„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 31. Juli 2014

Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014

(Verlag C.H. Beck, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, geb. 24,95 €, S.352)

1. Methode und These I
2. Methode und These II
3. Sätze und Formeln
4. Zelluläre Automaten und der Strukturalismus
5. Superpositionen, Metaphern und Intuitionen
6. Semantik
7. Anthropologie

Immer wieder kommt Klaus Mainzer auf die Frage zurück, ob das Universum ein zellulärer Automat (vgl. Mainzer 2014, S.95) oder ein Quantencomputer (vgl. S.116-127) sei: „Big Data führt zu einer digitalen Physik der Superrechner, in der Gleichungen in Computerprogramme überführt werden. Physiker wie Richard Feynman und Computerpioniere wie Konrad Zuse haben sich daher die Frage gestellt, ob die Natur nicht selber als ein Computer aufgefasst werden kann, in dem Veränderungen und Wechselwirkungen von Atomen und Molekülen Rechenschritten und Rechenprozessen entsprechen. Diese Idee führte zum Konzept der Quantencomputer mit neuartigen Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Berechenbarkeit ...“ (Mainzer 2014, S.28)

Der große Unterschied zwischen der klassischen Physik eines Newton und der digitalen Physik der Quantenmechanik besteht darin, daß sich die eine an die sinnliche Anschauung des Menschen hält und die Welt als ein Kontinuum auffaßt, während für die Quantenmechanik die Welt, wie der Name schon sagt, ‚gequantelt‘ bzw. ‚gekörnt‘ ist. (Vgl. Mainzer 2014, S.40) Wenn wir von einer Quantelung der Welt ausgehen, besteht tatsächlich kein Unterschied zwischen der ‚realen‘ Welt und einem Quantencomputer, also zwischen Realität und Simulation. Es gäbe auch keinen Unterschied mehr zwischen einer Welt der Zahlen und unserer Lebenswelt. Die ganzen Überlegungen zum Zahlbegriff hätten wir uns schenken können. (Vgl. meinen Post vom 29.07.2014)

Interessanterweise hat aber die Annahme von der Quantelung der Welt ihren Preis. Die Quantenwelt besteht aus diskreten Zuständen, wie etwa den Photonen. Das Licht ist demnach kein kontinuierlicher Strahl oder eine sich kontinuierlich ausbreitende Welle, sondern es besteht aus kleinsten Teilchen. Diese verhalten sich allerdings wie Wellen. Sie sind beides gleichzeitig: Teilchen und Welle. Wir haben es mit einer Überlagerung zu tun, mit einem verschränkten Zustand. Irgendwie hat man den Eindruck, daß wir es hier mit dem Quantenäquivalent zum Kontinuum unserer Lebenswelt zu tun haben. Wird es durch Diskontinuität ersetzt, treten verschränkte Zustände an ihre Stelle.

Diese verschränkten Zustände werden auch als „Superposition“ bezeichnet. (Vgl. Mainzer 2014, S.118) Wir haben es also mit einer ungewissen ‚Positionierung‘ von Quanten zu tun, entsprechend der Heisenbergschen Unschärferelation. Im Rahmen dieses Blogs ist es sicher nicht verwunderlich, wenn mir dazu Plessners exzentrische Positionalität einfällt, der Grundbegriff seiner Anthropologie. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich diese Elementarteilchen irgendwie menschlich verhalten. Plessners Seele will sich auch nicht berühren lassen, wie die Elementarteilchen. Sobald man sie ‚berührt‘ bzw. mißt, erstarren sie und fallen aus ihrem verschränkten Zustand heraus. Sie sind jetzt nur noch Teilchen oder Welle. Und man fragt sich unwillkürlich, wie es ihnen dabei wohl ergeht.

Durch die Quantelung der Welt, also durch das Unterbrechen des Kontinuums, werden aus den Elementarteilchen ‚Individuen‘. Darin liegt eine subtile Ironie: Die letzte Wirklichkeit unserer Welt besteht nicht aus Atomen, sondern aus Individuen, – was vom Wort her sowieso auf dasselbe hinausläuft.

Photonen, die einen Filter nur mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit passieren, bleiben auch hinter dem Filter in einem verschränkten Zustand, der diesmal darin besteht, daß sie den Filter entweder passiert haben oder nicht. (Vgl. Mainzer 2014, S.118) Erst durch eine Messung entscheidet sich, ob so ein verschränktes Etwas durch den Filter durch ist. Solange nicht gemessen wird, verharren sie in ihrem verschränkten Zustand, gleichzeitig ‚durch und nicht durch‘ zu sein. So wie Schrödingers Katze, die gleichzeitig tot und lebendig ist. Solange bis nachgeguckt wird.

Analog könnte man von einem Quantenäquivalent des menschlichen Denkens sprechen, da auch unser Bewußtsein mit verschränkten Zuständen ‚rechnet‘. Hier heißen diese Zustände ‚Metaphern‘. Alle unsere Worte und Gedanken sind ursprünglich Metaphern, die gleichzeitig etwas anderes bedeuten können.

Aber der Mensch kann auch als Person in einem verschränkten Zustand sein: Als Jesus beim letzten Abendmahl verkündete, daß einer seiner Jünger ihn verraten werden würde, war jeder von ihnen gleichzeitig ein Verräter und kein Verräter. Als Judas nachfragt, ob er es sei – analog zur Messung bei den Elementarteilchen –, bestätigt Jesus das. Erst jetzt ist Judas ein Verräter.

In einer mehr alltäglichen Szenerie in einem französischen Film über eine fünfzigjährige Concierge, die sich von der Welt abgewandt hat und nur noch in ihrer eigenen kleinen Bücherwelt lebt, wird eine ähnliche Erfahrung zum Ausdruck gebracht. Ein Bewohner des Hauses, in dem die Concierge arbeitet, lädt sie zu einem Rendezvous ein. Sie lehnt ab mit der Begründung, sie sei nur die Concierge. Ihr Verehrer antwortet, daß ein Mensch mehr als eine Eigenschaft haben könne.

Der Mensch ist überhaupt nur zu verstehen, wenn man ihn als eine ständige Überlagerung von Zuständen sowohl auf physiologischer Ebene wie auch auf seelisch-geistiger Ebene definiert. Wenn man eine dieser Ebenen isoliert betrachtet, entzieht er sich. In „Gehirn und Gedicht“ (2011) von Raoul Schrott und Arthur Jacobs wird das sehr schön am Beispiel von optischen Täuschungen gezeigt, die zugleich Denkfiguren bilden. (Vgl. meine Posts vom 19.07. und 20.07.2011) So zählt Schrott insgesamt vier optische Täuschungen auf, die ihre Entsprechung auf der Ebene des Sprachverstehens haben und die er zusammenfassend als figurative Täuschungen bezeichnet: Ambiguitäten (Kippfiguren und perspektivische Täuschungen), Verzerrungen (Stock im Wasser, Müller-Lyersche Täuschungen (gleich lange Linien, die durch zusätzliche Markierungen als unterschiedlich lang erscheinen)), Fiktionen (Gestaltillusionen beim Rorschach-Test, Auffüllen von Lücken beim Kaniza-Dreieck) und Paradoxa (M.C. Eschers unmögliche Welten, das unmögliche Dreieck). (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.148f.)

Indem sich sinnliche Wahrnehmung und abstraktes Denken überlagern, entstehen semantische Räume, die wie verschränkte Zustände fungieren. Bedeutungen von Wörtern leben davon, daß sie im Uneindeutigen bleiben. Sobald sie umkehrbar-eindeutig zugeordnet werden, werden sie bedeutungslos. Worte und Gedanken sind immer schon Metaphern, also weder das eine noch das andere, das Lachen oder die Sonne, sondern der Raum dazwischen. Blumenberg hat dazu einiges zu sagen gewußt. (Vgl.u.a. meine Posts vom 06.09. bis 10.09.2011)

Schrott/Jacobs beschreiben sehr schön, wie es gerade die perspektivischen Verzerrungen unserer sinnlichen Wahrnehmung sind, die durch ihre Verwandlung in Metaphern dazu beitragen, daß wir die Welt besser verstehen lernen. Sie helfen uns dabei, Sachverhalte zum Ausdruck zu bringen, die durch 1:1-Wörtlichkeit nicht erfaßt werden können. Letztlich geht es im Wesentlichen, was den Menschen betrifft, immer um diese ‚unscharfen‘ Sachverhalte, was der universellen Dominanz von Rechenverfahren Grenzen setzt. Schrott/Jacobs zeichnen diese Überlagerungen und Verschränkungen bis in die Anatomie und in die Ebenen neuronaler Verschaltungen des Gehirns hinein nach, eines Gehirns, das keinem kalkulierten Design entsprungen ist, sondern Schicht für Schicht aus einer biologischen Evolution im ständigen Bezug auf und mit unserem Körper hervorgegangen ist, dem Plessnerschen Körperleib.

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2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für Ihre sorgfältigen Ausführungen zu dem Mainzer Buch! Irgendwie hatte ich schon von vornherein das Gefühl, dass da der Teufel mit dem Beelzebuub ausgetrieben werden soll, so sehr wie Mainzer (s. auch wie Kittler?) sich in Begeisterung über die ganzen formalen Sprachen, Turing-Maschinen und Beweistheorie schreibt, dass bei der Gleichsetzung unseres Gehirns oder Geistes mit einer Turingmaschine das Fragezeichen letztlich ganz abhanden kommt oder zumindest die Irritation, ob denn mit der Metapher der digitalen Datenverarbeitung wirklich unser Geist schon erschöpfend beschrieben sei.

    Bei der Quantenmechanik muss ich allerdings einhaken. Verschränkung und Unschärferelation sollte man klar trennen: Erstere ist eine Eigenschaft eines quantenmechanisches Zustandes, bei dem nichtlokale Korrelationen auftreten, die klassisch nicht möglich wären (die Messung zweier räumlich weit getrennter Photonen könnten dann voneinander abhängen - und obwohl sich damit keine Information senden lässt, sind diese nichtlokalen Korrelationen letztlich auch die Ressource, womit ein Quantencomputer schneller als ein normaler Computer rechnen könnte) - Während zweitere eher eine Eigenschaft der quantenmechanischen Messung selbst ist, also an jedem quantenmeschanischen Zustand, egal ob dieser verschränkt ist oder nicht, lassen sich komplementäre Messgrößen nicht gleichzeitig beliebig scharf messen. (Diese verwirrende Eigenschaft hat selbst Physiker schon so weit gebracht Elektronen Bewusstsein zuzuschreiben.. und irgendwie ist dieser quantenmechanische Messprozess, wo irgendwie auch noch Subjekt und Objekt herumgeistern, auch schon ziemlich mystisch.)

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  2. Ich bedanke mich für die Korrektur! Darauf bin ich mit meinen laienhaften Vermutungen sehr angewiesen.

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