„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 18. November 2014

Peter Spork, Wake up!. Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft, München 2014

(Hanser, 18,99 €, 248 S.)

Im Unterschied zum zuletzt besprochenen Buch von Stefan Klein ist Peter Sporks Buch „Wake up!“ (2014) eher ein Ratgeberbuch, in dem es um ein gesünderes, natürlicheres Leben im Rhythmus der jedem individuellen biologischen Organismus eigenen Lebensprozesse geht. Und der grundlegende Rhythmus ist eben der Hell-Dunkel-Rhythmus: „Hell und Dunkel: Das ist der bestimmende Rhythmus unseres Lebens.“ (Spork 2014, S.56)

Um so schlimmer wirkt sich die sich immer weiter ausbreitende Lichtverschmutzung auf unserem Planeten auf unseren natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus aus.
Nebenbei angemerkt: auf meinen abendlichen Heimfahrten von der Arbeit – insbesondere im Winter – komme ich immer an den Fußballplätzen von zwei Gemeinden vorbei, die dann ihre Flutlichtanlagen zum nächtlichen Fußballtraining eingeschaltet haben. Schon etliche Kilometer vorher blenden mich diese Scheinwerfer derart, daß ich mit der Funzelbeleuchtung meines Fahrrades in völliger Dunkelheit versinke und nichts mehr sehe! Zum allgemeinen Wohl der einsamen Radfahrer und der Amseln, die mit ihren „Zwitscherzeiten“ (Spork 2014, S.62) völlig durcheinander kommen: Erfinde doch bitte endlich einer mal Scheinwerfer, die ihr Licht nicht in die nachtschlafende Welt hinausstreuen, sondern präzise den Sportplatz ausleuchten!
Hinzu kommen dem Biorhythmus von zwei Dritteln der Bevölkerung widersprechende Arbeitszeiten, die uns frühmorgens viel zu früh aus dem Schlaf wecken, und eine immer weiter nach ‚hinten‘, also in die Nacht hinein verschobene Freizeit, die uns viel zu spät ins Bett kommen läßt. Was übrigens altersbedingt vor allem die Erwachsenen betrifft, weil die Jüngeren, also die Kids und die jungen Erwachsenen natürlicherweise Nachteulen sind. Umso mehr betrifft sie der frühe Beginn des Schulunterrichts. Spork beschreibt, wie er einmal in Heilbronn zwischen 7 und 8 Uhr morgens auf dem Weg zum Bahnhof auf Scharen kindlicher und jugendlicher Zombies trifft: „Je mehr ich mich dem Bahnhof näherte, desto häufiger kamen mir Kinder entgegen. Doch kaum eines lachte oder redete. Den Gesichtern fehlte vor lauter Schlaftrunkenheit fast jede Mimik. Es handelte sich um Schüler, die aus der Umgebung mit der Bahn angereist waren und nun flugs zur Schule mussten. Es wurden immer mehr, und die Szenerie wurde immer gruseliger. Wie ‚Untote‘ wirkten die Kinder, die langsamen Schrittes in kleinen Grüppchen gingen. Die schlurfende Stille war unerträglich.“ (Spork 2014, S.174)

Sporks Buch ist deshalb nicht nur ein individuelles Ratgeberbuch, sondern fordert auch zu gesellschaftlichen Reformen auf, die es dem Menschen wieder ermöglichen sollen, seinen individuellen Chronotyp auszuleben. Der für ein Schlafbuch paradox klingende Titel – „Wake up!“ – ist vor allem als gesellschaftspolitischer Weckruf zu verstehen. Seine diesbezüglichen Vorschläge faßt Spork in einem Acht-Punkte-Plan zusammen. (Vgl. Spork 2014, S.232ff.)

Mit freundlicher Genehmung des Hanser-Verlags

Die Folgen des Schlafmangels spitzt Spork auf vier Punkte zu: Schlafmangel macht „dick, alt, dumm und krank“. (Vgl. Spork 2014, S.115) Ein schönes Beispiel für durch Schlafmangel verursachte ‚Dummheit‘ liefert ein von Spork beschriebenes Experiment: 48 junge Leute wurden in einem Schlaflabor in drei Gruppen unterteilt, die in den folgenden zwei Wochen jeweils vier, sechs oder acht Stunden pro Nacht schlafen durften: „Am Tage mussten sie Tests absolvieren. Nur bei den Ausgeschlafenen blieben die Ergebnisse im Laufe der zwei Wochen auf hohem Niveau.“ (Sporkt 2014, S.108) – Bei den Probanden, die nur vier und sechs Stunden Schlaf pro Nacht bekamen, diagnostizierten die Forscher „fortschreitende neurokognitive Dysfunktion im Aufmerksamkeitssystem und im Arbeitsgedächtnis“. (Vgl. ebenda)

Das Interessante war nun, daß die Probanden der Gruppe, die nur vier Stunden Schlaf abbekommen hatte, nach dem Experiment meinten, sie wollten jetzt, da sie festgestellt hätten, daß sie auch gut mit nur vier Stunden Schlaf auskämen, es auch künftig so halten und nur noch vier Stunden schlafen. Spork fügt zu diesem unerwarteten Effekt des Experimentes trocken an: „Was mittlerweise auch in anderen Untersuchungen bestätigt wurde: Anhaltender Schlafmangel macht uns dumm und dümmer – wir merken es nur nach kurzer Zeit nicht mehr.“ (Spork 2014, S.108)

Sporks ganz besonderer Zorn gilt der Sommerzeit, die uns alljährlich über einige Monate hinweg durch Vorverlegung der Uhrzeit unseren Schlaf raubt. Inzwischen geht der Trend immer mehr in die Richtung, den Wechsel von der Winterzeit zur Sommerzeit abzuschaffen. Aber auch hier zeigt sich, daß man unausgeschlafenen Politikern (und übrigens auch einem Großteil der ebenso unausgeschlafenen Wahlbevölkerung) mit ihrer Schlafentzugsdummheit nicht über den Weg trauen darf: „(Ilse) Aigner und die CSU votieren ... eindeutig für eine ganzjährige Sommerzeit. Damit dokumentieren sie eindrucksvoll, wie wenig sie von Chronobiologie und der Steuerung des intuitiven menschlichen Zeitgefühls verstanden haben.“ (Spork 2014, S.129)

Anstatt also zur dem durchschnittlichen menschlichen Biorhythmus eher entsprechenden Winterzeit, die ursprüngliche Normalzeit, zurückzukehren, will man die schlafraubende Sommerzeit auf das ganze Jahr ausdehnen! Vielleicht sollte man ähnlich wie im oben erwähnten Experiment unsere Politiker regelmäßigen Leistungstests unterziehen und sie dann bei entsprechend miesen Ergebnissen zu früherem Ins-Bett-gehen zwingen.

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Montag, 17. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Wie sich bei meiner Auseinandersetzung mit Douwe Draaisma (2012) zeigte, spielt die Chronologie schon in unserem Wachbewußtsein keine große Rolle. (Vgl. meinen Post vom 19.01.2014) Unsere Erinnerungen haben nur einen schwachen zeitlichen Index, so daß wir sie meistens nur im Sinne eines vagen ‚Früher‘ oder ‚Später‘ ordnen können. Dieses Früher oder Später fällt im Traum völlig weg, und Stefan Klein meint sogar, daß beides auch in unserem wachen Gedächtnis keine Rolle spielt: „Wir meinen, dass die Zeit unser Leben regiert, doch unser Gedächtnis ordnet nicht nach ‚früher‘ oder ‚später‘.“ (Stein 2014, S.114)

Klein zufolge ordnet unser Gedächtnis und mit ihm unser Traumbewußtsein die Erlebnisse nach Bedeutungen. (Vgl. Klein 2014, S.97) So sei der „Traum“ mit einem „Romancier“ zu vergleichen, „der sich von einer Vielzahl teils selbst erlebter, teils aus zweiter Hand überlieferter Szenen anregen lässt“ und „zwischen den Erinnerungen ein Netz von Geschichten (spannt)“. (Vgl. Klein 2014, S.104) Logik oder Realitätsnähe spielen dabei keine Rolle. Schon unserem kritischen Wachbewußtsein geht es bei der Verknüpfung von Erinnerungen nicht um „Wahrheit“, sondern nur um „Plausibilität“. (Vgl. ebenda) Im Traum brauchen die Bilderfolgen noch nicht mal plausibel zu sein. Klein resümiert für beide Bewußtseinszustände, für das Wachbewußtsein und für das Traumbewußtsein: „Was uns als einheitliche Erfahrung eines Augenblick erscheint, ist in Wirklichkeit ein nachträglich und aufwendig zusammengesetztes Flickwerk.“ (Klein 2014, S.115)

Das erinnert an das kommunikative Gedächtnis von Harald Welzer. Ähnlich wie Klein hervorhebt, daß unser Gedächtnis unsere Erinnerungen nicht nach einer Chronologie, sondern nach Bedeutung ordnet, verweist Welzer auf die dominante Rolle der Kommunikation. (Vgl. meine Posts vom 19.03. bis 04.04.2011) Letztlich geht es auch hier um das variable Verbinden von Propositionen (Erinnerungen) mit Prädikaten (Emotionen), wobei sogar die Propositionen selbst, also der Sachgehalt der Erinnerungen, der sozialen Situation im Gespräch angepaßt werden können: nichts ist gewiß!

Für mich ist das an dieser Stelle ein Anlaß, noch einmal über das Narrativitätsprinzip nachzudenken. Ich hatte Narrationen bislang immer mit ‚Zeit‘ in Verbindung gebracht. (Vgl. meine Posts vom 31.08.2011 und vom 24.03.2013) Narrationen verbinden und ordnen Erlebnisse chronologisch zu Szenen und Szenenfolgen, wobei sich im Sinne der Tomaselloschen extravaganten Syntax verschiedene Erzählebenen rekursiv überlagern können. (Vgl. meine Posts vom 26.04. und vom 27.04.2010; vgl. hierzu auch meinen Post vom 07.04.2014)

Ich hatte das Zeiterleben, das durch Narrativität ermöglicht wird, immer im Sinne eines Diachronismusses verstanden. Diesem Diachronismus hatte ich dann den Synchronismus des Lévi-Straussischen Strukturalismusses gegenübergestellt. (Vgl. meinen Post vom 22.05.2013) Dem strukturellen Denken ‚vormoderner‘ Naturvölker erscheint der Einbruch der Diachronie (Hungersnöte, Kriege, Krankheiten etc.) in ihre strukturell ausbalancierte Welt immer als Störung, während diese Diachronie im linear-prozeßhaften Denken des europäischen Abendlands mit einem Heilsversprechen auf Erlösung im Jenseits oder auf eine bessere Zukunft (Fortschrittsdenken) verbunden ist.

Auch das von Stefan Klein beschriebene Traumbewußtsein ist synchronistisch: alles, was in ihm passiert, ist nur in bezug auf eine momentane emotionale Stimmung von Bedeutung. Die ‚Verbindung‘ zwischen den verschiedenen momentanen Gefühlseindrücken ist allerdings nicht ‚strukturell‘ vermittelt. Hier trifft der Strukturalismus eines Sigmund Freud eben nicht zu. (Vgl. Klein 2014, S.33 und S.160) Träume sind nicht verschlüsselt und müssen deshalb auch nicht gedeutet werden. Sie geben ganz einfach die Gefühle wieder, die während eines Traums gerade die Oberhand haben: „Die Bilder, so originell, eindringlich oder rätselhaft sie auch anmuten, haben keine ihnen innewohnende Bedeutung, sondern sind eher Illustrationen.“ (Klein 2014, S.151) – Mit anderen Worten: Es werden keine Gefühle verdrängt, sondern unmittelbar gezeigt und wahrgenommen! Daß wir dennoch lernen müssen, sie hinsichtlich einer persönlichen Relevanz für unser Leben zu ‚deuten‘, stellt dazu keinen Widerspruch dar. Dieser Deutung liegt nämlich kein Mißtrauen oder gar Geringschätzung zugrunde, wie in der Psychoanalyse (vgl. Klein 2014, S.244ff.), sondern Vertrauen. Träume zeigen sich – wie überhaupt Phänomene in der Phänomenologie – als das, was sie sind.

Wenn also Narrationen nicht einfach nur in einem chronologischen Aneinanderreihen von Erlebnissen bestehen und wenn Träume zwar synchron aktuelles Empfinden bebildern, diese Bilder aber nicht strukturell starr, sondern nur lose assoziativ miteinander verknüpft sind, brauchen wir ein anderes Wort, das die bisherigen zwei einander polar gegenübergestellten Momente der Synchronie und der Diachronie um ein drittes Moment erweitert. Ich hatte dabei schon an ‚Achronie‘ oder an ‚Parachronie‘ gedacht. Beide Wörter treffen in etwa den Zustand der Zeitlosigkeit im Traumbewußtsein und im wachen Miterleben von Erzählungen und ‚Liedern‘.

Aber am besten gefällt mir doch immer noch das Wort ‚Anachronismus‘. Ana-Chronismus bringt, ähnlich wie das Wort ‚Analogie‘ in Bezug auf die Logik, die gleichzeitige Nähe und Distanz zu unserem Zeiterleben zum Ausdruck. Es entspricht auch dem, was Nietzsche als Unzeitgemäßheit bezeichnet. Das Prinzip der Narrativität ist also nicht die Diachronie, sondern die Anachronie. Die Anachronie bzw. der Anachronismus beschreibt ähnlich der Plessnerschen Exzentrizität die Position des Zuschauers und Zuhörers am Rande einer Geschichte, in deren Geschehen er sich in Gestalt der Protagonisten hineinprojiziert.

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Sonntag, 16. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Die Chronologie des Schlafs erstreckt sich, wie im letzten Post beschrieben, über alle drei Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der Individualität. In diesem Post soll es jetzt vor allem um die individuelle Entwicklungslinie gehen, also um die Ontogenese, in derem Zentrum die Herausbildung eines autobiographische Gedächtnisses steht. (Vgl. Klein 2014, S.95) Für die ‚Konstruktion‘ einer persönlichen Identität sind hier insbesondere die Pubertät und das junge Erwachsenenalter von Bedeutung. Aus diesem Alter stammen die meisten Erinnerungsbilder, die uns im Traum beschäftigen, weshalb die Gedächtnisforscher diese Lebensphase auch als „Erinnerungshügel“ (Klein 2014, S.155) bezeichnen.

Ähnlich wie Douwe Draaisma (2012) betont Stefan Klein, daß es im Gehirn „kein Organ für das Gedächtnis“ gibt, keinen Ort, „wo die Erinnerungen wie auf einer Filmrolle oder der Festplatte eines Computers zentral aufbewahrt werden“. (Vgl. Klein 2014, S.96) Im Traum werden die Erinnerungsbilder auch nicht in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben oder auch nur historisch korrekt in Traumszenen eingebettet. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 19.01.2014) Die Traumszenen bilden vielmehr Collagen, in denen wir aktuelle Erlebnisse mit früheren Erinnerungsbildern kombinieren. Funktioniert also schon die wache Erinnerung nicht wie eine „Filmrolle“, in der „jede neue Erfahrung einfach als weitere Szene hinzu (käme)“ (vgl. Klein 2014, S.97), so gilt das umso mehr für unser Traumbewußtsein. Im Traum ist immer alles gegenwärtig, im Hier und Jetzt. Ein Früher oder Später gibt es nicht, so wenig wie ein ‚Vielleicht‘. (Vgl. Klein 2014, S.110 und S.114)

Wie Klein schreibt, organisiert unser Gedächtnis die Erinnerungen nicht nach ihrer Chronologie, sondern nach ihrer Bedeutung: „Das Gedächtnis ist also als ein Beziehungsgeflecht organisiert, und weil es nach Bedeutungen ordnet, können wir mit unseren Erinnerungen überhaupt etwas anfangen. Andernfalls würden wir beispielsweise einen Ort, den wir einmal im Sommer besucht haben, unter einer Schneedecke im Winter nicht wiedererkennen. Doch die Struktur unserer Erinnerung erlaubt es, die neuen Eindrücke in die Vorstellung einzufügen, die wir über dieses Dorf bereits gespeichert haben.“ (Klein 2014, S.97)

Das macht noch einmal deutlich, daß unser Bewußtsein nicht in der Weise eines Wenn-dann-Algorithmusses funktioniert. Wo die Semantik einer Computersprache in Hierarchien von 1:1-Zuordnungen besteht (vgl. hierzu meinen Post vom 01.08.2014), entspringt die Bedeutung beim Menschen nicht aus der Identifizierung von, sondern aus einer Differenzierung zwischen Sagen und Meinen, zwischen Schein und Sein, zwischen Vordergrund und Hintergrund. Da die neuen Wahrnehmungsbilder des Dorfes im Winter nicht einfach zu den älteren Wahrnehmungsbildern des Dorfes im Sommer hinzukommen, sondern sich beide Wahrnehmungsbilder überlagern, kann im sich dadurch eröffnenden Raum zwischen den beiden Wahrnehmungsbildern das konkrete Dorf in seiner Selbigkeit zum Vorschein kommen und wiedererkannt werden. Dabei bilden die Überlagerungen keine starren Hierarchien, sondern sie sind dauerhaft variabel und bilden ein ständiges Verschieben und Verlagern. Wach- und Traumbewußtsein sind fleißige Kulissenschieber vor dem Publikum unserer Aufmerksamkeit.

Bestände die menschliche Semantik in Eins-zu-eins-Zuordnungen von Bildern bzw. Zeichen und Bedeutungen, gäbe es also keine Möglichkeit, Gegenstände und Sachverhalte in veränderten Situationen wiederzuerkennen. Wenn Klein die Gestaltwahrnehmung an einzelnen „Konzeptzellen“ wie etwa dem Jennifer-Aniston-Neuron festzumachen versucht (vgl. Klein 2014, S.101f.), so ist das nur eine weitere untaugliche 1:1-Festlegung. Es ist wohl eher so, daß wir es bei den Konzeptneuronen mit einer Art ‚Index‘ zu tun haben, der anzeigt, daß eine Gestaltwahrnehmung bzw. eine Gestalterinnerung zustande gekommen ist. Ansonsten bilden Konzeptzellen nur eine weitere Schicht in der Überlagerung von unterschiedlichen, vielfältigen Funktionen, von denen jede am Zustandekommen einer Gestalterinnerung beteiligt ist. Das ganze Geschehen läßt sich deshalb besser unter dem Stichwort ‚Plastizität‘ beschreiben, während das Wort ‚Korrelation‘ allzu sehr mit dem Mißverständnis von 1:1-Zuordnungen belastet ist.

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Samstag, 15. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein beschreibt zwei Zeitreisen mit gegensätzlich ausgerichtetem Zeitpfeilen, die wir in den einander abwechselnden Schlafphasen einer Nacht machen, beginnend mit dem ersten Tiefschlaf und den darauf folgenden REM-Schlaf- und Spindelschlafphasen. (Vgl.Klein 2014, S.67f. und S.94f.) Diese Zeitreisen haben eine evolutionsbiologische und eine ontogenetische Dimension.

Der Zeitpfeil der ontogenetischen Dimension zeigt Richtung Schlafbeginn: der erste Tiefschlaf beginnt mit den jüngsten Erlebnissen des Tages, um sie zu ordnen und dem Gedächtnis einzuprägen, und die darauffolgenden Schlafphasen befassen sich mit immer weiter zurückreichenden Erlebnissen aus der individuellen Vergangenheit des Schläfers, die, je später die Nacht, „Monate, Jahre, oftmals sogar Jahrzehnte“ zurückliegen können. (Vgl. Klein 2014, S.94)

Der Zeitpfeil der evolutionsbiologischen Zeitreise zeigt Richtung Schlafende und entspricht Klein zufolge der Entwicklung des Gehirns vom Reptil über das Säugetier bis zum modernen Menschen. Im ersten Tiefschlaf bewegt sich das Schlafbewußtsein an der Grenze zum Traumbewußtsein entlang, und wir sind immer nur kurz dazu in der Lage, einzelne Traumbilder wahrzunehmen, bevor wir wieder in die völlige Bewußtlosigkeit absinken. (Vgl. Klein 2014, S.121f.) Im Laufe der Nacht werden diese Phasen der Traumbewußtheit immer länger, bis wir schließlich in der späten Nacht und am frühen Morgen lange, inhaltsreiche Traumszenen träumen können, die dem Wachbewußtsein gleichen: „Im Lauf einer Nacht hangeln wir uns von rudimentären zu immer umfassenderen Formen von Bewusstsein. ... So gesehen, nehmen wir in einer einzigen Nacht den Weg, den die Evolution im mindestens 350 Millionen Jahren durchlief. Als auf dem Weg der Entwicklung der Reptilien, Vögel und Säugetiere die Gehirne immer komplexer wurden, dämmerte in der Natur das Bewusstsein herauf. Ähnelt das innere Erleben der Echsen oder Vögel unseren Traumfetzen der frühen Nacht?“ (Klein 2014, S.130)

Im Schlaf dominiert das limbische System, das wir mit Reptilien gemeinsam haben. Diesem limbischen System entspringen unsere Emotionen. Deshalb regieren im Schlaf diese Gefühle unsere Träume. Da das Stirnhirn wie auch die Sinneswahrnehmungen ausgeschaltet sind, springen unsere Traumbilder von emotionaler Stimmung zu emotionaler Stimmung, zu der sich jeweils die passenden Traumbilder einstellen. Eine rationale Logik gibt es dabei nicht: „Wenn wir tagsüber etwas befürchten, wissen wir, dass es sich nur um eine Möglichkeit handelt, die nicht eintreten muss. Der Traum hingegen kennt kein ‚vielleicht‘. Wach können wir Pläne machen, wie wir unsere Wohnung am besten vor Einbrechern schützen; im Traum sehen wir den Räuber schon vor uns stehen. Wie Aladins Wunderlampe lässt das träumende Gehirn jeden Einfall sofort als Realität erscheinen.“ (Klein 2014, S.110)

Das erinnert ein wenig an Brain-Computer-Interfaces. (Vgl. DLF, „Die Gedankenübersetzungsmaschine“, 07.10.2012) Auch hier werden innere Zustände ohne Umweg über den Körper in die ‚Realität‘ einer Maschine umgesetzt, auf den Monitor bei Locked-in-Patienten, in das Abfeuern einer Rakete bei Kampfpiloten. Denn auch die Maschinen kennen kein ‚Vielleicht‘. Schon der bloße Gedanke an eine Tätigkeit wird als Handlungsanweisung verstanden.

Im Traum ist das also unser natürlicher Zustand: ein Gefühl taucht auf und sofort stellt sich eine Traumwahrnehmung dazu ein. Daß es nicht zur Ausführung kommt, ist allein dem Umstand zu verdanken, daß unsere Motorik heruntergefahren ist. Bei einem Experiment, in dem bei Katzen der entsprechende Nerv, der die Motorik unterdrückt, durchtrennt worden ist, wurden diese Katzen im Schlaf zu wilden Raubtieren, so daß sie sogar die Wissenschaftler in Schrecken versetzten. (Recht geschieht ihnen! Die armen Katzen!) Klein resümiert: „Der REM-Schlaf ließ Aggressionen aufsteigen und setzte offenbar Jagdroutinen in Gang. Sehr eindrücklich demonstrierten die operierten Katzen, warum die Muskeln im REM-Schlaf normalerweise außer Betrieb sind: Allein diese natürliche Lähmung verhindert, dass ein Träumer seine enthemmten Impulse in die Tat umsetzt. Sie bewahrt schlafende Tiere und Menschen davor, sich oder andere zu verletzen.“ (Klein 2014, S.66)

Bei Menschen gibt es insbesondere bei älteren Männern eine „REM-Verhaltensstörung“, die man gemeinhin auch als Schlafwandeln bezeichnet: „Heute ist bekannt, dass die sogenannte REM-Verhaltensstörung fast ausschließlich Männer über 60 heimsucht. Ursache ist offenbar der Abbau bestimmter Hirnzellen, denn so gut wie alle Patienten leiden Jahre später auch an der Parkinson-Krankheit oder einer bestimmten Demenz.“ (Klein 2014, S.66f.)

Klein bespricht in diesem Zusammenhang besonders ausführlich den Fall von Kenneth Parks (vgl. Klein 2014, S.131-136 und S.142), der im Schlaf seine Schwiegereltern ermordete. Inwiefern dieser Fall trotz zahlreicher psychiatrischer Gutachten tatsächlich authentisch oder nur der Verhandlungsstrategie der Anwälte geschuldet ist, will ich hier offenlassen. (Vgl. hierzu die Diskussion zu „Anachronismen“ in meinem Blog „Auf der Grenze“) Vielleicht ist da die Geschichte von Rowena Popes Ehemann weniger verdächtig. (Vgl. Klein 2014, S.69f.) Nach einem langen, glücklichen Eheleben – so erzählt Stefan Klein die Geschichte – fing Rowenas Mann plötzlich an, sie in der Nacht anzugreifen und zu verprügeln. Nach so einer Nacht erinnerte sich Rowenas Mann an einen Traum, in dem er einen Einbrecher gestellt und versucht habe, ihn zu verjagen.

Diese nächtlichen Vorfälle wiederholten sich, und die Eheleute benutzten nun getrennte Schlafzimmer, womit Rowena, die nachts ihren Mann vermißte, aber sehr unzufrieden war. Einmal beobachtete sie, „wie Cal bei einem Nickerchen von der Couch fiel. Statt zu erwachen, brüllte er wie ein verwundetes Tier und kroch in den Raum zwischen Sofa und Wand, als ob er sich in einen Bau zurückziehen würde“. (Vgl. Klein 2014, S.68)

Als Rowena ihren Mann in eine Klinik brachte, wo man ihm ein Beruhigungsmittel verschrieb, das die Erregungen während der Traumphasen so weit dämpfte, daß er nicht mehr während des Schlafs gewalttätig wurde, konnten die Eheleute die Nächte wieder zusammen verbringen. Stefan Klein resümiert: „... der Traum führt uns immer wieder zurück in eine archaische, wilde Vergangenheit: Daran erinnern die Jagdszenen von Lascaux ebenso wie die Erzählungen der australischen Aborigines von einer mythischen Traumzeit. Und genau das erlebte Rowena Pope, als sie ihren Mann sich wie ein Tier verkriechen sah.“ (Klein 2014, S.69)

Ich verstehe die von Stefan Klein beschriebenen Zeitreisen als eine Bestätigung für mein Konzept der verschiedenen Entwicklungslogiken – Biologie, Kultur und Individualität –, die zusammen einen Anachronismus bilden: ‚Anachronismus‘ zum einen deshalb, weil diese verschiedenen Entwicklungslogiken heterogenen Chronologien unterworfen sind. Die einzelnen Entwicklungslinien ringen in den verschiedenen Lebenssituationen um die Vorherrschaft über das Individuum, wobei das Individuum das Schlachtfeld bildet, auf dem dieser Kampf ausgetragen wird. An dieser Stelle stimme ich mit psychoanalytischen Konzepten vom Ich, Es und Über-Ich überein.

‚Anachronismus‘ zum anderen deshalb, weil das Individuum auf diese Weise aus der Zeit herausfällt und sich exzentrisch zu ihr positioniert. Das unterscheidet mein Konzept von den diversen psychoanalytischen Varianten. Das Individuum lebt gleichermaßen in der Zeit und außerhalb der Zeit, ähnlich der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität, derzufolge der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt gleichzeitig Mitte und Peripherie ist. Es liegt an unserer Lebensführung, wie sich biologische und kulturelle Einflüsse in unserer individuellen Persönlichkeit ‚brechen‘ bzw. mit anderen Worten: wer wir sind.

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Freitag, 14. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein meint, daß das „Aha-Erlebnis“ des Klarträumers, wenn er gewahr wird, daß er nur träumt, dem „Satori“ gleiche, dem „plötzlichen und intuitiven Erfassen der Realität“. (Vgl. Klein 2014, S.213) Auch sonst erinnern Stefan Klein bestimmte Phasen des Tiefschlafs an christliche und buddhistische Meditationserfahrungen: „Noch lange werde ich mich an das wunderbare, silbrige Licht erinnern, das ich sah, als mich ein Assistent im Schlaflabor aus einer solchen Schlafphase herausriss. Die Strahlen waren reine Helligkeit, pure Schönheit, doch sie beschienen keinen Gegenstand. Solche Erfahrungen mögen christliche Mystiker als Gottes Abglanz gedeutet haben, buddhistische Lehren brachten den Tiefschlaf seit jeher mit dem Nirwana in Verbindung.“ (Klein 2014, S.58)

Auch mich erinnerte die Verdopplung des Klarträumers, der sich selbst beim Träumen – und übrigens auch beim Schlafen! – zusieht, an Beschreibungen der Hellwachmeditation, in der wir uns ebenfalls ‚neben uns‘ befinden und die inneren Bilder und Gedanken mit unserem Atem kommen und gehen lassen. Diese Verdopplung ist beim Klarträumer übrigens ganz wörtlich zu nehmen. Der Körper des Klarträumers verdoppelt sich, und vielleicht ist das ja auch der Grund, daß manche Menschen die Erfahrung machen, daß sie gleichsam über ihrem Körper schweben und sich selbst beim Schlafen zusehen: „Es kommt ihnen so vor, als würde das Wach-Ich den physischen Körper im Bett, das heraufdämmernde Traum-Ich einen Traumkörper in der Traumwelt bewohnen.“ (Klein 2014, S.218)

Abgesehen davon hat aber der Traumkörper auch die Funktion, den Träumer dazu in die Lage zu versetzen, sich in einer virtuellen Welt in allen ihren drei Dimensionen räumlich zu orientieren: „Er (der Doppelgänger – DZ) ermöglicht es uns, in REM-Träumen Bewegungen zu lernen. Wie ein Pilot den Umgang mit einer neuen Maschine zunächst nicht im Cockpit, sondern im Flugsimulator trainiert, so kann der Traumkörper in der virtuellen Innenwelt einfach und risikolos üben, bei neuen Bewegungsfolgen Muskeln und Wahrnehmung richtig zu koordinieren.“ (Klein 2014, S.220)

Es geht also nicht nur um paranormale Erfahrungen, sondern auch um ganz handfeste, realitätstaugliche Lernprozesse: um das Training von neuen motorischen Fähigkeiten, wie beim Beispiel mit dem Flugsimulator; aber auch um die Therapie von belastenden traumatischen Erlebnissen. Was die Therapie betrifft, geht diese interessanterweise oft mit Augenbewegungen einher; wie wir wissen, sind schnelle Augenbewegungen ein wesentlicher Bestandteil der REM-Phase. In der REM-Phase werden unsere im Wachzustand gemachten Erfahrungen mit Emotionen verbunden. Zugleich können bestimmte belastende Erlebnisse auch neu bewertet werden bzw. sie können von den mit ihnen verbundenen bedrückenden Gefühlen befreit bzw. entkoppelt werden. (Vgl. Klein 2014, S.199)

In gewisser Weise gleicht die Folge der Schlafphasen der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen. Im Tiefschlaf, insbesondere in der ersten und tiefsten Tiefschlafphase der Nacht, verarbeiten und ordnen wir nur das tagsüber gesammelte ‚Wissen‘. Das gleicht dem, was die Sprachwissenschaftler als propositionalen Gehalt bezeichnen. Die Bewertung dieses Wissens, also seine Kopplung mit Emotionen (Prädikaten), findet im weiteren Verlauf der Nacht in den REM-Schlafphasen statt. Diese REM-Schlafphasen ermöglichen auch das Abkoppeln und Neuverknüpfen von traumatischen Erlebnissen und tragen so zum Heilungsprozeß bei: „Heute gilt das Einüben neuer Traumbilder als Therapie erster Wahl für alle, die unter wiederkehrenden Albträumen leiden, sei es als Opfer von Gewalt, Katastrophen oder aus anderen Gründen.“ (Klein 2014, S.205) – Diese Therapie bezeichnet man auch als „Imagery Rehearsal Therapy“. (Vgl. ebenda)

Es sind übrigens gerade die bizarren Träume, die besonders zur Neuverknüpfung belastender Erfahrungen beitragen. Je stereotyper und realitätsnäher traumatische Erlebnisse im Traum nacherlebt werden, umso weniger heilsam sind sie. Im Gegenteil: Sie prägen uns das Trauma nur immer tiefer ein, und wir werden es am Ende nicht mehr los. (Vgl. Klein 2014, S.198)

Sich bewegende Augäpfel bilden auch außerhalb des REM-Schlafs ein Therapeutikum, um belastende Erfahrungen zu verarbeiten. So hat Francine Shapiro das EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) entwickelt, eine Therapie, bei der der Therapeut einen Finger vor den Augen des Klienten hin und herbewegt. (Vgl. meinen Post vom 13.01.2014) Der Klient folgt den Bewegungen des Fingers mit seinen Augen und denkt dabei an sein Trauma. Mit der Zeit reduziert sich das Trauma immer mehr auf seinen ‚propositionalen Gehalt‘, während sich die belastenden ‚Prädikate‘ (Gefühle) verflüchtigen.

Einen ähnlichen Effekt kennen wir auch von der Hypnose: der Hypnotiseur läßt einen Pendel vor den Augen des Klienten hin und herschwingen. Während dieser Klient nun in Hypnose fällt, kann der Hypnotiseur ihm bestimmte Anweisungen einflößen, die sich mit der inneren Welt des Klienten assoziieren (verkoppeln). Im Wachzustand wird der Klient diese Anweisungen als seine eigenen Motive wahrnehmen und entsprechend handeln.

In allen diesen Fällen greifen die Therapeuten auf das Mittel der Augenbewegungen zurück, was sich auch angesichts dessen, was man inzwischen über den REM-Schlaf weiß, ganz einfach erklären läßt.

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Donnerstag, 13. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Wenn das Gehirn, wie im letzten Post beschrieben, in der Lage ist, von allen Sinneswahrnehmungen abgeschirmt im Traum Wahrnehmungsbilder zu erzeugen und wenn sogar blindgeborene Menschen im Traum visuelle Wahrnehmungen haben, dann ist es kein Wunder, wenn Klein zu solchen Statements kommt, daß sich das Bewußtsein „allein durch die Verarbeitung gespeicherter Information einstellen“ kann. (Vgl. Klein 2014, S.130) In so einer Feststellung klingt nichts mehr von dem an, was Plessner als Körperleib beschrieben hat, und auch nichts vom menschlichen Selbst- und Weltverhältnis, das die klassische deutsche Bildungstheorie seit Wilhelm von Humboldt geprägt hatte und von der ja auch in unserem heutigen Bildungssystem nicht mehr viel übrig geblieben ist.

Die Ergebnisse der Neurowissenschaften scheinen jedenfalls eindeutig zu sein. Von 10 Milliarden visueller Bits pro Sekunde gelangen nur 100 Bits „in das Bewusstsein“, also, glaubt man Kleins Rechnung, „gerade ein Zehnmillionstel dessen, was Ihre Augen sehen“. (Vgl. Klein 2014, S.77f.) Wenn man nochmal nachrechnet, handelt es sich sogar nur um ein Hundertmillionstel. So oder so ist Kleins Feststellung, daß nur „ein winziger Bruchteil“ der Neuronen im Großhirn „überhaupt mit der Außenwelt in Verbindung“ steht, korrekt. (Vgl. Klein 2014, S.47) Klein erhöht das erkenntnistheoretische Gewicht dieser Daten noch mit einigen Hinweisen aus der Physik:
„Wenn Sie in diesem Moment auf die Buchstaben vor Ihnen schauen oder die Geräusche der Straße hören, kommt es Ihnen so vor, als würden Sie einfach Eindrücke von außen empfangen. Da allerdings täuschen sie sich: Um Sie herum gibt es weder Farben noch Formen noch Töne, nur elektromagnetische Wellen und Schall. Alles andere entsteht offenbar in Ihnen selbst: Irgendwie verwandelt sich eine physikalische Erregung von Augen und Ohren in ein bewusstes Erlebnis – ein Bild oder den Klang einer vertrauten Stimme. Sie erleben so etwas wie einen Film, der in Ihrem Kopf spielt.“ (Klein 2014, S.124)
Die Sache scheint also so klar zu sein, daß sich eine weitere Diskussion gar nicht mehr lohnt. Kann man also die differenzierteren Stellungnahmen von Chris Frith, Georg Northoff und Antonio Damasio – allesamt in diesem Blog erwähnte und besprochene Autoren (Damasio wird von Klein immerhin an zwei Stellen (vgl. Klein 2014, S.124 und S.126) ebenfalls erwähnt) – zum menschlichen Selbst- und Weltverhältnis vergessen? Chris Frith hebt hervor, daß das ‚Gehirn‘ ein meßbar größeres Interesse an der Außenwelt zeigt als an seiner eigenen Innenwelt (vgl. meinen Post vom 05.05.2010), – ungeachtet dessen, daß nur so wenige Informationen überhaupt bis zu ihm vordringen. Damasio weist ebenfalls daraufhin, daß das Gehirn aufmerksam alles beobachtet, was im Körper – der ja mit seinen Sinnesorganen ebenfalls zur Außenwelt gehört – vor sich geht. (Vgl. meine Posts vom 25.03.2011, vom 10.02., und vom 16.08.2012) Das Gehirn gehört Damasio zufolge zum Körper und läßt sich nicht von ihm trennen. Für Georg Northoff ist das von der Umwelt isolierte ‚Gehirn‘ überhaupt kein Gehirn. (Vgl. meinen Post vom 28.07.2012) Ein voll funktionsfähiges Gehirn – und nur ein solches kann man legitimerweise als Gehirn bezeichnen – bedarf der Außenwelt. Deshalb spricht Northoff vom Gehirn als einer Umwelt-Gehirn-Einheit.

Kann man alle diese Erkenntnisse also vergessen? – Stefan Klein selbst bringt einige Hinweise dafür, daß das nicht so ist. So heißt es z.B. an einer Stelle: „Wir müssen zunächst sehen und hören, dann erst können wir wissen.“ (Klein 2014, S.102) – Die Sinnesorgane leisten also schon mal zumindestens auf der Ebene des Wissens einen unverzichtbaren Beitrag zu unserem Bewußtsein. In diesem Sinne heißt es einige Seiten weiter über die „innere(n) Bilder und Stimmen“: „... tagsüber gleicht das Gehirn sie fortwährend mit den Signalen ab, die es von Augen und Ohren empfängt. Nur wenn sich eine Vorstellung mit den aktuellen Sinneseindrücken verträgt, nimmt man diese als Wirklichkeit wahr.“ (Klein 2014, S.109) – Das Bewußtsein für sich selbst ist also noch nicht realitätshaltig. Das ist zwar noch keine Aussage, die an Plessners Körperleib heranreicht, derzufolge sich das Bewußtsein überhaupt erst über seinen Realitätsbezug definiert, aber immerhin schon mal ein Schritt in diese Richtung hin.

Wenn man also überhaupt eine Vorstellung von der Wirklichkeit haben soll, reicht es nicht, daß wir ein intensives Gefühl der Gewißheit hinsichtlich dessen haben, daß das, was wir gerade erleben, tatsächlich wirklich ist, wie etwa im Klartraum. (Vgl. Klein 2014, S.210) Auch die anderen Traumbewußtseinszustände sind von solchen ‚Gewißheiten‘ gekennzeichnet, da ja das kritische Stirnhirn ausgeschaltet ist. (Vgl. Klein 2014, S.113) Zu einem ‚erwachenden‘ Wirklichkeitsbewußtsein kommt es erst, wenn „Auge und Sehsystem“ dafür sorgen, „dass unsere Vorstellungen zu dem passen, was wir von der Außenwelt wahrnehmen“ und wenn das Stirnhirn prüfen kann, „wie plausibel diese Vorstellungen sind.“ (Vgl. Klein 2014, S.234)

Es bedarf also einer Unterbrechung des Reflexbogens, wie sie Plessner mit dem Körperleib auf den Begriff gebracht hat. Und diese Unterbrechung findet im Schlaf definitiv nicht statt, – es sei denn, wir wechseln in den Klartraum.

Wie sehr es bei der Bestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses auf eine Differenzierung zwischen Innenwelt und Außenwelt ankommt – und zwar als dem wesentlichen Bewußtsensmoment schlechthin –, zeigt Stefan Klein sehr schön am Beispiel von Helen Keller. Helen Keller hatte im Alter von ein bis zwei Jahren aufgrund einer Gehirnhautentzündung Augenlicht und Gehör verloren und lebte viele Jahre lang in einer Welt der Stille und der Dunkelheit. Die übriggebliebenen Sinneseindrücke konnten ihr keinen Eindruck davon vermitteln, daß es noch eine Welt außerhalb dieser umfassenden Dunkelheit geben könnte: „Dass sich Innenwelt und Außenwelt unterscheiden, merkte sie erst, als es ihr gelang, den Panzer des Schweigens zu brechen. Die Botschaften, die sie mit ihrer Lehrerin durch Buchstabenzeichnen auf den Handflächen austauschte, offenbarten ihr die Grenze zwischen Träumen und Wachen. Und doch blieb Keller ihr Leben lang überzeugt, dass zwischen beiden eine untrennbare Verbindung besteht.“ (Klein 2014, S.85)

In Helen Kellers Erfahrung kommt beides zusammen: die Gewißheit einer Außenwelt und deren innige Verbindung mit der Innenwelt, – Plessners Körperleib. Erst durch die Erfahrung der Differenz kommt es zur Erkenntnis der Verbindung.

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf die „Grenze zwischen Träumen und Wachen“. Wir haben es hier mit demselben Sachverhalt zu tun: der Klarträumer, der sich auf dieser Grenze zwischen Träumen und Wachen entlang bewegt, befindet sich zugleich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, was der Plessnerschen Definition der Seele entspricht. Träumen und Wachen bilden also Momente des gleichen Bewußtseins. Auch hier bringt Plessner die Sache auf den Begriff, wenn er von der Doppelaspektivität des menschlichen Bewußtseins spricht.

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Mittwoch, 12. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Leserinnen und Leser der Sandman-Comics werden wissen, daß das Schloß von Dream, einer der acht Mächte, die älter sind als die Götter, von Torwächtern bewacht wird, die keine unangemeldeten Besucher in Dreams Schloß eindringen lassen. Interessanterweise gibt es im Gehirn eine Region, den Thalamus, das griechische Wort für ‚Tor‘, die eine ähnliche Aufgabe erfüllt: „Wenn dieses Tor sich schließt, geht die Sinneswahrnehmung verloren. Das geschieht jede Nacht: Im Schlaf sind wir fast vollständig taub und blind. Obwohl Auge und Ohr noch funktionieren und Reize empfangen, kommen im Großhirn keine Signale an.“ (Vgl. Klein 2014, S.43)

Im Schlaf werden also alle Bilder und Bildfolgen, von denen wir träumen, intern erzeugt. Dabei dominieren die visuellen Wahrnehmungen. Nur in fünfzig Prozent unserer Träume hören wir auch Stimmen und sogar nur in einem Prozent unserer Träume riechen und schmecken wir auch. (Vgl. Klein 2014, S.75) In Klarträumen hingegen können unsere Träume sinnlich sogar überaus scharf konturiert und detailliert sein. Klarträumer befinden sich in einem Zustand auf der Grenze zwischen Wachen und Schlafen. Dabei handelt es sich nicht um das dämmrige „Zwielicht“ beim Einschlafen und Aufwachen (vgl. Klein 2014, S.236), sondern um eine Art von Hellwachheit, in der wir uns unserer Träume bewußt sind und sie sogar steuern können:
„Die Erlebnisse im Klartraum sind so intensiv, als ob sie Wirklichkeit wären. Das unterscheidet den luziden Zustand vom Tagtraum, dessen Fantasiebilder blasser als echte Sinneseindrücke erscheinen, und von einem Kinofilm, der nur auf einem Stück Leinwand zweidimensional an uns vorüberzieht, und auch von einem Computerspiel, das wir ebenfalls in einem Ausschnitt unseres Blickfelds erleben. Im Klartraum dagegen taucht man mit allen Sinnen in eine selbst erzeugte Realität ein.“ (Vgl. Klein 2014, S.210f.)
Ansonsten sind unsere Traumeindrücke weniger deutlich und verschwommener. Dabei wirkt sich interessanterweise auch die technologische Qualität von im Wachzustand erlebten Phantasiebildern auf die sinnliche Qualität der im Traum wahrgenommenen Bilder aus. Ältere Menschen, die in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. aufgewachsen sind, erleben ihre Träume vorwiegend in Schwarz-Weiß, aus dem einfachen Grund, weil zunächst das Kino und dann das Fernsehen bis in die fünfziger und sechziger Jahre hinein schwarz-weiß waren. (Vgl. Klein 2014, S.26ff.) Ansonsten dominierte in der Menschheitsgeschichte beim Träumen das Farbensehen.

Angesichts dieser Auswirkungen von Technologien auf die Wahrnehmungen im Traum fragt man sich, was wohl die neueste technologische Revolution, das Oculus Rift, einem Head-Set, das es uns erlaubt, eine virtuelle Welt sensorisch und motorisch im vollen Umfang zu erleben, mit unserem Traumbewußtsein anrichten wird.

Übrigens träumen auch blindgeborene Menschen in Bildern. Über diese Traumwahrnehmung täuschen sich sogar die Blinden selbst, die oft genug selbst davon überzeugt sind, auch im Traum nicht sehen zu können: „Wer nämlich Blinde erst am Morgen interviewt und fragt, ob sie im Traum etwas gesehen hätten, bekommt fast immer eine negative Antwort. Denn wer blind geboren wurde, kann sich kaum vorstellen, dass er im Schlaf Bilder sieht.“ (Klein 2014, S.76) – Erst wenn man sie im Laufe der Nacht aus dem Schlaf weckt, ist die Erinnerung an die Traumwahrnehmungen frisch genug, daß die Blinden sogar in der Lage sind, die Traumbilder zu zeichnen. (Vgl. Klein 2014, S.77) Sie zeichnen also Bilder, die sie mit ihren Sinnen niemals wahrgenommen haben und die ausschließlich ‚intern‘ erzeugt worden sind. Aber Blinde können anscheinend auch tagsüber, im Wachzustand, mit Hilfe des Tastgefühls interne Bildwahrnehmungen erzeugen. (Vgl. Klein 2014, S.82f.)

Das wirft natürlich viele Fragen hinsichtlich der Realitätshaltigkeit unserer Wahrnehmungen auf. Denn wenn blindgeborene Menschen Traumbilder erzeugen, die der Außenwelt, die sie nicht wahrnehmen können, entsprechen, deutet das auf einen generellen Bilderzeugungsmechanismus hin, den wir mit den Assoziationsfeldern der Sehrinde in Verbindung bringen können. (Vgl. Klein 2014, S.68) Diese Assoziationsfelder greifen offensichtlich auf Erinnerungen zurück, die älter sind als wir selbst, älter möglicherweise auch als die Menschheit. Stefan Klein verweist hier auf Kants Anschauungsformen von Raum und Zeit, die vorgeben, wie wir die Welt sehen können. (Vgl. Klein 2014, S.83) Diese Anschauungsformen sind unabhängig von individuellen Erfahrungen. Im nächsten Post wird es darum gehen, was das für das Verhältnis von Innen- und Außenwelt bedeutet.

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Dienstag, 11. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein hebt immer wieder hervor, daß das Gehirn im Schlaf „andere Wege“ geht als am Tag. (Vgl.u.a. Klein 2014, S.166) Diese Feststellung bedarf allerdings nochmal einer Differenzierung: das Gehirn geht nur insofern andere Wege als am Tag, als im Schlaf andere Hirnregionen aktiv sind. Zum einen sind die Sinneswahrnehmungen ausgeschaltet und, noch wichtiger vielleicht, auch das Stirnhirn, das sonst gegen realitätsverzerrende Aktivitäten der Assoziationsfelder der Sehrinde seinen kritischen Einspruch erhebt. (Vgl. Klein 2014, S.82 und S.215)

Ansonsten aber besteht eigentlich gar kein so großer Unterschied zwischen Träumen und Wachen, wie die bei allen Menschen verbreiteten Tagträumereien zeigen. (Vgl. hierzu auch meine beiden Posts vom 29.07.2012) Denn auch im Tagtraum verabschieden wir uns von unserer Umwelt, die wir jetzt praktisch nicht mehr wahrnehmen, während vor unserem geistigen Auge die Bilder vorübertreiben. Denn Bilder bilden in hundert Prozent unserer Träume die Hauptsinneswahrnehmung, während schon Stimmen nur in fünfzig Prozent vorkommen und von Riechen und Schmecken nur ganz am Rande in einem Prozent der Träume berichtet wird. (Vgl. Klein 2014, S.75) Sogar Blindgeborene träumen in Bildern. (Vgl. Klein 2014, S.75f.)

Tatsächlich ist es Klein zufolge so, daß „Träume eben nicht nur unsere Nächte“ beherrschen, sondern auch „in jeder Minute des Nachdenkens, des Fantasierens, des Nichtstuns und sogar bei jedem einzelnen Lidschlag auf uns (einwirken)“. (Vgl. Klein 2014, S.47) Denn wir blinzen nicht etwa deshalb so häufig, um unsere Augäpfel nicht austrocknen zu lassen, sondern weil das Gehirn diese Sekundenbruchteile des Lidschlags braucht, um die über die Augen hereinstürmenden Sinnesinformationen zu filtern und zu ordnen.

Das Träumen selbst ist letztlich doch eher eine „erstaunlich genaue Nachbildung des Wachlebens“ (vgl. Klein 2014, S.49): „Das Vorurteil, Träume seien stets unlogisch, gilt inzwischen als widerlegt. Ein Teil der Traumerzählungen liest sich so vernünftig, dass Experten sie in Blindversuchen mit Berichten aus dem wachen Alltag verwechseln.“ (Klein 2014, S.119)

Eigentlich müßte man aber Kleins Feststellung umkehren: nicht das Träumen ist eine erstaunlich genaue Nachbildung des Wachlebens, sondern das Wachleben ahmt das Träumen nach. Denn auch das scheinbar so logische und kritische Denken ist ein Denken weniger in Worten als in Bildern und springt von Bild zu Bild. Es funktioniert also im wesentlichen analog und nicht linear: „Wir verweilen selten länger als ein paar Sekunden bei einem Gedanken oder einer Vorstellung. Auch der wache Geist macht Bocksprünge ...“ (Klein 2014, S.48) – Demnach bildet das Denken eben keinen schlichten, auch von Robotern simulierbaren Wenn-Dann-Algorithmus. (Vgl. hierzu meinen Post vom 30.10.2014) Das Bewußtsein funktioniert nicht algorithmisch!

Selbst Mathematiker kommen ohne Bildwahrnehmungen nicht aus: „Einstein behauptete sogar, keineswegs besonders begabt für Mathematik zu sein; seine außergewöhnliche Fähigkeit liege vielmehr darin, sich Möglichkeiten und deren Folgen vorzustellen. Und das geschähe ausschließlich in Bildern, schrieb Einstein an den Mathematiker Jacques Hadamard: ‚Wörter oder die Sprache ... spielen in meiner Denkstruktur offenbar keine Rolle. ...‘“ (Klein 2014, S.233f.)

Unser ganzes Denken und überhaupt unser Bewußtsein basiert nämlich auf räumlichen Wahrnehmungen, wie insbesondere Gedächtniskünstler wissen, die sich räumlicher Hilfskonstruktionen bedienen, wenn sie sich etwas einprägen wollen. Räumliche Wahrnehmungen sind aber wiederum primär visuell: „Träume können uns vermutlich deshalb so gut anregen, weil sie zumeist visuelle Erlebnisse sind. Vor allem um räumliche Probleme zu lösen, nutzt die Sprache wenig; sowohl das kreative als auch das logische Denken machen eher vom inneren Auge Gebrauch.“ (Klein 2014, S.233)

Es ist also – wie schon die ganze Grammatik der Sprache anzeigt – immer hilfreich, auch abstrakte, gedankliche Probleme in dreidimensionalen sprachlichen Metaphern und visuellen Bildern zu organisieren. Das ist geradezu das krasse Gegenteil eines linearen Wenn-dann-Algorithmusses. Deshalb ist es um so bedauerlicher, daß sich in Stefan Kleins Buch kein einziges Wort zur Gestaltwahrnehmung findet. Überhaupt scheinen seit dem Aufblühen der Gehirnforschung die Einsichten der Gestaltwahrnehmung nicht mehr der Rede Wert zu sein, obwohl sich die Neurobiologen gerne dieser Einsichten bedienen; allerdings ohne dabei die Gestaltwahrnehmung zu erwähnen. Auch Stefan Klein bringt das inzwischen klassische Beispiel eines Dalmatiners, der auf einem Schwarz-Weiß-Photo mit seinem fleckigen Fell vor dem fleckigen Hintergrund des Bildes gerade so eben noch erkennbar ist. (Vgl. Klein 2014, S.80) Unser ‚Gehirn‘ setzt die scheinbar chaotisch verteilten hellen und dunklen Flecken zur Gestalt eines Dalmatiners zusammen. Aber bei Kleins Diskussion zu diesem Bild taucht kein einziges Mal das Wort ‚Gestaltwahrnehmung‘ auf.

Dafür spricht Klein dann an anderer Stelle von „Gedächtnisbausteinen“ (Klein 2014, S.99), so als würde das im Wahrnehmungsgedächtnis schon vorhandene Bild des Dalmatiners Pixel für Pixel zusammengesetzt, ganz brav linear wie bei einem Computerprogramm; als handelte es sich um ein jpg- oder bmp-Format. Daß es sich dabei aber eben nicht um ein digitales Format handelt, macht Klein in umständlichen, das Wort ‚Gestaltwahrnehmung‘ vermeidenden Formulierungen deutlich. Er spricht von „Abstraktionen des Geistes“, womit er u.a. Namen, Gesichtszüge und den Klang der Stimme meint, die dazu beitragen, daß wir Personen – und auch alles mögliche andere – wiedererkennen. (Vgl. ebenda) Namen haben hier die Funktion eines Indexes, zu dem sich dann die zugehörige Gestaltwahrnehmung einstellt. Der Klang der Stimme wäre ebenfalls ein Index für eine Gestaltwahrnehmung, und die ‚Haltung‘, die „Art, sich zu bewegen“ (ebenda), wiederum ist selbst eine indexikalische Gestaltwahrnehmung mit der sich weitere Gestalterinnerungen assoziieren.

An allen diesen umständlichen Beschreibungen zur Wahrnehmung von Bildern ist vor allem eines bemerkenswert: das auf den Mainstream der Neurophysiologie zurückzuführende, verbreitete Bemühen, nicht mehr von Gestaltwahrnehmung zu sprechen.

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Montag, 10. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Stefan Klein zählt in der Geschichte der Schlaf- und Traumforschung insgesamt drei Traumdefinitionen, die alle zusammen den besonders prekären Status des Forschungsgegenstands anzeigen. Die offensichtlichste Traumdefinition, daß es sich nämlich beim Traum um das „gegenwärtige innere Erleben des Schlafenden“ handelt (vgl. Klein 2014, S.31), macht zugleich deutlich, daß der Traum qua definitionem gar nicht beobachtbar und damit auch nicht beforschbar ist. Erst mit den neuen neurophysiologischen Technologien, mit denen man in das Gehirn ‚hineinsehen‘ kann, ist es möglich, das innere Erleben über die sie begleitenden neurologischen Ereignisse zumindestens indirekt zu beobachten.

Von den beiden anderen Traumdefinitionen arbeitet auch die Freudsche Traumdeutung mit so einer Abduktionslogik. (Zur Abduktionslogik vgl. meinen Post vom 29.10.2014) Die Träumer berichten von Träumen, an die sie sich erinnern. Von diesen Erinnerungen her wird also auf die Träume zurückgeschlossen. Da sich die Träumer dabei aber im Wachzustand befinden, handelt es sich bei diesen Erinnerungen nicht um die Träume selbst, sondern nur um Deutungen:  „Ein ‚Traum‘ ist demnach schlicht das, was man im Nachhinein dafür hält.“ (Klein 2014, S.31) – Klein bezweifelt grundsätzlich, daß es auf diese Weise möglich ist, etwas über Träume herauszufinden: „Das schlafende Gehirn geht andere Wege, unterliegt anderen Gesetzen als am Tage.“ (Klein 2014, S.166)

Auch die dritte Traumdefinition, derzufolge Träume nichts anderes sind als Epiphänomene physiologischer Funktionen „im Gehirn und im Körper“ (vgl. Klein 2014, S.31), weist Klein zufolge ein erhebliches Defizit auf. Sie interessiert sich nicht für die Inhalte der Träume, also für das, was in den Träumen passiert: „Dieser Ansatz führte sie“ – also die Neurowissenschaftler – „dazu, den Inhalt der Träume für unwichtig zu erklären.“ (Klein 2014, S.33)

Psychoanalyse und Neurowissenschaften kennzeichnet Klein zufolge dieselbe kognitive Grundeinstellung: die Geringschätzung dem Traum gegenüber. „Wer Träume ernten will“ – so Klein –, „muss sie erstens wahrnehmen und zweitens ernst nehmen.“ (Vgl. Klein 2014, S.244) Mit ‚Ernten‘ umschreibt Klein in poetischer Form das nüchterne Geschäft des Datensammelns. Wer ‚Daten‘ über Träume sammeln will, darf diese nicht so eng fassen, daß dabei das subjektive Erleben der Träumer herausfällt, oder sie dort suchen, wo sie nicht zu finden sind.

Erst mit einem Mix neuer Methoden in der Traumforschung wurde eine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Themas möglich. Bezieht man den Träumer in die Untersuchung mit ein, so kommt man einer Beobachtung dieser Träume tatsächlich sehr nahe. Das bevorzugte Mittel ist hierbei die Schlafunterbrechung zu verschiedenen Zeiten des Schlafs im Schlaflabor. (Vgl. Klein 2014, S.34) Außerdem kann man das Traumerinnern trainieren. Wer sich daran gewöhnt, seine Träume aufzuschreiben, träumt mit der Zeit deutlicher und ‚genauer‘. (Vgl. ebenda) Schließlich lassen sich Träume sogar manipulieren, so daß auch Experimente möglich werden. Es gibt einen speziellen Traumzustand, den Klartraum (luzide Träume), in dem der Träumer sich selbst beobachten und das Traumgeschehen beeinflussen kann. (Vgl. ebenda) Die neurophysiologischen Prozesse, die diese Klarträume begleiten, können wiederum technologisch beobachtet werden und ermöglichen so eine objektive Bestätigung des subjektiven Erlebens der Klarträumer.

Schließlich gibt es noch, inzwischen fast schon ein Gemeinplatz in der Wissenschaft, ‚Big Data‘. Die Traumforscher haben mittlerweile umfängliche Traumdatenbanken angelegt, die es ihnen ermöglichen, statistische Methoden anzuwenden: „Heute verfügen wir über riesige Traumdatenbanken; zehntausende Protokolle lassen sich vergleichen und analysieren.“ (Klein 2014, S.12f.; vgl. auch S.35)

Allerdings möchte ich meinen, daß auch die Traumdatenbankler die Träume nicht wirklich ernst nehmen, ähnlich wie Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler. Denn sie gehen davon aus, daß die „Aussagekraft eines einzelnen Traums“, wie Klein selbst festhält, nur „gering“ ist. (Vgl. Klein 2014, S.167) Der eigentliche Wert des Sammelns von Träumen liegt aber wohl weniger in irgendwelchen statistischen Effekten als vielmehr in der Erweiterung der subjektiven Erfahrung und in der Nutzung ihres innovativen Potentials zur persönlichen Problemlösung. Das zeigt das Beispiel eines Traumforschers, der die Daten einer fleißigen Traumsammlerin, die 3082 Traumberichte verfaßt hatte (vgl. Klein 2014, S.158), auswertete. Der Traumforscher kam zu bemerkenswerten Erkenntnissen über das Leben der ihm unbekannten Frau. Dabei entging ihm aber bei seinen statistischen Auswertungen, daß sie „von der Hüfte abwärts gelähmt“ war und ihr Leben im Rollstuhl verbrachte. (Vgl. Klein 2014, S.168)

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Sonntag, 9. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

In meinen folgenden Posts zu Stefan Kleins „Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit“ (2014) wird es immer wieder auch um Ergebnisse der Hirnforschung gehen. Wie sich in meinen früheren Auseinandersetzungen zur Hirnforschung gezeigt hat, neigen die Neurowissenschaftler mit ihrer Hinwendung zum Gehirn zur Abwendung von der Welt. Insofern gehört ein gewisser Grad an Realitätsverleugnung zum Beruf. Das potenziert sich noch, wenn es um die Erforschung unserer Träume geht, die offensichtlich insbesondere dank der technologischen Fortschritte in den Neurowissenschaften gerade Konjunktur hat. Nicht nur daß das Gehirn abgekapselt von der Welt im Knochenbett vor sich hin funktioniert; nun erschafft es sich auch noch seine eigene innere Wirklichkeit, die völlig ohne Außenweltkontakt zurecht kommt: „Bewusstsein bedarf keiner Sinneswahrnehmung; es benötigt keinen ständigen Input von außen. Es kann sich allein durch die Verarbeitung gespeicherter Information einstellen.“ (Klein 2014, S.130)

Um solchen der Hirnforschung inhärenten Halbwahrheiten von vornherein einen Riegel vorzuschieben, erlaube ich mir, vorweg in Form dieses Prologs zu klären, in welcher Weise in den folgenden Posts die ‚Ergebnisse‘ der Hirnforschung zur Kenntnis genommen werden sollen. Ich gehe mit der Hirnforschung davon aus, daß die wesentliche Eigenschaft des Gehirns seine Plastizität ist. ‚Plastizität‘ meint nichts anderes, als daß das Gehirn seine Funktionen den Aufgaben anpaßt, die sich uns im Rahmen unserer Lebensführung stellen. Bevor es die Schrift gab, hatte die Menschheit über Jahrhunderttausende hinweg ein ‚mündliches‘ Gehirn, ohne spezifische ‚Schaltkreise‘ für das Entziffern von Texten. Seit es Schrift gibt, haben wir ein ‚schriftliches‘ Gehirn, das insbesondere im europäisch-abendländischen Kulturkreis an lineare Alphabetschriften angepaßt ist.

Nichts von dem, was wir täglich tun, ist für das Gehirn belanglos. Taxifahrer in London haben für die Orientierung in der Stadt besonders ausgeprägte Gehirnareale. Wer daran gewöhnt ist, seinen Navigator zu verwenden, dessen diesbezüglichen Gehirnareale sind eher nicht so ausgeprägt. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, daß der Gebrauch unserer Hände und Finger das Gehirnwachstum anregt. Irgendwo habe ich dann mal gelesen, daß Kaugummikauen das Gehirnwachstum anregt. Dann wieder erzählte man mir, daß das Hören von Musik unser Gehirnwachstum anregt. Als ich dann erfuhr, daß ausgiebiges Gehen das Gehirnwachstum anregt, wunderte mich das schon nicht mehr. Doch gebe ich zu, daß ich ziemlich erstaunt war, als ein Experte konstatierte, daß Riechen und Schmecken das Gehirnwachstum anregt. Da Martin Luther zufolge Rülpsen und Furzen zum Einnehmen von Mahlzeiten dazu gehören – „Hat es euch nicht geschmecket?“ –, regen auch sie wahrscheinlich das Gehirnwachstum an. Denn offensichtlich gibt es einfach nichts, was das Wachstum des Gehirns nicht anregt, mit der einzigen Ausnahme, daß wir es nicht nutzen.

Es gibt also Neuronen und neuronale Netzwerke für alles und jedes, was uns in unserem Leben irgendwie in Anspruch nimmt. So ist es kein Wunder, daß es auch Neuronen gibt, die das Erkennen eines Gesichts signalisieren, wie etwa das inzwischen auch schon allseits bekannte Jennifer-Aniston-Neuron. (Vgl. Klein 2014, S.101; vgl. auch meinen Post vom 06.03.2011) Was bedeutet das? Steckt etwa Jennifer in diesem Neuron oder hat es vielleicht eine Jennifer-förmige Gestalt? Haben wir es hier mit einem Jennifer-Homunkulus bzw. korrekter einer ‚Homunkula‘ zu tun? (Und gibt es vielleicht auch ein Furz-Neuron?)

Genauso wenig, wie irgendein lokalisierbares Etwas im Gehirn unser Handeln steuert, steuert irgendein lokalisierbares Etwas unsere Gestaltwahrnehmung. „Konzeptneuronen“ wie das Jennifer-Aniston-Neuron (vgl. Klein 2014, S.102) bilden keineswegs einsame, isolierte Kybernatoren im Ozean der Hirnaktivitäten. Sie sind vielmehr Anpassungen an das individuelle Erkennen von Bedeutsamkeiten vor dem Hintergrund der Außenwelt und bilden nur die alleroberste Spitze einer Vielzahl von anderen Funktionen, ohne die wir keine Jennifer oder irgendwas anderes wiedererkennen würden. Verlieren sich diese Bedeutsamkeiten im Laufe eines Lebens, verlieren sich auch diese Neuronen. Entstehen neue Bedeutsamkeiten, bilden sich auch neue Neuronen. Das ist eine korrekte Beschreibung, und diese erklärt nichts!

Autoren, die sich mit diesen Themen befassen, neigen dazu, über die bloße Beschreibung hinauszugehen. Sie neigen zu Deutungen, die das alltägliche Erleben des Menschen nivellieren oder verleugnen. Dabei sind alle wissenschaftlichen Fakten – selbst die der Neurowissenschaften – immer auch mit unserem alltäglichen Erleben verträglich. Es ist zum einen völlig unnötig, zum anderen aber auch gefährlich, dieses alltägliche Erleben, wie z.B. das der Willensfreiheit oder den naiven Realismus, daß es eine Außenwelt gibt, in Frage zu stellen.

Es ist sicher eine wertvolle persönliche Erfahrung, mit hoher spiritueller Qualität, wenn jemanden nach langer meditativer Übung und Suche die Zweifelhaftigkeit alles Seins durchzuckt. Trotz dieser Erkenntnis wird er vermutlich trotzdem am nächsten Morgen wieder aus seinem Bett aufstehen, sich die Zähne putzen und Brötchen kaufen gehen. Das ist alles durchaus ehrenwert und ich habe Respekt davor. Aber was die Wissenschaft betrifft: Es ist nicht ihre Aufgabe, am Menschen und seiner Welt zu zweifeln! Nihilismus ist keine wissenschaftliche Option.

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Mittwoch, 5. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Ich habe schon in einem früheren Post (vom 01.01.2011) meine erheblichen Bauchschmerzen beim Begriff der Intelligenz zum Ausdruck gebracht. In diesem Post habe ich einen Satz von Jacotot zitiert: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Zitiert nach Ranciere, „Der unwissende Lehrmeister“ (2007), S.66) – Jacotots Feststellung beinhaltet, daß es keine Intelligenz ‚an sich‘ gibt, etwa im Sinne einer allgemeinen Problemlösungsfähigkeit, die man mittels eines IQ quantifizieren könnte. ‚Intelligenz‘ ist vor allem ein Merkmal der individuellen Lebensführung. Wer auf adäquate Weise tut, was er will, erweist sich als intelligent. Tomasello kommt zu derselben Einschätzung, wenn er schreibt: „In der Evolution gilt das Klugsein nichts, wenn es nicht zu klugem Handeln führt.“ (Tomasello 2013, S.21)

Ungeachtet dessen, daß er selbst die Primatenkognition algorithmisiert (vgl. meinen Post vom 30.10.2014) und in diesem Zusammenhang auch die menschliche Kognition in „Komponentenprozesse“ zerlegt (vgl.u.a. Tomasello 2014, S.17), wendet sich Tomasello doch entschieden gegen eine Modularisierung der menschlichen Intelligenz: „Wir würden es daher vorziehen, nicht das Wort Modul zu verwenden, das eine statische architektonische oder Ingenieursperspektive nahelegt. Vielmehr würden wir das Wort Anpassung bevorzugen, das auf dynamische Evolutionsprozesse hindeutet.“ (Tomasello 2014, S.195)

Tomasello bezweifelt grundsätzlich, daß es sich bei der „allgemeine(n) Intelligenz“ überhaupt um ein „nützliches Konstrukt“ handelt, und er bezeichnet die gängigen Definitionsversuche als „Märchengeschichte der unerhörtesten Art“. (Vgl. Tomasello 2014, S.187) Das ist eine bemerkenswerte Stellungnahme, die vor allem nochmal ein bezeichnendes Schlaglicht auf die seit „Bologna“ und „PISA“ in Gang gesetzten Bildungsreformen mit ihren Bildungsstandards, Kompetenzmodellen und Modulen wirft, in derem Zentrum auch immer wieder der Begriff einer ominösen allgemeinen „Problemlösungsfähigkeit“ steht. (Vgl. meine Posts vom 11.02. und vom 27.09.2014) Befürworter einer solchen Modularisierung vergleichen die menschliche Intelligenz auch schon mal mit einem „Schweizer Taschenmesser“. (Vgl. Tomasello 2014, S.191) Dazu nochmal Tomasello: „In diesem Zusammenhang läßt sich die Frage noch allgemeiner stellen, ob es überhaupt irgendwelche wirklich bereichsneutralen horizontalen Fähigkeiten gibt.“ (Tomasello 2014, S.196)

Tomasello belegt seine Zweifel mit Befunden aus der Primatenforschung, in der Experimente mit Schimpansen, Orang Utans und kleinen Kindern zeigen, daß deren Kognitionsleistungen bezüglich der physischen Welt gleichauf liegen, aber hinsichtlich der sozialen Welt zugunsten der kleinen Kinder weit auseinandergehen. Der These einer allgemeinen Intelligenz bzw. Problemlösungsfähigkeit zufolge aber müßten kleine Kinder in allen Bereichen besser sein als Schimpansen: „Das Ergebnis war, daß die Kinder und die Menschenaffen sehr ähnliche kognitive Kompetenzen für den Umgang mit der physischen Welt hatten, daß aber die Kinder, die zwar alt genug waren, um ein bißchen zu sprechen, aber immer noch Jahre entfernt vom Lesen, Zählen oder Schulbesuch waren – bereits raffiniertere kognitive Fertigkeiten für den Umgang mit der sozialen Welt hatten als beide Menschenaffenarten.“ (Tomasello 2014, S.187f.)

Obwohl Tomasello also selbst von Komponentenprozessen spricht, läuft seine Beschreibung der menschlichen Kognition ähnlich wie in meinem in diesem Blog vertretenen Konzept auf einen aus drei Entwicklungslinien zusammengesetzten Anachronismus hinaus. Tomasello spricht von einem in der „Dynamik der Evolution“ begründeten „Zusammenschustern komplexer Verhaltensfunktionen aus bereits vorhandenen Komponentenprozessen“. (Vgl. (Tomasello 2014, S.195 und S.197) Und dieses „Zusammenschustern“ findet in der individuellen Ontogenese statt (vgl. meinen Post vom 02.11.2014). Das Ergebnis ist dann in etwa das, was man gemeinhin ‚Intelligenz‘ nennt. Auf diesen hochkomplexen, prinzipiell individuellen Bildungsprozeß eine „Ingenieursperspektive“ einnehmen zu wollen, wie es die gegenwärtige Bildungsforschung und Bildungspolitik in Deutschland unternimmt, kann man mit Tomasello tatsächlich nur als eine „Märchengeschichte der unerhörtesten Art“ klassifizieren.

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Dienstag, 4. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Tomasello bezeichnet die Kooperation als ein „kennzeichnendes Merkmal menschlicher Gesellschaften, wie das für die Gesellschaften der anderen Menschenaffen nicht gilt.()“ (Vgl. Tomasello 2014, S.60f.) Man könnte also sagen, daß die Kooperation ein Gattungsmerkmal des homo sapiens bildet. Das scheint in das gängige Klischee von der kulturellen Entwicklung des Menschen zu passen, die die evolutionsbiologischen Prinzipien der Selektion angeblich außer Kraft gesetzt hat. Tatsächlich haben wir es aber bei Tomasello mit einem seltsamen Paradox zu tun. Die Kooperation gilt nämlich nur für das zweitpersonale Ich-Du-Verhältnis und für die Kommunikation von Mitgliedern größerer Gruppen wie etwa Stammesgesellschaften. (Vgl. Tomasello 2014, S.127) Nur innerhalb einer Großgruppe kooperieren Individuen auch mit anderen Individuen, die sie nicht kennen und die Tomasello als „Fremde“ bezeichnet, die zur „Eigengruppe“ gehören. (Vgl. Tomasello 2014, S.19)

Auf der Ebene der Großgruppen selbst gilt das evolutionsbiologische Prinzip der gegenseitigen Konkurrenz. Um sich wechselseitig als Mitglieder der eigenen Großgruppe zu erkennen, bedarf es deshalb besonderer kultureller Zurichtungen: „Das bedeutete, daß das Erkennen von anderen aus unserer eigenen Kulturgruppe alles andere als trivial wurde – und natürlich mußten wir auch sicherstellen, daß sie uns ebenfalls erkennen konnten.“ (Tomasello 2014, S.127) – Äußere Merkmale wie Kleidung, Frisur, Haltung und ein „gemeinsame(r) kulturelle(r) Hintergrund“ (Tomasello 2014, S.19) sorgten dafür, daß gegenseitiges Vertrauen innerhalb der Großgruppe sichergestellt wurde. Wir haben es also mit einem seltsamen Paradox zu tun: wo nach Tomasellos Einschätzung mit dem Frühmenschen vor etwa 400 000 Jahren die Kooperation zu einem Gattungsmerkmal wurde, wird genau dieses Gattungsmerkmal auf Gruppenebene wieder aufgehoben!

Auch die von den verschiedenen Diskurs- und Kommunikationstheoretikern als universelle Perspektive vielgepriesene Akteursneutralität, die über den egoistischen Einzelinteressen steht und normativ den Interessensausgleich reguliert, bezieht Tomasello nur auf die Großgruppe. (Vgl. Tomasello 2014, S.19) Nur innerhalb der Großgruppe stabilisiert sie das kooperative Verhalten. Auch wenn Tomasello diese Akteursneutralität im folgenden Zitat verbal so in Szene setzt, als handelte es sich um ein Universalitätsprinzip, ändert das letztlich nichts daran, daß sie ihre Grenzen an der Eigengruppe hat: „Wir sprechen hier nicht über eine individuelle Perspektive, die irgendwie verallgemeinert oder erweitert wird, oder über eine Art einfachen Aufsummierens vieler Perspektiven. Vielmehr sprechen wir über eine Verallgemeinerung, in dere(m) Zuge aus der Existenz vieler Perspektiven so etwas wie ‚jede mögliche Perspektive‘ wird, was im Grunde ‚objektiv‘ bedeutet. ... Auf diese Weise wird die gemeinsame menschliche Intentionalität ‚kollektiviert‘.“ (Tomasello 2014, S.141)

Tomasello verliert kein weiteres Wort darüber, wie der „akteurneutrale() Standpunkt der Gruppe“ (Tomasello 2014, S.19) gleichzeitig zu „jede(r) mögliche(n) Perspektive“ – also auch über die Grenzen der eigenen Großgruppe hinweg fremde Gruppen betreffend – verallgemeinert werden kann, wenn ‚Fremde‘ nicht mehr nur als nicht zur eigenen Gruppe gehörig wahrgenommen werden, wie beim hypothetischen Frühmenschen und bei den Menschenaffen, sondern „als Mitglieder spezifischer Fremdgruppen mit fremdartigen und häufig geringgeschätzten Verhaltensweisen“. (Vgl. Tomasello 2014, S.129)

Hier zeigt sich noch einmal, wie wichtig die zweitpersonale Perspektive zwischen Ich und Du ist. Die Wir-Intentionalität ist regional begrenzt und auf Großgruppen eingeschränkt. Wirklich global und universell ist hingegen die Zweitpersonalität, weil sie ad hoc zustandekommt (vgl. Tomasello 2014, S.18, 78) und sich deshalb nur an der situationsbezogenen ‚Brauchbarkeit‘ der kooperierenden Individuen orientiert. ‚Ich‘ und ‚Du‘ sind also universelle, wechselseitig austauschbare Perspektiven, die so etwas wie ‚Menschheit‘ bzw. ‚Menschlichkeit‘ beinhalten, während ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ regional begrenzt sind und sich gegenseitig ausschließen; sie sind nicht sozial rekursiv!

Es gibt aber noch eine primär gesellschaftliche Rekursivität, wie sie Plessner beschrieben hat, die aus ‚Ich‘ und ‚Wir‘ besteht, in der sich alle als ‚Ich‘ wechselseitig anerkennen, ohne zum ‚Du‘ überzugehen, sondern dieses ‚Du‘ zum ‚Sie‘ konventionalisieren. Dieses ‚Sie‘ respektiert das Noli-me-tangere der Seele, weil sie sich hinter dem Rollen-Sie gesellschaftlicher Aktivitäten verbergen kann. (Vgl. meine Posts vom 14.11. bus 17.11.2010) Deshalb ist es bedauerlich, daß Tomasello die Zweitpersonalität nur als ad-hoc-Gemeinschaft konzipiert, ohne deren längerfristigen Fundamente in der Liebe und in der Freundschaft zu berücksichtigen. Denn von diesen Gemeinschaftsformen läßt sich eine Gesellschaft abgrenzen, die von Gruppenzugehörigkeiten abstrahiert und dem Universalismus der Ich-Du-Beziehungen einen Ich-Wir-Universalismus auf der gesellschaftlichen Bühne gegenüberstellt.

Dieser Ich-Wir-Universalismus der Gesellschaft, der nicht mit der Wir-Intentionalität einer Großgruppe verwechselt werden darf, transzendiert das intime Vertrauensverhältnis innerhalb einer Gruppe/Gemeinschaft und befreit das Individuum zur Entdeckung seiner selbst. Erst jetzt hat es die Chance zu wirklicher, befreiter Expressivität. Die normativ gesicherte Verbindlichkeit der Kommunikationsakte bekommt jetzt ihr Gegenstück in der Wahrung der Integrität des Kommunizierenden. Wer immer das Wort ergreift, hat ein Anrecht darauf, daß das, was er meint, nicht auf das reduziert wird, was er, aus der Perspektive des Zuhörers, vermeintlicherweise gesagt hat. Bedeutsamkeit ist nicht das Begleitprodukt einer semantischen Identifizierung, sondern sie entspringt der Differenz zwischen Meinen und Sagen. Das Individuum ist kein Sein, sondern ein Prozeß. Dafür steht Plessners Noli-me-tangere.

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Montag, 3. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Wo Systemtheoretiker und Medienwissenschaftler von Kommunikationsmedien sprechen, spricht Tomasello von Kommunikationsvehikeln und meint damit vor allem die Gesten und (ikonischen) Gebärden des Frühmenschen und die Wortsprache des modernen Menschen: „Menschliche Kommunikatoren stellen Situationen und Entitäten durch externe Kommunikationsmittel für andere Personen begrifflich dar; diese anderen Personen versuchen dann zu bestimmen, warum der Kommunikator meint, daß diese Situationen und Entitäten für sie relevant sein werden.“ (Tomasello 2014, S.16)

Dabei berücksichtigt Tomasello ausdrücklich nicht die Schriftlichkeit der menschlichen Kommunikation: „... wir haben uns nur kursorisch mit dem Menschen nach dem Entstehen der Landwirtschaft und mit all den Komplexitäten beschäftigt, die aus der Vermischung der Kulturgruppen erwuchsen, aus der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben sowie der Fähigkeit zum Rechnen und aus Institutionen wie Wissenschaft und Regierung.“ (Tomasello 2014, S.223)

Da es Tomasello bei den Kommunikationsvehikeln gerade um deren externen Status geht, ist es erstaunlich, daß er die Schriftlichkeit, die eigentlich geradezu das Paradigma jedes externen Kommunikationsvehikels bildet, nicht eigens thematisiert und reflektiert. (Vgl. hierzu meine Posts vom 18.11. und vom 09.12.2012) Damit unterschlägt er eine wichtige, vor etwa 5000 Jahren einsetzende und die immerhin einige Jahrhunderttausende umfassende Mündlichkeit ablösende Phase der Menschheitsentwicklung. Indem Tomasello auch schon Gesten, Gebärden und Wortsprache als primär externe Kommunikatonsvehikel kennzeichnet, entgeht ihm darüberhinaus die Doppelaspektivität dieser Kommunikationsformen, die nicht einfach nur ‚extern‘ sind, sondern an der Grenze zwischen Innen und Außen stehen und deshalb nicht nur instrumentell und informativ, sondern vor allem auch expressiv sind.

Tomasello hebt zwar hervor, daß es eine wesentliche Eigenschaft der ‚externen‘ Kommunikationsvehikel sei, daß sie schon den Frühmenschen zur Selbstbeobachtung befähigen: „Mead (1934) hat in diesem Zusammenhang auf die wesentliche Rolle der offenen Wahrnehmbarkeit hingewiesen. Während sie mit anderen in offen wahrnehmbaren – entweder deiktischen oder symbolischen – Akten kommunizierten, sahen oder hörten die Frühmenschen sich dabei zu, wie sie selbst diese Akte vollzogen, wobei sie sie dann so wie der Empfänger verstanden (nämlich als füreinander perspektiviert).“ (Tomasello 2014, S.117) – Denn man kann, so Tomasello, „über das eigene Denken nur dann reflektieren ..., wenn es in äußerem Verhalten ausgedrückt wird“. (Vgl. Tomasello 2014, S.175)

Aber diese eigentlich schon ein Innen-Außen-Verhältnis zum Ausdruck bringende Verhältnisbestimmung externer Kommunikationsvehikel führt bei Tomasello eben nicht zu einer entsprechenden Grenzbestimmung von Expressivität. Die durch die Kommunikationsvehikel ermöglichte Selbstbeobachtung dient lediglich der besseren Verständigung zwischen den Kommunikationspartnern über ihre gemeinsamen Interessen und Anliegen: „Diese auf Verständlichkeit gerichtete soziale Selbstbeobachtung bei der kooperativen Kommunikation legt das Fundament für moderne menschliche Normen sozialer Rationalität, wobei soziale Rationalität bedeutet, sich einem Partner sinnvoll mitzuteilen.“ (Tomasello 2014, S.91)

Ikonische Gebärden in Form pantomimischer Darstellungen ermöglichen es Tomasello zufolge den Gebärdensprechern erstmals, das eigene Handeln „aus der Perspektive eines Kooperationspartners“ zu regulieren. (Vgl. Tomasello 2014, S.56) Inwiefern den schauspielernden Qualitäten des Gebärdensprechers an der Grenze zwischen Innen und Außen innere, bewußtseinserweiternde Prozesse hinsichtlich seines Selbst- und Weltverhältnisses entsprechen, wird von Tomasello nicht weiter thematisiert und reflektiert. (Vgl. hierzu meinen Post vom 01.06.2013)

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Sonntag, 2. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Aufgrund meiner bisherigen Bemerkungen dürfte deutlich geworden sein, daß das individuelle Denken in Tomasellos aktuellem Buch im Unterschied zu „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (1999/2002) keine eigenständige Rolle mehr spielt. So wendet er sich jetzt ausdrücklich gegen das Denken als „Privatsache“: zwar werde das „menschliche Denken“ individuell improvisiert, aber wesentlich sei, daß es „in eine soziokulturelle Matrix verwoben ist“. (Vgl. Tomasello 2014, S.13)

Zwar gibt es zahlreiche Stellen in seinem aktuellen Buch, in denen er individuelle Ontogenese und kulturelle und biologische Phylogenese differenzierter darstellt; aber es kommt zu keiner entsprechenden Aufwertung des individuellen Denkens bzw. der individuellen Intentionalität im Gesamtprozeß des menschlichen Bewußtseins. Hinsichtlich der biologischen Phylogenese trifft Tomasellos Feststellung zur soziokulturellen ‚Matrix‘ durchaus zu. Die biologischen Anlagen des Menschen verwirklichen sich erst im Rahmen einer kulturell eingebetteten individuellen Ontogenese. Sie stellen deshalb Anpassungen an die Möglichkeit eines kulturell erweiterten Bewußtseins des Menschen dar. (Vgl. Tomasello 2014, S.215) Das bedeutet aber wiederum umgekehrt auch, daß es der individuellen Ontogenese bedarf, um das volle kulturelle Potential des Menschen zu verwirklichen: „Die menschlichen Fertigkeiten gemeinsamer und kollektiver Intentionalität entstanden also im Verlauf einer ausgedehnten Ontogenese, in der das Kind und sein sich entwickelndes Gehirn ständig mit der Umwelt, insbesondere der sozialen Umwelt interagieren. Unsere Hypothese ist, daß sie ohne diese Interaktion nicht entstehen würden.“ (Tomasello 2014, S.214)

Wenn „(w)eder die gemeinsame noch die kollektive Intentionalität“ ohne individuelle Ontogenese existieren würden, ist die Herabstufung dieser individuellen Ontogenese zu einem bloßen Transmissionsriemen zwischen Biologie und Kultur weniger naheliegend, als die gegenteilige Schlußfolgerung: daß sie nämlich eine ganz besondere Rolle in der Bewußtseinsbildung des Menschen inne hat. Auch die Entwicklung des kleinen Kindes deutet darauf hin: „... wir würden behaupten, daß die sozialen Interaktionen kleiner Kinder mit anderen etwa bis zu ihrem dritten Geburtstag im Grunde zweitpersonal sind und nicht gruppenbezogen.“ (Tomasello 2014, S.212)

Die ‚Zweitpersonalität‘ – also die dyadische Beziehung zwischen Ich und Du (vgl. Tomasello 2014, S.77f.) – wird von Tomasello nicht in ihrer vollen Bedeutung erfaßt. Zwar weist er ihr eine besondere Vermittlungsfunktion im Unterricht und in der Lehre zu (vgl. Tomasello 2014, S.73, 108f., 120, 133) – was immerhin anzeigt, daß ihre Bedeutung für das menschliche Bewußtsein weit über das Kleinkindalter hinausreicht –, aber die eigentliche Bedeutung des Unterrichts verortet Tomasello auf der Ebene der Gruppe: „Unterricht und Konformität führten dann zur kumulativen kulturellen Evolution, die durch den ,Wagenhebereffekt‘ () charakterisiert ist ...“ (Tomasello 2014, S.128) – Erst die Erzeugung von „Konformität“, also nicht das individuelle Denken, bildet den eigentlichen Zweck des Unterrichts.

Tatsächlich ist die Zweitpersonalität nicht wirklich dyadisch, sondern triadisch strukturiert. Gemeinsame zweitpersonale Aufmerksamkeit gibt es auch bei den anderen Menschenaffen. Was es bei den anderen Menschenaffen nicht gibt, ist eine gemeinsame, nicht konkurrenzorientierte Aufmerksamkeit auf etwas Drittes: eben den gemeinsamen Gegenstand. Erst hier entfaltet sich die volle rekursive Dimension. Erst hier, von der Aufmerksamkeit auf ein Drittes her, schlußfolgern die beiden Kommunikationspartner auf die jeweilige individuelle Perspektive des Anderen bzw. des Du. Die triadische Struktur bildet, wie Tomasello völlig zu recht festhält, die anthropologische Urform des Unterrichts: „Csibra und Gergely (2009) sprechen diesbezüglich von ‚natürlicher Pädagogik‘ und erläutern sie mit Verweis auf deren enge Verbindung zur kooperativen Kommunikation. Die elementarste Form natürlicher Pädagogik ist die Demonstration. Man zeigt jemandem, wie etwas gemacht wird, indem man es entweder unmittelbar tut oder auf irgendeine Weise pantomimisch darstellt.“ (Tomasello 2014, S.95f.)

Daß trotz dieser triadischen Struktur der Zweitpersonalität – Ich, Du, Es – diese Zweitpersonalität aber erhalten und nicht etwa zu einer Mehrpersonalität aufgelöst wird, zeigt sich schon daran, daß es etwas anderes ist, ob sich zwei Menschen auf etwas Drittes beziehen, oder ob ein Dritter zu den Zweien hinzukommt: Ich, Du, Er. Der Dritte ist jetzt kein gemeinsamer Gegenstand mehr, auf den sich die Zwei beziehen, sondern alle drei bilden jetzt eine Gruppe mit den dazugehörigen Gruppendynamiken. Nicht umsonst machen die Zwei, sobald sich der Dritte entfernt hat, ihn zum Gegenstand und beginnen über ihn zu tratschen.

Aber die Zweitpersonalität bildet nicht nur das Wesen des Unterrichts. Sie wird auch zum individuellen Denken internalisiert. Das Denken ist möglicherweise keine „Privatsache“. Aber es bildet einen inneren Dialog des Denkenden mit sich selbst: „Vygotskij (1978) betonte, daß Kinder inmitten der Werkzeuge und Symbole ihrer Kultur aufwachsen, die insbesondere die sprachlichen Symbole einschließen, die ihre Welt für sie vorstrukturieren, und daß sie im Laufe der Ontogenese den Gebrauch dieser Artefakte internalisieren, was zu jener Art von innerem Dialog führt, der einer der Prototypen des menschlichen Denkens ist (...).“ (S.13f.)

Dieser innere Dialog findet gerade nicht im Wir-Modus statt. Dann hätte er sich nämlich schon zu einer Gruppendenke, zu einer Art von Schwarmintelligenz verallgemeinert. Diese Gruppendenke klingt bei Tomasello immer dort an, wo er den inneren Dialog als einen Regulationsmechanismus beschreibt: „Menschliches Schlußfolgern – auch wenn es im inneren Dialog mit dem eigenen Selbst geschieht – ist daher von einer bestimmten Art kollektiver Normativität durchsetzt, bei der die Person ihre Handlungen und ihr Denken auf der Grundlage der normativen Konventionen und Maßstäbe der Gruppe reguliert.“ (Tomasello 2014, S.169)

Wirklich gehaltvolles Denken ist aber immer individuell und nicht konform! Und die Nicht-Konformität des Denkens, seine Individualität, verinnerlicht die triadische Struktur der Zweitpersonalität: Im Ich-Du-Modus des inneren Dialogs bezieht sich der Denkende auf die physische und auf die soziale Welt. Erst dort, wo er die soziale Welt zum Gegenstand macht und nicht einfach sich selbst in sie hineinreguliert, haben wir es mit wirklichem und d.h. individuellem Denken zu tun.

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Samstag, 1. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Tomasello beschreibt die Primatenkognition ausschließlich in instrumentellen Kontexten wie der Nahrungssuche. Beim Übergang zur spezifisch menschlichen Kognition versäumt er es, den Bruch zwischen instrumentell mutualistischen Kommunikationsakten und spezifisch kooperativen und altruistischen Kommunikationsakten zu thematisieren, was er im Unterschied zu seinem aktuellen Buch in seinen früheren Büchern zu den Ursprüngen der menschlichen Kommunikation (2009) und „Warum wir kooperieren“ (2008/2010) durchaus tut. (Vgl. Tomasello (2009), 183f., 187, 195f., 199, 202f., 205, 213f., 233 und zu Tomasello (2008/2010) meinen Post vom 08.06.2012)

Aufgrund dieses Versäumnisses bleibt die Perspektive auf den sozialen Kontext instrumentell. So spricht er hier tatsächlich von einem ‚Bruch‘, nämlich vom „perspektivischen Sprung im Ei der Erfahrung“ (Tomasello 2014, S.111 und S.181), aber dieser Bruch stellt anders als der Plessnersche Hiatus nicht das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen in Frage, sondern mündet in eine den Kommunikationsnotwendigkeiten geschuldete pragmatische Perspektive. (Vgl.u.a. Tomasello 2014, S.14, 149) Der perspektivische Sprung entsteht nämlich, wenn der Sprecher merkt, daß seine Kommunikationsversuche von seinen Zuhörern nicht verstanden werden. Dann bemüht er sich um bessere Verständlichkeit: „Das menschliche Denken bei der kooperativen Kommunikation beinhaltet auch eine neue Art der Selbstbeobachtung, bei der der Kommunizierende sich vorstellt, welche Perspektive der Empfänger auf seine Intentionen hinsichtlich der Intentionen des Empfängers einnimmt – und sich daher vorstellt, wie letzterer diese Intentionen verstehen wird.“ (Tomasello 2014, S.93)

Bei Plessner hingegen wird der Bruch nicht unmittelbar zum Anlaß, den mißlungenen Kommunikationsakt nachzubessern. Das pragmatische Versagen bei der Umsetzung einer kommunikativen Absicht ist vielmehr Teil jenes viel fundamentaleren Versagens bei der instrumentellen Befriedigung unserer Bedürfnisse. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010) Wo ich Hunger und Durst nicht unmittelbar, von der Hand in den Mund, sättigen und löschen kann, wird nicht nur ein Reiz-Reaktionsmechanismus unterbrochen, sondern mit der Brechung des Intentionsstrahls wird das menschliche Selbst- und Weltverhältnis in Frage gestellt; und zwar derart, daß wir uns dieses Selbst- und Weltverhältnisses allererst bewußt werden. Die ‚Kluft‘, die sich aus diesem Bruch eröffnet, bildet den Spielraum, in dem menschliches Bewußtsein möglich wird.

Hier haben wir das eigentliche Gattungsmerkmal von homo sapiens: Wo bei allen anderen Tieren nur die instrumentellen Perspektiven dominieren, wendet sich der Mensch von der Welt ab und seinem eigenen Bewußtsein zu, was Plessner als exzentrische Positionalität beschreibt. Dieser Akt ist so fundamental, daß er sogar als vorsozial gekennzeichnet werden kann. Die soziale Welt verschleiert diesen zutiefst persönlichen, individuell erlebten Bruch und versöhnt uns mit unserem Dasein so sehr, daß die meisten ihn die meiste Zeit über völlig vergessen; ein Zustand, den die Phänomenologen als Lebenswelt beschreiben.

Der Bruch bzw. Hiatus ist ein wesentlicher Teil der individuellen Intentionalität und besteht in der Erfahrung einer Grenze zwischen Innen und Außen. Das ‚Innen‘ sind die inneren Zustände von Individuen, das ‚Außen‘ bildet die physische und die soziale Welt. Das von Tomasello beschriebene pragmatische Bemühen um Verständlichkeit mit all den damit verbundenen sozialen und normativen Implikationen (vgl.u.a. Tomasello 2014, S.91 und S.117) bewegt sich – paradox formuliert – auf der ‚Basis‘ eines ‚Abgrunds‘: „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ („Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.292) – Tomasello kommt dem sehr nahe, wenn er die individuelle Perspektive als einen „nichtperspektivische(n) Blick von nirgendwo“ beschreibt. (Vgl. Tomasello 2014, S.181) Aber ich befürchte, er meint mit dem „von nirgendwo“ nur den akteursneutralen Standpunkt der Gruppe.

Das macht die individuelle Intentionalität so fundamental. Sie ist nicht einfach eine dem gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschen zuzuschreibende Besonderheit, sondern ein für das Selbst- und Weltverhältnis des modernen Menschen wesentliches Moment. Diese spezifisch menschliche Qualität im Erleben seiner inneren Zustände zeigt sich beim Menschen als Expressivität. (Vgl. meinen Post vom 26.10.2010) Diese Expressivität ist nicht instrumentell durch die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern ambivalent durch die Doppelaspektivität der Grenze zwischen Innen und Außen bestimmt. Plessner beschreibt diesen expressiven Zustand als „Seele“, die sich gleichzeitig verbergen und zeigen will und dabei von der ständigen Sorge begleitet wird, allzu sichtbar zu werden, was Plessner als Noli-me-tangere beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 14.11.2010)

Tomasellos evolutionsbiologische Trennung zwischen der individuellen Intentionalität der Menschenaffen und der geteilten Intentionalität des modernen Menschen führt nun auch zu einer Loslösung des sich verbergenden vom sich zeigenden Moment der menschlichen Intentionalität und damit zu einer Auflösung der Seele. Jetzt sind es nur noch die Menschenaffen, die im Rahmen ihrer konkurrenzorientierten Kognition ihre Absichten vor ihren Mitaffen zu verbergen versuchen, während die menschliche Kommunikation fundamental dadurch gekennzeichnet ist, daß wir wollen, daß unsere Mitmenschen unsere Absichten und Gedanken mit uns teilen, weshalb wir alles dafür tun, so ‚verständlich‘ bzw. für unsere Mitmenschen so ‚durchsichtig‘ wie nur möglich zu sein: „Im Unterschied zu anderen Primaten nutzen Menschen ihre Kommunikationsakte, um andere regelrecht (zu) ermuntern, ihr Denken zu erkennen ... Menschen, aber keine anderen Primaten arbeiten also bei ihrer Kommunikation zusammen, um es den anderen zu erleichtern, ihre Perspektive einzunehmen und diese sogar zu beeinflussen, wenn sie es wünschen.“ (Tomasello 2014, S.118f.)

Die Tomasellosche Anthropologie läuft also auf eine Antithese zur Plessnerschen Anthropologie hinaus, was nicht schlecht sein muß. Diese Kontraposition zwischen Tomasello und Plessner erweitert den Denkraum über das Menschliche. Man muß sich nur dessen bewußt bleiben, was bei den jeweiligen Perspektiven auf den Menschen möglicherweise verloren geht.

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