehirn als der heutige Mensch. Darüberhinaus gibt es auch rezente Vertreter des homo sapiens, die Pygmäen, deren Kleinwüchsigkeit mit einem Gehirnvolumen einhergeht, das nicht geringer ist als das der Sapiens-Mehrheit. Außerdem gibt es immer wieder Menschen, die mit nur zehn Prozent ihres Gehirns ein normales Leben führen, und erst nach ihrem Tod wird der Zustand ihres Gehirns festgestellt. Ich glaube jedenfalls nicht, daß ich mir um meine Intelligenz Sorgen machen muß.

Ein anderes in der Deutung der menschlichen Evolution überaus gängiges Klischee ist die Korrelation der Gehirngröße mit klimatischen Bedingungen und Überlebensnotwendigkeiten. So führt Parzinger die europäische Sonderentwicklung des Neanderthalers auf die widrigen eiszeitlichen Umweltverhältnisse zurück: „Diese ständigen Herausforderungen bildeten einen kontinuierlichen Anreiz zur weiteren Evolution des Gehirns, der geistigen Fähigkeiten und des planvollen Handelns. Man könnte es auch so formulieren: Die Evolution des Menschen verlagerte sich spätestens seit den Tagen des Homo erectus vom äußeren Erscheinungsbild in den Bereich des Gehirns.“ (Parzinger 2/2015, S.36)

Diese These steht gleich in zweierlei Hinsicht auf tönernen Füßen: zum einen wegen der schon erwähnten Korrelation von Gehirngröße und Körpermasse. Die Gehirngröße kann schlecht gleichzeitig von der Körpermasse und von den Umweltbedingungen abhängig sein, es sei denn auf indirekte Weise, insofern die grössere Körpermasse des Neanderthalers ja ebenfalls auf das eiszeitliche Klima zurückgeführt wird.

Zum zweiten aber hat sich der homo sapiens laut Parzingers Überzeugung in Afrika entwickelt, also definitiv nicht unter schwierigen klimatischen Bedingungen: „Außer Zweifel steht, dass sich der moderne Mensch in Afrika zeitgleich zum Homo neanderthalensis in Europa aus späten Vertretern des Homo erectus entwickelt hat und anschließend von Afrika aus über den Nahen Osten nach Europa eingewandert ist.“ (Parzinger 2/2015, S.52) – Parzinger tritt mehrfach entschieden für die Out-of-Africa-These ein, auch gegen multiregionale Ansätze, die von verschiedenen, mehr oder weniger gleichzeitigen und voneinander unabhängigen Entwicklungen des Menschen ausgehen. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.59) Jedenfalls ist die Gehirnentwicklung wohl eher nicht auf die eiszeitlichen Bedingungen „in nördlicher gelegene(n) Regionen außerhalb Afrikas“ zurückzuführen. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.36)

Parzinger verwendet also ständig Pauschalisierungen, gegen die an sich, wie erwähnt, auch nichts einzuwenden ist. Ohne Pauschalisierungen läßt sich mit den lückenhaften Befunden in der Paläontologie gar nichts anfangen. Aber der weitgehende Verzicht auf detailliertere Analysen und Begründungen schadet seinem Vorhaben einer Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift.

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Sonntag, 1. Februar 2015

Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2/2015

(Verlag C.h. Beck, 848 Seiten mit 120 Abbildungen, davon 60 in Farbe, und 19 Karten, Leinen 39,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methode I: Lückenhaftigkeit der Befunde
3. Methode II: kulturelle Moderne
4. Körperleib und Bruch

Die zentrale Botschaft von Parzingers Buch „Die Kinder des Prometheus“ (2/2015) besteht darin, daß es schon eine Geschichte der Menschheit vor der Schrift gegeben hat; eine Jahrmillionen umfassende Geschichte, „mit der verglichen“, wie es in der für den Rezensenten verfaßten Handreichung des Verlags heißt, „die Zeit der Schriftkultur nur als ein Wimpernschlag der Evolution erscheint“. Dabei geht es Parzinger vor allem um eine Neubewertung dessen, was man üblicherweise „Vorgeschichte“ nennt und was schon allein mit dieser Bezeichnung aus dem Fokus des wissenschaftlichen Interesses herausgerückt wird: „Immer dann, wenn der Mensch schöpferisch tätig wird, nimmt er sein Geschick in die Hand und gestaltet Geschichte. Insofern ist es verfehlt, dem Leben und der Zeit unserer frühesten Vorfahren den Status der Geschichtlichkeit abzusprechen und sie als Vor-Geschichte abzutun.“ (Parzinger 2/2015, S.12)

Dieses Anliegen ist sehr berechtigt. So sehr der Mensch ein Wesen der Grenze ist, ein Pionier der Grenzüberschreitung, so ist es doch auch richtig und notwendig, dies nicht nur als Drang ins Weite und noch Unbekannte hinaus zu thematisieren, sondern auch den Blick zurückzuwenden auf jene andere Grenze, von der her das Menschliche allererst in Erscheinung tritt: als Übergang vom Tier zum Menschen. Die Etappen und Wendepunkte dieses Prozesses der Menschwerdung liegen nicht einfach hinter uns, sondern bedingen nach wie vor unsere Schritte auf dem Weg in eine uns unbekannte Zukunft: eine Zukunft, die uns nur dann nicht mit erneuter, diesmal – aufgrund fortgeschrittener Technologien – endgültiger Auslöschung bedroht, wenn wir bereit sind, aus dem bislang zurückgelegten Weg zu lernen: „Es bleibt zu hoffen, dass sie (die Menschheit – DZ) künftig ihr Ingenium nicht vorzugsweise darauf ausrichtet, die Zerstörung ihrer über so unermessliche lange Zeiträume und mit so unendlichen Mühen erarbeiteten Lebensgrundlagen zu betreiben.“ (Parzinger 2/2015, S.732)

Doch gerade aus diesem Grund ist es doch sehr fraglich, ob es so sinnvoll ist, die Erfindung der Schrift vor 5000 Jahren als eine bloße Marginalie im großen Kontinuum von Geschichte und Vorgeschichte zu verstehen. Dabei gerät aus dem Blick, was Parzinger mit dem Begriff der „Achsenzeit“ anspricht, aber nicht weiter ausführt. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.13) Der Begriff stammt von Karl Jaspers und meint die Zeit um 800 bis 200 v. Chr., in der weltweit wichtige historische Ereignisse in gebündelter Form parallel auftreten. Auf kultureller Ebene ist diese Achsenzeit mit Persönlichkeiten wie Konfuzius, Buddha, Sokrates, Zarathustra und den biblischen Propheten verbunden. Christina von Braun verbindet die Achsenzeit mit der Erfindung des griechischen Alphabets und der Einführung des nominalistischen Geldes. (Vgl. meine Posts vom 09.11. bis 22.12.2012)

Von Brauns Hinweis auf die Bedeutung der Alphabetschrift wird durch Jan Assmanns These ergänzt, daß es vor allem die weitere zweitausend Jahre vor die Alphabetschrift zurückreichende Erfindung der Hieroglyphen gewesen sei, die einen erheblichen Innovationsschub auslöste, weil die Menschen jetzt ein regelrechtes Bedürfnis nach Innovation entwickelten, während sie in den langen Jahrzehntausenden und Jahrhunderttausenden zuvor sich ausschließlich am Leben ihrer Vorfahren orientiert hatten. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Dieser Bruch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit reicht sogar noch in die Schriftlichkeit selbst hinein, wie André Leroi-Gourhan mit seinen Analysen zu den verschiedenen Formen des Graphismus nahelegt. (Vgl. meinen Post vom 01.03.2013) Die dreidimensionale Bilderschrift mit ihren Wurzeln in der eiszeitlichen Höhlenmalerei ist noch sehr durch Mündlichkeit geprägt, wohingegen erst die griechische Alphabetschrift jenen eindimensional linear ausgerichteten Graphismus schuf, den von Braun mit der Einführung des nominalistischen Geldes korreliert.

Parzingers berechtigtes Anliegen, die Vorgeschichte des Menschen und mit ihr den Tier-Mensch-Übergang in den Fokus wissenschaftlicher Forschung zu rücken geht also mit einer Nivellierung jenes entscheidenden Epochenbruchs einher, mit der die bisherige evolutionäre Kontinuität der menschlichen Stammesgeschichte in eine labile, bis heute andauernde Revolutionierung der menschlichen Kultur- und Lebensverhältnisse mündet, deren katastrophaler Ausgang der gegenwärtigen globalisierten Menschheit als so absehbar erscheint.

Eine weitere wichtige These von Parzinger besteht in der Hervorhebung der Bedeutung regionaler Entwicklungen für das Ganze der Menschheitsentwicklung. Mit Alexander von Humboldt betont Parzinger, „dass auch das für eine abgelegene Region Spezifische für das Verständnis dieser einen ganzen Welt von Bedeutung ist.“ – Und Parzinger ergänzt, daß in dieser Erkenntnis „einer der Kerngedanken dieses Buches“ besteht. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.13) Dreizehn von insgesamt sechzehn Kapiteln befassen sich deshalb in aller Ausführlichkeit mit den regionalen Entwicklungslinien des Menschen, mit den Fundorten und mit den Veränderungen von Geographie, klimatischen Bedingungen und von Fauna und Flora.

Das ist eine gewichtige anthropologische Festlegung. Der Fokus wird damit nicht so sehr auf das vermeintlich Universale eines bestimmten kulturellen ‚Fortschritts‘ gelegt, auf den hin alle spezifischen Kulturprozesse orientiert werden. Eine solche Universalität wird ja immer mit dem europäischen ‚Projekt‘ verbunden. Vielmehr soll der keine regionale Kulturform ausblendende „Vergleich“ aller „Einzelphänomene“ eine „tiefere Einsicht in grundlegende Bewegungsgesetze früher Menschheitsgeschichte“ ermöglichen können. Was diese grundlegenden Bewegungsgesetze betrifft, setzt Parzinger sehr tief an. Er führt sie letztlich auf die Notwendigkeiten der „Versorgung mit Nahrung“ zurück, also aufs physisch-leibliche Überleben. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.14) Auf dieser Ebene unterscheidet sich der Mensch aber nicht vom Tier, und so gerät genau jener Tier-Mensch-Übergang aus dem Blick, den eine Ausweitung der Geschichtlichkeit des Menschen auf seine Vorgeschichte hätte ermöglichen sollen.

Zugleich bewahrt Parzinger diese theriomorph fundierte ‚Anthropologie‘ nicht davor, mit der eiszeitlichen Höhlenmalerei eine europäische Singularität auf dem Weg der kulturellen Menschwerdung zu behaupten, die gewissermaßen stellvertretend für andere Kulturregionen einen „ersten großen Auftritt des Menschen in einer alle Zeiten und Räume umfassenden Weltkunstgeschichte“ darstellt. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.106) – Parzingers ‚Vergleich‘ wird an dieser Stelle komparativ, d.h. er orientiert sich an einer Steigerung von Leistungsniveaus, mit der europäischen Eiszeitkunst an der weltweiten Spitze. Die gemeinsamen anthropologischen Wurzeln des weltweiten Kunstschaffens im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis, wie sie Leroi-Gourhan an der europäischen Eiszeitkunst herausgearbeitet hat, fallen dabei unter den Tisch.

Weitere bewertende Komparationen finden sich bei Parzinger überall dort, wo er auf das verhältnismäßig lange Festhalten einzelner Regionen am Wildbeutertum an den ‚Rändern‘ Nordafrikas (vgl. Parzinger 2/2015, S.378f.) und Eurasiens (vgl. Parzinger 2/2015, S.423f.) eingeht. Obwohl Parzinger der Regionalisierung der Menschheitsentwicklung eine so große Aufmerksamkeit zuwendet, daß er sie sogar als einen „Kerngedanken“ seines Buches bezeichnet, beinhaltet die Überschrift des siebten Kapitels – „Retardierende Entwicklungen im subsaharischen Afrika“ (vgl. Parzinger, 2/2015, S.355-379) – eine kaum verhohlene Wertung zu einer Reihe von regionalen Kulturen, die so nur aus einem entsprechenden Vergleich mit anderen Entwicklungen im Norden Afrikas und in Europa hervorgehen kann. Im Kapitel selbst fehlt aber eine entsprechende Erläuterung zu dieser Überschrift. ‚Retardiert‘, also ‚verzögert‘, erinnert an ‚zurückgeblieben‘. Was damit gemeint sein könnte, erschließt sich nur indirekt in einer Bemerkung Parzingers, derzufolge sich vor zweieinhalb Jahrtausenden „in weiten Teilen Afrikas“ Kulturverhältnisse entwickelt hatten, „die letztlich in ihren Grundzügen bis zum Beginn der Kolonialisierung des Kontinents durch die Europäer fortbestanden“. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.364) – Das erweckt doch sehr den Eindruck, als hätte es dieser europäischen Kolonialisierung bedurft, um den südafrikanischen Kulturen, die sich immer noch mit dem Wildbeuten begnügten und denen der „kulturelle() Druck“ fehlte, „Leben und Wirtschaften fundamental zu verändern“  (vgl. Parzinger 2/2015, S.379), einen Entwicklungsschub zu geben.

Die Leistungsfähigkeit einer regionalen Differenzierung der Menschheitsgeschichte zeigt sich vor allem an der Aufdeckung des dem europäischen Blickwinkel geschuldeten Mythos von der „neolithischen Revolution“: „Während man lange Zeit dachte, die Einzelmerkmale des sogenannten neolithischen Bündels (Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht und Keramikherstellung) seien gleichzeitig und ursächlich miteinander verbunden aufgetreten, so hat die Forschung der letzten Jahre ein deutlich komplexeres Bild gezeichnet.“ (Parzinger 2/2015, S.706; vgl. auch S.118ff.)

Das Neolithikum war immer als ein Beispiel für die noch vor der Einführung der Schrift um 3000 vor unserer Zeitrechnung liegende explosionsartige Beschleunigung der menschlichen Kulturentwicklung gedeutet worden: gleichsam über Nacht habe demnach die Experimentierfreudigkeit des neolithischen Menschen so komplexe kulturelle und technologische Leistungen hervorgebracht wie die Domestikation von Pflanzen und Tieren und die Keramikherstellung. Parzinger rückt hier die Zusammenhänge in ein etwas anderes Licht. Demnach lagen im Gebiet des fruchtbaren Halbmonds im südöstlichen Mittelmeerraum zwischen der Domestikation von Getreide und Tieren und zwischen der Domestikation von Tieren und der Keramikerstellung jeweils mindestens ein Jahrtausend.

Jedes dieser Merkmale des keramischen Bündels, so Parzinger, besitzt „seine eigene Geschichte, und die ist in den unterschiedlichen Kulturräumen der Welt in mancherlei Hinsicht sehr unterschiedlich verlaufen.“ (Parzinger 2/2015, S.118) – In anderen Weltregionen, in Indien (Ganges-Ebene) und China (Jangtse-Tal), war die Reihenfolge dieses Kulturwandels eine ganz andere. Und was die Keramikherstellung betrifft, beherrschten diese Technik sogar schon Wildbeutergesellschaften, die noch zum Jungpaläolithikum zählen. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.710) Von einer spezifisch neolithischen ‚Revolution‘ kann also keine Rede sein.

Tatsächlich betont Parzinger immer wieder, daß die längste Phase der Menschheitsgeschichte, die 2,5 Millionen Jahre umfassende Steinzeit, nicht etwa durch große Sprünge gekennzeichnet gewesen sei, sondern durch das Vorherrschen einer evolutionären Kontinuität: „So wenig wie die Natur sich in Sprüngen entwickelte, so allmählich ging auch die kulturelle Entwicklung des Menschen als eines Teils der Natur vonstatten.“ (Parzinger 2/2015, S.67) – Wir haben es hier also tatsächlich mit einer der biologischen Evolution entsprechenden kulturellen Stammesgeschichte des Menschen zu tun, weshalb es durchaus sinnvoll ist, auch weiterhin von einer Vorgeschichte des Menschen zu sprechen.

Parzinger verhält sich hier argumentativ zwiespältig. So will Parzinger trotz der vorwiegenden Kontinuität in der Entwicklung des Menschen aufs Ganze gesehen – „mit Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte“ – am „große(n) Sprung“, also an der Diskontinuität im Tier-Mensch-Übergang festhalten. (Vgl. Parzinger 2/2015, S.106) Wir hätten es also mit vielen, kontinuierlich aufeinanderfolgenden Entwicklungsschritten zu tun, die sich zu einem großen Sprung addieren. Auf dieses seltsame Konstrukt wird nochmal zurückzukommen sein.

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