„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 10. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein zählt in der Geschichte der Schlaf- und Traumforschung insgesamt drei Traumdefinitionen, die alle zusammen den besonders prekären Status des Forschungsgegenstands anzeigen. Die offensichtlichste Traumdefinition, daß es sich nämlich beim Traum um das „gegenwärtige innere Erleben des Schlafenden“ handelt (vgl. Klein 2014, S.31), macht zugleich deutlich, daß der Traum qua definitionem gar nicht beobachtbar und damit auch nicht beforschbar ist. Erst mit den neuen neurophysiologischen Technologien, mit denen man in das Gehirn ‚hineinsehen‘ kann, ist es möglich, das innere Erleben über die sie begleitenden neurologischen Ereignisse zumindestens indirekt zu beobachten.

Von den beiden anderen Traumdefinitionen arbeitet auch die Freudsche Traumdeutung mit so einer Abduktionslogik. (Zur Abduktionslogik vgl. meinen Post vom 29.10.2014) Die Träumer berichten von Träumen, an die sie sich erinnern. Von diesen Erinnerungen her wird also auf die Träume zurückgeschlossen. Da sich die Träumer dabei aber im Wachzustand befinden, handelt es sich bei diesen Erinnerungen nicht um die Träume selbst, sondern nur um Deutungen:  „Ein ‚Traum‘ ist demnach schlicht das, was man im Nachhinein dafür hält.“ (Klein 2014, S.31) – Klein bezweifelt grundsätzlich, daß es auf diese Weise möglich ist, etwas über Träume herauszufinden: „Das schlafende Gehirn geht andere Wege, unterliegt anderen Gesetzen als am Tage.“ (Klein 2014, S.166)

Auch die dritte Traumdefinition, derzufolge Träume nichts anderes sind als Epiphänomene physiologischer Funktionen „im Gehirn und im Körper“ (vgl. Klein 2014, S.31), weist Klein zufolge ein erhebliches Defizit auf. Sie interessiert sich nicht für die Inhalte der Träume, also für das, was in den Träumen passiert: „Dieser Ansatz führte sie“ – also die Neurowissenschaftler – „dazu, den Inhalt der Träume für unwichtig zu erklären.“ (Klein 2014, S.33)

Psychoanalyse und Neurowissenschaften kennzeichnet Klein zufolge dieselbe kognitive Grundeinstellung: die Geringschätzung dem Traum gegenüber. „Wer Träume ernten will“ – so Klein –, „muss sie erstens wahrnehmen und zweitens ernst nehmen.“ (Vgl. Klein 2014, S.244) Mit ‚Ernten‘ umschreibt Klein in poetischer Form das nüchterne Geschäft des Datensammelns. Wer ‚Daten‘ über Träume sammeln will, darf diese nicht so eng fassen, daß dabei das subjektive Erleben der Träumer herausfällt, oder sie dort suchen, wo sie nicht zu finden sind.

Erst mit einem Mix neuer Methoden in der Traumforschung wurde eine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Themas möglich. Bezieht man den Träumer in die Untersuchung mit ein, so kommt man einer Beobachtung dieser Träume tatsächlich sehr nahe. Das bevorzugte Mittel ist hierbei die Schlafunterbrechung zu verschiedenen Zeiten des Schlafs im Schlaflabor. (Vgl. Klein 2014, S.34) Außerdem kann man das Traumerinnern trainieren. Wer sich daran gewöhnt, seine Träume aufzuschreiben, träumt mit der Zeit deutlicher und ‚genauer‘. (Vgl. ebenda) Schließlich lassen sich Träume sogar manipulieren, so daß auch Experimente möglich werden. Es gibt einen speziellen Traumzustand, den Klartraum (luzide Träume), in dem der Träumer sich selbst beobachten und das Traumgeschehen beeinflussen kann. (Vgl. ebenda) Die neurophysiologischen Prozesse, die diese Klarträume begleiten, können wiederum technologisch beobachtet werden und ermöglichen so eine objektive Bestätigung des subjektiven Erlebens der Klarträumer.

Schließlich gibt es noch, inzwischen fast schon ein Gemeinplatz in der Wissenschaft, ‚Big Data‘. Die Traumforscher haben mittlerweile umfängliche Traumdatenbanken angelegt, die es ihnen ermöglichen, statistische Methoden anzuwenden: „Heute verfügen wir über riesige Traumdatenbanken; zehntausende Protokolle lassen sich vergleichen und analysieren.“ (Klein 2014, S.12f.; vgl. auch S.35)

Allerdings möchte ich meinen, daß auch die Traumdatenbankler die Träume nicht wirklich ernst nehmen, ähnlich wie Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler. Denn sie gehen davon aus, daß die „Aussagekraft eines einzelnen Traums“, wie Klein selbst festhält, nur „gering“ ist. (Vgl. Klein 2014, S.167) Der eigentliche Wert des Sammelns von Träumen liegt aber wohl weniger in irgendwelchen statistischen Effekten als vielmehr in der Erweiterung der subjektiven Erfahrung und in der Nutzung ihres innovativen Potentials zur persönlichen Problemlösung. Das zeigt das Beispiel eines Traumforschers, der die Daten einer fleißigen Traumsammlerin, die 3082 Traumberichte verfaßt hatte (vgl. Klein 2014, S.158), auswertete. Der Traumforscher kam zu bemerkenswerten Erkenntnissen über das Leben der ihm unbekannten Frau. Dabei entging ihm aber bei seinen statistischen Auswertungen, daß sie „von der Hüfte abwärts gelähmt“ war und ihr Leben im Rollstuhl verbrachte. (Vgl. Klein 2014, S.168)

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