„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 29. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Entweder Nachhaltigkeit oder Wachstum!
2. Grenzen des Glücks
3. „... keine Kultur, die bei klarem Verstand ist ...“

Die Begrenztheit der Goreschen Anthropologie zeigt sich nicht nur in seinen Aussagen zur Natur des Menschen (vgl. meinen Post vom 24.06.2014), sondern auch in seiner Naivität gegenüber den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung. So kommt es immer wieder zu einer fraglosen Übernahme neurowissenschaftlicher ‚Erkenntnisse‘: „Im kollektiven Versagen bei der Einschätzung der äußerst wahrscheinlichen Konsequenzen von Tatsachen, die sich nach leicht messbaren Trends entwickeln, zeigt sich auch die wohlbekannte menschliche Schwäche, über die Zukunft nachzudenken. Hirnforscher und Verhaltensökonomen haben gezeigt, dass es bei uns zu einer Art von Denkstörung kommt, wenn wir in der Jetztzeit eine Entscheidung treffen sollen, für die eine Einschätzung künftiger Entwicklungen erforderlich ist.“ (Gore 2014, S.207)

Bei ‚uns‘ kommt es also zu einer Denkstörung. Was bitte heißt „bei uns“? Im nächsten Kapitel wird Gore immerhin die Frage stellen, wer denn das „wir“ ist, das in der Verantwortung steht, sich den Herausforderungen unserer Gegenwart im Dienste einer menschlichen Zukunft zu stellen. (Vgl. Gore 2014, S.283, 303) Aber angesichts der respekteinflößenden Erkenntnisse der „Hirnforscher“ stellt sich bei Gore eine „Denkstörung“ ein, und er fragt nicht mehr nach, wer denn dieses „uns“ sei, das sich da im Gehirn als Denkstörung manifestiert.

Dabei ist es so einfach: Wir haben es hier mit einer Aussage über die gesamte Kultur zu tun, so daß die von den Hirnforschern erhobenen Daten nicht isolierte Hirnprozesse messen, sondern ein kulturelles Phänomen! Und ich denke, daß es offensichtlich ist, daß die betreffenden Hirnprozesse so wenig ein biologisches Korrelat eines kulturelles Phänomens bilden wie sie ein individuell gestörtes Denken repräsentieren. Es ist vielmehr die umfassende Plastizität des Gehirns, das sich geschmeidig individuellen wie kulturellen Prozessen anpaßt und sie widerspiegelt. Für das, was Gore als „menschliche Schwäche“ bezeichnet, ist das Gehirn jedenfalls nicht verantwortlich. Diese Schwäche ist auf nichts anderes zurückzuführen als auf die von Kant beschriebene selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen, die darin besteht, aus welchen Motiven auch immer, nicht selber denken zu wollen.

Und diese Unmündigkeit ist natürlich eben auch kulturell bzw. lebensweltlich bedingt, weshalb es richtig ist, von einem „kulturellen Versagen“ zu sprechen. Die von Gore verwendete Formulierung zur „Weisheit der Menge“ beinhaltet ja durchaus die Einsicht, daß z.B. funktionierende Demokratien besonders geeignet dafür sind, diese Weisheit wirksam werden zu lassen. (Vgl. meinen Post vom 25.06.2014) Die Grundvoraussetzung dieser Weisheit besteht nämlich in einem ungestörten individuellen Denken, dessen Fundament das individuelle Gewissen ist und nicht das in moralischer Hinsicht wirklich ‚unschuldige‘ Gehirn.

Wenn also zu Recht von einem „kollektiven Versagen“ gesprochen werden kann, dann spielt sich das auf dieser Ebene eines denkfreundlichen oder denkfeindlichen Milieus ab. Als warnendes Zeichen mag hier die Osterinsel dienen. Hier haben wir es mit einer immerhin 700jährigen Kultur zu tun, die sich also insgesamt als erfolgreicher als unsere bislang vielleicht 300jährige Industriekultur erwiesen hat. Dennoch war sie, als die Osterinsel entdeckt wurde, komplett ausgestorben. Die einst dicht bewaldete Insel hatte sich in eine öde Graslandschaft verwandelt, weil die ursprünglichen Bewohner alle Bäume gefällt hatten und mit dem letzten Baum unwiderruflich auch ihre Lebensgrundlage. – Man fragt sich, was für eine „Denkstörung“ die Hirnforscher wohl bei diesen Leuten entdeckt hätten.

Wenn ‚wir‘ ‚uns‘ also bei unserem fortschreitenden Projekt, „der ohnehin bereits übersättigten Atmosphäre des Planeten so viel zusätzliches CO2 hinzu(zu)fügen“ – nämlich durch Fracking und durch Ausbeutung der letzten Ölreserven in der Tiefsee und der Arktis –, als „keine Kultur“ erweisen, „die bei klarem Verstand ist“ (vgl. Gore 2014, S.203f.), dann sollten wir bitteschön die Hirnforschung dabei rauslassen. Unsere mangelnde Zukunftsfähigkeit ist jedenfalls nicht in einer irgendwie mangelhaften Plastizität des Gehirns begründet.

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