„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 11. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein hebt immer wieder hervor, daß das Gehirn im Schlaf „andere Wege“ geht als am Tag. (Vgl.u.a. Klein 2014, S.166) Diese Feststellung bedarf allerdings nochmal einer Differenzierung: das Gehirn geht nur insofern andere Wege als am Tag, als im Schlaf andere Hirnregionen aktiv sind. Zum einen sind die Sinneswahrnehmungen ausgeschaltet und, noch wichtiger vielleicht, auch das Stirnhirn, das sonst gegen realitätsverzerrende Aktivitäten der Assoziationsfelder der Sehrinde seinen kritischen Einspruch erhebt. (Vgl. Klein 2014, S.82 und S.215)

Ansonsten aber besteht eigentlich gar kein so großer Unterschied zwischen Träumen und Wachen, wie die bei allen Menschen verbreiteten Tagträumereien zeigen. (Vgl. hierzu auch meine beiden Posts vom 29.07.2012) Denn auch im Tagtraum verabschieden wir uns von unserer Umwelt, die wir jetzt praktisch nicht mehr wahrnehmen, während vor unserem geistigen Auge die Bilder vorübertreiben. Denn Bilder bilden in hundert Prozent unserer Träume die Hauptsinneswahrnehmung, während schon Stimmen nur in fünfzig Prozent vorkommen und von Riechen und Schmecken nur ganz am Rande in einem Prozent der Träume berichtet wird. (Vgl. Klein 2014, S.75) Sogar Blindgeborene träumen in Bildern. (Vgl. Klein 2014, S.75f.)

Tatsächlich ist es Klein zufolge so, daß „Träume eben nicht nur unsere Nächte“ beherrschen, sondern auch „in jeder Minute des Nachdenkens, des Fantasierens, des Nichtstuns und sogar bei jedem einzelnen Lidschlag auf uns (einwirken)“. (Vgl. Klein 2014, S.47) Denn wir blinzen nicht etwa deshalb so häufig, um unsere Augäpfel nicht austrocknen zu lassen, sondern weil das Gehirn diese Sekundenbruchteile des Lidschlags braucht, um die über die Augen hereinstürmenden Sinnesinformationen zu filtern und zu ordnen.

Das Träumen selbst ist letztlich doch eher eine „erstaunlich genaue Nachbildung des Wachlebens“ (vgl. Klein 2014, S.49): „Das Vorurteil, Träume seien stets unlogisch, gilt inzwischen als widerlegt. Ein Teil der Traumerzählungen liest sich so vernünftig, dass Experten sie in Blindversuchen mit Berichten aus dem wachen Alltag verwechseln.“ (Klein 2014, S.119)

Eigentlich müßte man aber Kleins Feststellung umkehren: nicht das Träumen ist eine erstaunlich genaue Nachbildung des Wachlebens, sondern das Wachleben ahmt das Träumen nach. Denn auch das scheinbar so logische und kritische Denken ist ein Denken weniger in Worten als in Bildern und springt von Bild zu Bild. Es funktioniert also im wesentlichen analog und nicht linear: „Wir verweilen selten länger als ein paar Sekunden bei einem Gedanken oder einer Vorstellung. Auch der wache Geist macht Bocksprünge ...“ (Klein 2014, S.48) – Demnach bildet das Denken eben keinen schlichten, auch von Robotern simulierbaren Wenn-Dann-Algorithmus. (Vgl. hierzu meinen Post vom 30.10.2014) Das Bewußtsein funktioniert nicht algorithmisch!

Selbst Mathematiker kommen ohne Bildwahrnehmungen nicht aus: „Einstein behauptete sogar, keineswegs besonders begabt für Mathematik zu sein; seine außergewöhnliche Fähigkeit liege vielmehr darin, sich Möglichkeiten und deren Folgen vorzustellen. Und das geschähe ausschließlich in Bildern, schrieb Einstein an den Mathematiker Jacques Hadamard: ‚Wörter oder die Sprache ... spielen in meiner Denkstruktur offenbar keine Rolle. ...‘“ (Klein 2014, S.233f.)

Unser ganzes Denken und überhaupt unser Bewußtsein basiert nämlich auf räumlichen Wahrnehmungen, wie insbesondere Gedächtniskünstler wissen, die sich räumlicher Hilfskonstruktionen bedienen, wenn sie sich etwas einprägen wollen. Räumliche Wahrnehmungen sind aber wiederum primär visuell: „Träume können uns vermutlich deshalb so gut anregen, weil sie zumeist visuelle Erlebnisse sind. Vor allem um räumliche Probleme zu lösen, nutzt die Sprache wenig; sowohl das kreative als auch das logische Denken machen eher vom inneren Auge Gebrauch.“ (Klein 2014, S.233)

Es ist also – wie schon die ganze Grammatik der Sprache anzeigt – immer hilfreich, auch abstrakte, gedankliche Probleme in dreidimensionalen sprachlichen Metaphern und visuellen Bildern zu organisieren. Das ist geradezu das krasse Gegenteil eines linearen Wenn-dann-Algorithmusses. Deshalb ist es um so bedauerlicher, daß sich in Stefan Kleins Buch kein einziges Wort zur Gestaltwahrnehmung findet. Überhaupt scheinen seit dem Aufblühen der Gehirnforschung die Einsichten der Gestaltwahrnehmung nicht mehr der Rede Wert zu sein, obwohl sich die Neurobiologen gerne dieser Einsichten bedienen; allerdings ohne dabei die Gestaltwahrnehmung zu erwähnen. Auch Stefan Klein bringt das inzwischen klassische Beispiel eines Dalmatiners, der auf einem Schwarz-Weiß-Photo mit seinem fleckigen Fell vor dem fleckigen Hintergrund des Bildes gerade so eben noch erkennbar ist. (Vgl. Klein 2014, S.80) Unser ‚Gehirn‘ setzt die scheinbar chaotisch verteilten hellen und dunklen Flecken zur Gestalt eines Dalmatiners zusammen. Aber bei Kleins Diskussion zu diesem Bild taucht kein einziges Mal das Wort ‚Gestaltwahrnehmung‘ auf.

Dafür spricht Klein dann an anderer Stelle von „Gedächtnisbausteinen“ (Klein 2014, S.99), so als würde das im Wahrnehmungsgedächtnis schon vorhandene Bild des Dalmatiners Pixel für Pixel zusammengesetzt, ganz brav linear wie bei einem Computerprogramm; als handelte es sich um ein jpg- oder bmp-Format. Daß es sich dabei aber eben nicht um ein digitales Format handelt, macht Klein in umständlichen, das Wort ‚Gestaltwahrnehmung‘ vermeidenden Formulierungen deutlich. Er spricht von „Abstraktionen des Geistes“, womit er u.a. Namen, Gesichtszüge und den Klang der Stimme meint, die dazu beitragen, daß wir Personen – und auch alles mögliche andere – wiedererkennen. (Vgl. ebenda) Namen haben hier die Funktion eines Indexes, zu dem sich dann die zugehörige Gestaltwahrnehmung einstellt. Der Klang der Stimme wäre ebenfalls ein Index für eine Gestaltwahrnehmung, und die ‚Haltung‘, die „Art, sich zu bewegen“ (ebenda), wiederum ist selbst eine indexikalische Gestaltwahrnehmung mit der sich weitere Gestalterinnerungen assoziieren.

An allen diesen umständlichen Beschreibungen zur Wahrnehmung von Bildern ist vor allem eines bemerkenswert: das auf den Mainstream der Neurophysiologie zurückzuführende, verbreitete Bemühen, nicht mehr von Gestaltwahrnehmung zu sprechen.

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