„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. Juli 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Noch einmal: Die Natur des Menschen
2. Transhumanismus und Singularität
3. Ansätze zu einer Wissenschaftskritik
4. Fragen nach dem politischen Subjekt
5. Das Mikrobiom

Bei meinen Kommentaren zu Al Gores Buch beschränke ich mich größtenteils auf seine Hypothesen und Analysen, und ich verzichte weitgehend darauf, auch auf die beeindruckende Masse von Daten und Zahlen einzugehen, die er in seinem Buch versammelt. Letztlich ist die schiere Präsenz dieses Datenmaterials für Gore schon ein Argument für sich, insofern er damit die „zynische(n) Leugner des Klimawandels“ (Gore 2014, S.379) mit ihren „verzerrten ‚Berichten‘ und ‚Studien‘“ (Gore 2014, S.423), die genau diese Daten bezweifeln, attackiert. Wir haben es mit einer Art ‚Klimadatenkrieg‘ zu tun, in dem sich die Gegner mit Daten bombardieren. Das empfinde ich als ermüdend und wenig weiterführend, aber wahrscheinlich ist es unvermeidlich, wenn es darum geht, einen Bewußtseinswandel herbeizuführen.

An dieser Stelle möchte ich aber trotzdem nochmal kurz auf die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Mikrobiom eingehen, weil sie zeigen, wie wenig es bringt, wissenschaftlich erhobene Daten anhand monokausaler Erklärungsmodelle wie etwa den ‚egoistischen‘ Genen oder den neuronalen Netzwerken als Korrelaten des Bewußtseins zu interpretieren.

Solche monokausalen Erklärungsmodelle sollten sich eigentlich seit dem erfolgreich abgeschlossenen Human Genome Project erledigt haben. Denn das wirklich bemerkenswerte Ergebnis dieses Projekts ist doch, wie komplex der menschliche Organismus mit seiner individuellen Entwicklung in biologische und kulturelle Entwicklungslinien eingebettet ist. Das ist der Grund, warum es im Anschluß an das Human Genome Project ein Human Epigenome Project gegeben hat und noch gibt. Weitere Projekte, die folgten, sind das Human Proteome Project, das Human Connectome Project und eben mittlerweile auch das Microbiome Project. Alle diese Projekte zeigen – unabhängig davon, wie sinnvoll sie im einzelnen auch immer sein mögen –, wie falsch es ist, die Biologie auf Gene und Neuronen zu reduzieren.

Al Gore zufolge besteht das Mikrobiom aus mikrobiellen Gemeinschaften, die in und auf dem Körper jedes Menschen siedeln: „Jeder von uns besitzt ein Mikrobiom, das hauptsächlich aus Bakterien (sowie einem deutlich geringeren Anteil aus Viren, Hefen und Amöben) besteht, deren Gesamtzahl die der Zellen in unserem Körper im Verhältnis von zehn zu eins übersteigt.()“ (Gore 2014, S.368)

Hier unterläuft Gore – oder der deutschen Übersetzung? – allerdings ein Fehler, der recht typisch ist bei solchen aus den verschiedensten Wissensgebieten zusammengestellten Daten und Zahlen. Gore verweist auf eine Mikrobe, die dem menschlichen Organismus ganz und gar nicht gut tut: auf den „Helicobacter pylori“. (Vgl. Gore 2014, S.368) Welche Mikrobe er eigentlich meint, kann ich jetzt nicht einmal vermuten. Der Fehler beruht vermutlich darauf, daß der pars pylori einen Abschnitt des Magens bildet, von dem der Helicobacter pylori seinen Namen hat, weil er dort entdeckt wurde und damit erstmals den Nachweis lieferte, daß es im sauren Milieu des Magens überhaupt Bakterien geben kann. Ansonsten ist er aber vor allem als Krankheitserreger bekannt.

Wenn ich mir vergleichbare Artikel zum Mikrobiom anschaue, so sind Gores diesbezügliche Darstellungen, abgesehen von dieser Mikrobenart, im Großen und Ganzen aber zutreffend. Die fragliche Mikrobenart spielt Gore zufolge eine „zentrale Rolle bei der Regulierung von zwei Schlüsselhormonen im Magen, die für den Energiehaushalt und das Appetitempfinden mitverantwortlich sind.() Genetischen Untersuchungen zufolge wird der menschliche Körper seit 58.000 Jahren in großer Zahl von ‚H. pylori‘ besiedelt() und war das Bakterium bis vor rund einem Jahrhundert der am häufigsten im Magen der allermeisten Menschen vorkommende Mikroorganismen.()“ (Gore 2014, S.368)

Inzwischen, so Gore, tragen „weniger als 6 Prozent aller Kinder in den Vereinigten Staaten, Schweden und Deutschland den Organismus in sich“. (Vgl. Gore 2014, S.368) – Warum? Weil die Mikroben bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten mit Antibiotika mitbekämpft werden. Wahrscheinliche Folge: Zunahme von Fettleibigkeit und diversen Allergien.

Gores Darstellungen sind insoweit korrekt, als das individuelle Mikrobiom mit seinen etwa 160 Bakterienarten tatsächlich eine erhebliche Bedeutung für ein funktionstüchtiges Immunsystem hat und je nach Zusammensetzung auch mitverantwortlich ist für Fettleibigkeit. Das menschliche Mikrobiom besteht aus über tausend verschiedenen Bakterienarten, wobei die genetische Vielfalt innerhalb einer solchen Art enorm groß ist und um bis zu 40 Prozent variieren kann. Zum Vergleich: die individuellen Genome des Menschen sind zu 99,9 Prozent identisch. Das Human Mikrobiome Project will nun genau diese genetische Vielfalt erfassen.

Der menschliche Organismus ist also wirklich äußerst komplex. Al Gore vergleicht ihn mit dem planetarischen Ökosystem: „So wie wir mit den hundert Billionen Mikroorganismen“ – aus denen unser Mikrobiom besteht – „verbunden und von ihnen abhängig sind, die in und auf jedem von uns von der Geburt bis zum Tod leben, so sind wir auch verbunden mit und abhängig von den um uns herum auf und in der Erde existierenden Lebensformen. Nicht anders als die in und auf unseren Körpern siedelnden Mikroben übernehmen auch sie für uns lebensnotwendige Aufgaben. Und ebenso, wie die künstliche Zerrüttung der mikrobiellen Gemeinschaften in uns ein unsere Gesundheit unmittelbar schädigendes Ungleichgewicht in der Ökologie des Mikrobioms erzeugen kann, kann auch die Störung des ökologischen Systems, in und von dem wir leben, ein Ungleichgewicht erzeugen, das uns alle bedroht.“ (Gore 2014, S.370)

Ein schönes Bild. Es zeigt auch, wie falsch es ist, den Menschen auf Gene und auf Neuronen zu reduzieren.

Manche Mikrobiologen bezeichnen das Mikrobiom auch als eine Art „Superorgan“. Georg Reischel wendet zurecht dagegen ein, daß es „eigentlich kein Attribut eines Organs“ ist, Krankheiten zu verbreiten, wie es das Helicobacter pylori tut. Aber vielleicht kann man das Mikrobiom ja als eine Art ‚Hybridorgan‘ bezeichnen, das beide Mikrobensorten in sich enthält, diejenigen, die für unsere Gesundheit unverzichtbar sind, und diejenigen, die sie bedrohen. Außerdem bringt das Attribut ‚Hybrid‘ sehr schön zum Ausdruck, daß das Mikrobiom nicht nur aus einem Genom, sondern aus vielen verschiedenen Genomen besteht. Im Grunde durchbricht das Mikrobiom das Innen-Außen-Schema des menschlichen Organismus. Es ist zugleich ‚in‘ unserem Organismus und ihm äußerlich. Auch das ist ja ein Merkmal von Ökosystemen, die ja keine isolierten Systeme sind. Ohne Offenheit nach außen würden sie nicht funktionieren. Wie sich in neueren ‚Studien‘ zeigt – man verzeihe mir diese Phrase, die ich eigentlich gar nicht mag –, sind es gerade die isolierten Ökosysteme, die besonders krankheitsanfällig sind, und paradoxerweise sind die vernetzten Ökosysteme, zwischen denen sich eigentlich Krankheitskeime gut ausbreiten können, besonders widerstandsfähig. – Das ist übrigens neben der Vernichtung von Mutterboden ein weiterer Grund, warum die Zersiedlung der Landschaft mit ihrer verzweigten Verkehrsinfrastruktur für die Ökosysteme so schädlich ist: die isolierten Wald-, Feld- und Wiesenstücke sind den verschiedenen Krankheitskeimen besonders wehrlos ausgesetzt.

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