„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Juni 2014

Andreas Bernard, Kinder Machen – Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung, Frankfurt a.M. 2014

(S. Fischer Verlag, 543 S., 24.99 €)

1. Halbierte Kopulation
2. Zum biologischen Ursprung der klassischen Bildungstheorie
3. Der Einfluß des Individuums
4. Konkurrenz oder Symmetrie der Geschlechter?
5. Der Samenspender als Kulturstifter?
6. Selbsteugenisierung
7. Bedrohte Menschlichkeit?

Bernards Hauptaugenmerk richtet sich auf die Geschichte des „Zeugungswissens“ seit dem späten 17. Jhdt. und auf den Einfluß, den diese Geschichte bis in die Gegenwart hinein hat. (Vgl. Bernard 2014, S.22f.) Damit befaßt sich ein Großteil seiner Studien mit einem Zeitraum, den wir unter dem Begriff der „Aufklärung“ kennen. Zu dieser Epoche gehören auch die Anfänge einer Bildungstheorie, wie sie den deutschsprachigen Kulturraum bis in die neunziger Jahre des 20. Jhdts. hinein bestimmt hat. Das für mich Erstaunliche ist nun, wie sehr die unter dem Schlagwort der „Epigenese“ auftretenden Zeugungstheorien zum Ende des 18. Jhdts diese klassische Bildungsphilosophie beeinflußt haben. Diese Epigenese, die die bis dahin vor allem propagierten, verschiedenen Versionen der „Einschachtelungstheorie“ ablöste (vgl. Bernard 2014, S.35ff.), ist übrigens nicht zu verwechseln mit der modernen Epigenetik.

Der Einfluß der Epigenese auf die Bildungsphilosophie läßt sich besonders gut an Wilhelm von Humboldts früher, in Schillers Horen erschienenen Schrift „Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur“ (1795) zeigen. Doch bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich erst noch kurz erläutern, worum es bei der Einschachtelungstheorie ging.

Die „Einschachtelungstheorie“ (Vgl. Bernard 2014, S.35ff.) reicht bis zu den Kirchenvätern zurück, die davon ausgingen, daß der künftige Mensch „bereits vor der Befruchtung im Ei oder im Mutterkörper vorhanden sei“, wie ein Homunkulus voll ausgestattet mit allen Organen und Körperteilen. (Vgl. Bernard 2014, S.36) Der Zeugungsakt wirkt mittels des Samens lediglich wie ein mechanischer Anstoß, der den anschließenden Entwicklungsprozeß des Embryos als eine bloße ‚Auswicklung‘ des bereits Vorhandenen in Gang setzt. Seit dem späten 17. Jhdt. streiten sich die „Ovisten“ und die „Animalkulisten“ (von ‚animalculum‘: kleines Tier; wie in ‚homunculum‘: kleiner Mensch) darüber, ob dieser präformierte Mensch nun seinen Sitz in der Eizelle oder im Spermatozoon (‚zoon‘: Tier) hat. Dabei sind sich beide Parteien sowohl hinsichtlich der Präformation wie auch darin einig, daß nur eins der beiden Geschlechter fruchtbar ist, während das jeweils andere bloß entweder den Anstoß oder den Nährboden für die weitere Entwicklung zur Verfügung stellt.

Eine zum Präformismus im Widerspruch stehende Theorie lieferte schon Aristoteles, wobei auch Aristoteles nur einem Geschlecht, dem Mann, Fruchtbarkeit attestierte. Aristoteles geht von einer „Epigenese“, einer ‚Neuentwicklung‘ des Menschen aus. (Vgl. Bernard 2014, S.35f.) Das widerspricht der „‚Präformations‘-Lehre“ (Bernard 2014, S.36) der Einschachtelungstheoretiker. Aristoteles konnte – mangels Mikroskopen – im männlichen Samen keine vorgegebenen Strukturen erkennen und ging deshalb davon aus, daß der Mensch sich aus diesem Samen völlig neu, aus dem Nichts, „allmählich() und sukzessive()“ entwickelt. (Vgl. ebenda)

Spätere ‚Epigenetiker‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. gehen aufgrund dieses Fehlens einer präformierten Struktur von einer Gleichwertigkeit der ‚Zeugungsstoffe‘ beider Geschlechter aus. (Vgl. Bernard 2014, S.48ff.) Johann Friedrich Blumenbach (1781) spricht von einem „Bildungstrieb“, dessen „Ursache, wie andere essentielle Naturkräfte auch, unbekannt bleiben müsse.“ (Vgl. Bernard 2014, S.49f.)

Mit dieser neuen Theorie zum biologischen ‚Ursprung‘ des Menschen verändert sich das bislang einseitige Verhältnis zwischen den Geschlechtern fundamental: „Man muss sich vielmehr vergegenwärtigen, welche Umstellung es für das grundsätzliche Verständnis des Menschen und seiner intimsten Beziehungen gewesen ist, dass ein Kind allein durch zwei Elternteile entstehen soll, die sich vereinigen; dass die Befruchtung jedes Mal aufs Neue die genuine Erzeugung eines Lebewesens ist – zum ersten Mal erhält das Wort seine volle Bedeutung – und nicht die Entfaltung eines lange gefassten, göttlichen Plans.“ (Bernard 2014, S.50)

Mit diesem neuen biologischen Konzept und dem Ende der Präformationslehre korrespondierte das neue romantische Konzept der Liebe. Damit aber kommen wir auch schon zu dem eingangs erwähnten Text von Humboldt, „Ueber den Geschlechtsunterschied“, einem der Gründungstexte der klassischen Bildungstheorie. Der Begriff der ‚Bildung‘ wird zum ersten Mal überhaupt in dieser Zeit gebräuchlich. Auf den immensen Einfluß der Epigenese auf die Philosophie kommt Bernard selbst zu sprechen. Er verweist auf Immanuel Kants Darstellung des menschlichen Erkenntnisvermögens, das er als aus zwei Vermögen zusammengesetzt versteht: dem der Anschauung und dem des Begriffs. Die Anschauung entspricht dem Weiblichen und der Begriff dem Männlichen, und nur aus beidem zusammen ergibt sich eine vollständige Erkenntnis. Kant spricht hier wortwörtlich von der „Epigenesis der reinen Vernunft“. (Vgl. Bernard 2014, S.52)

Auch Wilhelm von Humboldt, auf den ich hier nur mit einem generellen Verweis auf die besagte Schrift zu sprechen kommen will, spricht von der Bildung als einem aus den zwei Prinzipien des Weiblichen und Männlichen zusammengesetzten Phänomen. Für diese Zusammengesetztheit der Bildung verwendet Humboldt auch gerne den Begriff der „Einbildungskraft“, der diese beiden Prinzipien als ‚Einbildung‘ und als ‚Kraft‘ enthält. Andere Synonyma für Weiblichkeit und Männlichkeit sind „Physis“ und „Moralität“, wobei der Begriff der ‚Natur‘ (physis) bei Humboldt nicht mehr im Gegensatz zur ‚Idee‘ bzw. ‚Moralität‘ steht, sondern in sich eine Einheit aus beidem bildet. Als Beispiel bringt Humboldt den Berg, den wir von unten immer nur aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen können, so daß er uns von der einen Seite nur als Physis und von der anderen Seite nur als Moralität erscheint. Befinden wir uns aber auf der Bergspitze, so sehen wir alle Seiten gleichzeitig und erkennen, daß es derselbe Berg ist.

Das erinnert an Blumenbergs Phänomenologie des Eisbergs. (Vgl. meinen Post vom 26.09.2012) Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine invertierte Perspektive auf dasselbe Phänomen. Statt auf der Spitze des Berges zu stehen, befinden wir uns auf der Ebene des Wasserspiegels und erkennen, daß es oberhalb wie unterhalb des Wasserspiegels derselbe Berg ist, den wir sehen.

Ich habe Humboldts Überlegungen zum Geschlechtsunterschied immer als eine Phänomenologie gelesen, die das Männliche und Weibliche nicht begrifflich auf eine bestimmte Substanz des ausschließlich Männlichen auf der einen Seite und des ausschließlich Weiblichen auf der anderen Seite versteht. Ich habe sie vielmehr immer als Metaphern genommen. Es sind sicher auch andere Interpretationen möglich, wie die von Christina von Braun (2007). Humboldt selbst beschreibt den Geschlechtsunterschied als auffälligsten Unterschied zwischen den Menschen, der die Verschiedenheit und sogar Fremdheit der Individuen zueinander zum Ausdruck bringt. Der Geschlechtsunterschied steht hier also für die Verschiedenheit der Individuen überhaupt, also für Individualität. Und ineins damit für das Begehren, das mit dieser Verschiedenheit verbunden ist und sich also auf Individuen generell richtet, bei denen ohne deren Verschiedenheit nur „langweilige und erschlaffende Gleichheit“ vorherrschen würde.

Ich habe Humboldts Bildungstheorie deshalb immer so verstanden, daß sie die Sinnlichkeit des Menschen ins Zentrum stellt, und von dieser Sinnlichkeit aus zur Geistigkeit und Individualität strebt, was für beide Geschlechter gleichermaßen gilt. Dem entspricht der Humboldtsche Begriff des „Genies“, der wiederum dem Blumenbachschen „Bildungstrieb“ entspricht. Das ‚Genie‘ ist nicht von ungefähr, wie ich nun aufgrund meiner Lektüre von Bernards Buch feststellen muß, ein Bestandteil des Wortes ‚Epigenese‘. Humboldt selbst stellt es eindeutig in einen sexuellen Kontext, in dem die zeugenden und empfangenden Kräfte zusammenwirken müssen, um etwas Neues entstehen zu lassen, sowohl auf geistigem Gebiet als ‚Werk‘ wie auch auf biologischem Gebiet als ‚Kind‘, was Humboldt ja beides als Natureinheit versteht.

Dabei beschreibt Humboldt den Prozeß des Hervorbringens des Neuen, zuvor nie Dagewesenen, als einen Orgasmus. Noch lange danach, wenn etwa ab der Mitte des 19. Jhdts. die Genetiker Geschlechtsakt und Befruchtungsakt voneinander abgetrennt haben werden, wird der Orgasmus immer noch als ein unverzichtbares Moment in der Erzeugung eines Embryos begriffen. (Vgl. Bernard 2014, S.186, 194, 450) In Humboldts Bildungstheorie ist der Orgasmus der Moment, in dem männliche und weibliche Kräfte zusammenkommen und zusammenwirken. Auch das individuelle Genie kann nur in einem Zustand der Ekstase produktiv werden.

Dabei gerät das Genie außer sich – entsprechend dem Begriff der Ekstase – und es vermag sich in seinem ‚Werk‘, das es sich gegenüberstellt, zu reflektieren. Was Plessner also an der menschlichen Anatomie festmacht, die exzentrische Positionalität, macht Humboldt am Geschlechtsunterschied fest: uns selbst gegenübertreten können wir nur über den anderen Menschen uns gegenüber, an dem wir uns unserer selbst bewußt werden, und am neuen Menschen, den wir gemeinsam mit dem anderen Menschen zeugen und der uns wiederum einen Spiegel vorhält, in dem wir uns selbst, in einer anderen Form, erneuern.

Wir haben es also in der klassischen Bildungstheorie mit einem Menschen zu tun, der als Physis und als Moralität eine individuelle Natureinheit bildet. Alle drei Entwicklungslinien, von denen hier in diesem Blog immer wieder die Rede ist, die biologische, die kulturelle und die individuelle, kommen in dieser Bildungstheorie zusammen. Erst die Gesamtheit dieser Entwicklungsprozesse macht einen Menschen aus. Den Menschen auf eine tote genetische Struktur zurückzuführen, wie es die Genetiker und Reproduktionsmediziner versuchen, macht keinen Sinn.

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