„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 7. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Zur Plessnerschen Definition des Körperleibs gehört dessen exzentrische Positionalität. Über unseren Körper sind wir Teil der äußeren, räumlich dimensionierten Welt, und zugleich befinden wir uns außerhalb dieser Welt – wie Plessner es ausdrückt: an ihrer Peripherie –, nämlich im Inneren unseres Körpers als Leib. Zur Exzentrik unseres Körperleibs gehört also die Gleichzeitigkeit bzw. mit Plessner: die Doppelaspektivität von Peripherie und Mitte. Als ‚Körper‘ befindet sich unser Körperleib insofern in der Mitte der äußeren Welt, als er das Koordinatensystem bildet, mit dessen Hilfe wir uns in der Welt orientieren: rechterhand, linkerhand, vorne, hinten, oben und unten. Daran orientiert sich auch unser Zeitempfinden: die Zukunft liegt vor uns, die Vergangenheit hinter uns. (Vgl. Evans 2014, S.250)

Man könnte nun versucht sein, diese räumliche Orientierungsstruktur für universell zu halten und als ein Grundmuster zu verstehen, das für alle Sprachen gilt. Aber tatsächlich gehen andere Sprachgemeinschaften – einige Indianervölker in Südamerika und die Aborigines in Australien – anders vor. Deren Exzentrik ist im Vergleich zur Plessnerschen Bestimmung des Körperleibs ‚verschoben‘. Dennoch schimmert hier der Körperleib immer noch durch.

Bei den Aborigines ist es so, daß der eigene Körper nicht zur Welt gehört. Nicht nur das Innere des Körperleibs befindet sich außerhalb der Welt, sondern auch der äußere physische Körper. Vorne und hinten, rechts und links sind für sie keine Orientierungskategorien. Wird Evans von einem Kayardild-Sprecher aufgefordert, ein Buch woanders hinzulegen, heißt es nicht nach rechts oder links, sondern beispielsweise ‚nach Süden‘. Evans kommentiert trocken: „Wenn man Kayardild sprechen will, muss man also auch lernen, dass die Umgebung wichtiger ist als man selbst.“ (Evans 2014, S.251)

Wir haben es hier mit einer besonderen Ausprägung der exzentrischen Positionalität zu tun, in der die Sprecher insgesamt mehr in Richtung Peripherie ‚verrückt‘ sind. Ansonsten kommt hier aber wieder eine Innen-Außen-Differenzierung zur Geltung, in der der Körper selbst sich zwar nicht auf der Grenze befindet, sondern noch im Bereich des Inneren. Aber in allen Fällen, wo es um subjektive Befindlichkeiten geht, setzt sich dann doch wieder die Orientierung am Körperleib durch: „Es gibt durchaus Wörter für ‚rechte Hand‘ (junku) und ‚linke Hand‘ (thaku). Doch diese werden hauptsächlich zur Ortsbestimmung etwa von Schmerzen auf der linken Körperseite verwendet, also in Fällen, in denen eine Orientierung am Kompass nicht konstant bliebe.“ (Evans 2014, S.251) – Wir haben es also nicht mit einer Peripherie/Mitte-Exzentrik, sondern mit einer Mobilität/Konstanz-Exzentrik zu tun. Hier ist der Körperleib nicht die strukturierende Mitte der Raumwahrnehmung, sondern er bewegt sich ‚quer‘ zu den Himmelsrichtungen, als wäre er kein Teil des konstant bleibenden äußeren Raums.

Ein anderes Beispiel für die verschobene Exzentrik führt zu meinen Schlußbemerkungen in meinem Post vom 04.12.2014 zurück, in dem ich auf die Verwirrungen beim Gebrauch der Wörter ‚später‘ und ‚älter‘ eingegangen bin. Bei unserem eigenen Zeitempfinden haben wir immer wieder Schwierigkeiten, spät und früh, jung und alt, den entsprechenden Vorgängen, um die es geht, chronologisch richtig zuzuordnen.

Es gibt nun Indianervölker, wie etwa die Sprecher des Aymara in Südamerika, die ganz anders vorgehen als wir und die sich dabei ausschließlich an ihren sinnlichen Gewißheiten orientieren: „Evidentialität“ hat Vorrang, auch beim Zeitempfinden. (Vgl. Evans 2014, S.259ff.) Nun ist es aber so, daß in der Zeit alles, was in der Zukunft liegt, ungewiß ist und alles, was in der Vergangenheit liegt, gewiß ist. Die Sprecher des Aymara sind gute Kantianer, denn schon Kant bevorzugte die regressive Synthesis, also die empirisch absicherbare Zurückverfolgung von wirklichen Ereignissen in die Vergangenheit, gegenüber der progressiven Synthesis, also die spekulative Verfolgung von möglichen Ereignissen in die Zukunft.

Verbunden mit unserem Körperleib bedeutet das für die Sprecher des Aymara, daß vor uns, also vor unseren Augen, wo alles gewiß ist, die Vergangenheit liegt, und hinter uns, wo wir keine Augen haben und deshalb alles ungewiß ist, die Zukunft liegt. Wir haben hier also wiederum eine über den Körperleib und seine Sinnesgewißheiten vermittelte Verbindung von Raum und Zeit, in der die Sprecher des Aymara mit ihren Händen nach vorne zeigen, wenn sie von der Vergangenheit sprechen, und nach hinten über die Schulter zurückdeuten, wenn sie von der Zukunft sprechen. (Vgl. Evans 2014, S.261)

Auch die Sprecher des Aymara sind also über ihren Körperleib exzentrisch positioniert. Allerdings dominieren die sinnlichen Gewißheiten ihr Zeitempfinden derart, daß ihr Zeitpfeil in die zu unserem eigenen Zeitempfinden entgegengesetzte Richtung zeigt.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen