„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Der deutschstämmige, us-amerikanische Ethnologe Franz Boas (1858-1942) entwickelte für die Vergleichende Sprachwissenschaft schon früh ein interdisziplinäres Konzept, das als „Vier-Felder-Konzept“ bekannt wurde. (Vgl. Evans 2014, S.68) Zu diesen vier ‚Feldern‘ gehören neben der Sprachwissenschaft eine Kulturanthropologie, eine naturwissenschaftlich orientierte ‚physische‘ Anthropologie und die Archäologie. Dabei beinhaltet schon allein die Kulturanthropologie ein weites Spektrum an traditionellerweise eher den Geisteswissenschaften zuzuordnenden Disziplinen. Nimmt man noch Evans’ Bemerkungen zu einer „Koevolution“ zwischen biologischen und kulturellen Entwicklungsprozessen hinzu (vgl. Evans 2014, S.237f., 240f.), erinnert diese interdisziplinär verfaßte Sprachwissenschaft an Plessners „Ästhesiologie“, deren „Untersuchungsfeld“, so Plessner, sich „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit“ erstreckt. (Vgl. „Die Einheit der Sinne“ (1923/1980), S.295; vgl. auch meinen Post vom 14.07.2010)

Vergleichende Sprachwissenschaftler müssen vielfältig interessiert sein und sie sind auf die fachliche Expertise aus den verschiedensten Bereichen des Wissenschaftsspektrums angewiesen, allein schon aus dem einfachen Grund, daß sich die Muttersprachler nur solchen Forschern wirklich öffnen, die sich aufgrund ihres Fachwissens mit ihnen auf Augenhöhe befinden. Ein Feldforscher beklagte sich, daß Kalam-Sprecher (Papua-Neuguinea) ihm nichts über die Bezeichnungen verschiedener Felsarten berichtet hätten, einem Kollegen, von Beruf Geologe, hingegen schon. Ein Kalam-Sprecher entgegnete ihm: „Als du nach Vögeln und Pflanzen gefragt hast, da haben wir gemerkt, dass du davon eine Menge Ahnung hast und dass du unsere Erklärungen verstehst. Als du uns nach Felsen gefragt hast, war offensichtlich, dass du davon keine Ahnung hast. Warum sollten wir unsere Zeit damit verschwenden, dir etwas zu erzählen, was du ohnehin nicht verstehst?“ (Zitiert nach Evans 2014, S.177)

Wenn so ein Feldforscher also dem Anspruch von Franz Boas genügen will und eine aus drei Säulen (die sogenannte Boassche Trilogie: eine Grammatik, ein möglichst umfassendes Wörterbuch und eine Textsammlung) bestehende Dokumentation einer neuen, bislang unbekannten Sprache zusammenstellen will, kann er selbst gar nicht so vielfältig ausgebildet sein, wie es nötig wäre, um allen Lebensbereichen und ihren sprachlichen Ausdrucksweisen eines ihm fremden Volkes gerecht werden zu können. Er bedarf der Unterstützung durch Experten aus anderen Disziplinen, unter denen Evans an verschiedenen Stellen die Archäologie, die Genetik, die Vergleichende Ethnographie, die Anthropologie und die Psychologie, die Ethnobotanik und die Geologie aufzählt. (Vgl. Evans 2014, S.45, 168, 177, 188, 259f. 275f.)

Evans plädiert sogar für eine Hinzuziehung und entsprechende Ausbildung der Muttersprachler selbst, die als Mitforscher den feldforschenden Sprachwissenschaftlern gleichgestellt werden sollten. (Vgl. Evans 2014, S.313) Es sei nicht einzusehen, so Evans, daß die Universitäten zwar jederzeit bereit seien, Doktoranden aufzunehmen, die keinerlei Ahnung von der neuen, unbekannten Sprache haben, die sie zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit machen, aber Muttersprachler, die über eine hervorragende Expertise in ihrer Sprache verfügen, nicht als Wissenschaftler anerkannt werden. Dabei gebe es, so Evans, in den kleinsten Sprachgemeinschaften herausragende Persönlichkeiten, die zur Erfassung ihrer Sprache maßgeblich beigetragen haben, wie z.B. Anna Nelson Harry, die letzte Sprecherin des Eyak (Alaska), die eine Textsammlung ihrer Sprache zusammengestellt hat und deren sprachliche Kompetenz mit der von Shakespeare verglichen wurde. (Vgl. Evans 2014, S.151)

Evans plädiert also für eine Interdisziplinarität neuer Art, die sich nicht nur auf die ‚Experten‘ beschränkt, sondern auch die Laien mit einbezieht. Damit stößt Evans in eine Region vor, die vom Begriff der Interdisziplinarität nicht mehr abgedeckt wird. Interdisziplinarität bezieht sich auf die Notwendigkeit wechselseitiger Ergänzung von verschiedenen Experten bei einem spezifischen Forschungsprojekt. Durch die Hinzuziehung von Laien öffnet sich aber dieser immer noch beschränkte Wissenschaftshorizont für die Lebenswelt der Menschen, an derem Rande sich die Wissenschaftler normalerweise aufhalten und von der sie sich abzugrenzen versuchen.

Indem die Feldforscher mit Mutterprachlern zusammenarbeiten, anstatt sie einfach nur gleichermaßen ‚objektiv‘ und distanziert zu beforschen, entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, in dem es nicht mehr nur um das Sammeln und die Auswertung von Daten geht: „Die erfolgreiche Dokumentation einer Sprache stützt sich auf die Arbeit eines breiten Spektrums von Menschen und befruchtet ihrerseits diese Arbeit. Sie erzielt die besten Ergebnisse, wenn sie aus den unterschiedlichen Fähigkeiten und Antrieben Kapital schlägt, die die Beteiligten miteinbringen. Besonders befriedigend an der sprachwissenschaftlichen Feldforschung ist für alle Beteiligten, dass dadurch eine tiefe und sich weiterentwickelnde lebenslange Verbindung zwischen Menschen aus sehr unterschiedlichen Welten entsteht.“ (Evans 2014, S.329)

Wenn Sprachwissenschaftler sonst eher ein eigenwilliges Völkchen bilden, das sich, wie Evans selbstironisch festhält, mehr für die verworrenen Wege des Lautwandels eines unscheinbaren Konsonanten interessiert, öffnet sich im Kontakt mit den Muttersprachlern ihr Horizont für das, „was ihre Wissenschaft vielleicht für das Verständnis des menschlichen Verhaltens im Allgemeinen“ beiträgt. (Vgl. Evans 2014, S.69) – An dieser Stelle wird die vielbeschworene Interdisziplinarität zu etwas, was man vielleicht besser als ‚Transdisziplinarität‘ bezeichnen könnte. Transdisziplinarität beschränkt sich nicht auf einzelne, konkrete Forschungsprojekte, sondern bezieht sich auf den Sinn und Zweck von Wissenschaft überhaupt.

Zum Schluß möchte ich noch auf zwei Probleme zu sprechen kommen, die der Vergleichenden Sprachwissenschaft inhärent sind. So ist die Erklärungskraft der Vergleichenden Sprachwissenschaft nur sehr gering; ein Problem, das sie übrigens mit der Evolutionstheorie gemeinsam hat. Schon Darwins Konzept von der „Entstehung der Arten“ galt am Anfang als wissenschaftlich fragwürdig, weil aus seiner Evolutionstheorie keine Prognosen abgeleitet werden konnten. Sie konnte nur erklären, wie es zur gegebenen Artenvielfalt gekommen ist, aber nicht voraussagen, wie diese Artenvielfalt sich weiterentwickeln würde. Auch die Sprachwissenschaft hat bislang keine einzige neu entdeckte Sprache mit ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik vorhersagen können, weil es einfach keine sprachlichen Universalien gibt, die solche Vorhersagen ermöglichen würden. Das steht im krassen Gegensatz zu den Naturgesetzen in den Naturwissenschaften, und Evans selbst hebt hervor, daß diese Eigenart die Vergleichende Sprachwissenschaft mit den Biowissenschaften vergleichbar macht: „Zu den aufregendsten Aspekten der sprachwissenschaftlichen Feldforschung gehört, dass sich die Grenzen des vorgestellten Möglichen ständig erweitern, denn andauernd stolpert man über ‚unvorstellbare‘ Sprachen, die man nie für möglich gehalten hätte. Es ist eine Eigenschaft der Sprachwissenschaft, dass so gut wie keine der erstaunlichen typologischen Merkmale, die irgendwann empirisch entdeckt wurden, durch theoretische Überlegungen vorausgesagt wurden. Dies steht im offensichtlichen Gegensatz zu den Naturwissenschaften.“ (Evans 2014, S.81)

Allerdings gibt es eine Ausnahme. So sind die Gesetze des Lautwandels tatsächlich so allgemeingültig, daß aus ihnen Vorhersagen von bislang unbekannten Lauten abgeleitet werden können: „Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Bestätigung von Ferdinand de Saussures hypothetisch angenommenen Laryngalen durch hethitische Inschriften. De Saussure hatte einen ‚koeffizienten Sonanten‘ postuliert, um einige abstrakte Übereinstimmungen im systematischen Verhalten der Vokalsysteme alter indogermanischer Sprachen zu erklären, obgleich keine damals bekannte Sprache irgendwelche entsprechenden Laute hatte. Kühn wandte er seine Hypothese auf seine urindogermanischen Rekonstruktionen an, obwohl sie nicht direkt belegt waren. Als später dann Bedrich Hrozný während des Ersten Weltkriegs die hethitischen Inschriften entzifferte, entdeckte er ein Symbol, das dem von de Saussure postulierten Laut entsprach und so dessen Theorie im Nachhinein bestätigte.“ (Evans 2014, S.204)

Das zweite Problem ist eher philosophischer Art. Evans spricht von einem Problem der Zirkularität, das mit dem Abbildungsproblem zusammenhängt: inwiefern bildet die Sprache, also ihre Laute, Wörter und ihre Grammatik, das Denken der Menschen ab? (Vgl. Evans 2014, S.248f.) Ist es wie bei Wörtern und Sachen (vgl. Evans 2014, S.177f.), bei dem wir es immer noch mit einem Etikettierungsproblem zu tun haben? Es ist nämlich bei fremden Sprachen gar nicht so einfach, festzustellen, welche Aspekte eines Gegenstands oder Vorgangs von einem Wort ‚abgebildet‘ werden; überhaupt erweist sich schon die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Vorgang immer wieder als fragwürdig (vgl. Evans 2014, S.96f.).

Abgesehen vom Etikettierungsproblem kommt beim Denken noch das Problem hinzu, inwiefern die Sprache das Denken beeinflußt. Während wir nämlich darüber nach-‚denken‘, wie die Sprache ‚das‘ Denken möglicherweise beeinflußt, verwenden wir schon einen bestimmten Wortschatz und eine bestimmte Grammatik, die unser Nachdenken über ihren Einfluß beeinflussen. Evans wendet sich hier einem durchaus ernsthaften Problem zu, das für die Arbeit des Vergleichenden Sprachwissenschaftlers relevant ist. Allerdings verkürzt er dieses Problem auch gleich wieder auf die Frage der Meßbarkeit des Denkens und weist diese Aufgabe nicht etwa der Philosophie, sondern der Psychologie zu, der er zutraut, dieses Problem mit Hilfe ihrer „experimentellen Methoden“ lösen zu können. (Vgl. Evans 2014, S.249)

Evans’ Verweis auf die Psychologie zeigt, daß es hier eigentlich gar nicht so sehr um das Verhältnis von Sprechen und Denken geht, sondern vielmehr um das Verhältnis von Sagen und Meinen. Es geht also um die Differenz von Innen und Außen und damit um Expressivität. Darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch zu sprechen kommen.

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