„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 21. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Technik als Erweiterung menschlicher Fähigkeiten
2. Big Data

Es gibt eine in sich widersprüchliche Thematisierung der Technik als einem Menschheitskriterium. Gerne wird immer wieder der entscheidende Unterschied gemacht, daß der Gebrauch von Werkzeugen auf ein intelligentes Lebewesen hinweist und daß insbesondere der Mensch in seiner Entwicklung entscheidend durch den Gebrauch des Feuers und von Werkzeugen beeinflußt gewesen sei. (Vgl. meinen Post vom 02.03.2013; zu weiteren Urspungsmythen der Menschheit vgl. auch meinen Post vom 15.05.2011) Dann aber heißt es wieder ganz anders, daß die Technik wie jedes Werkzeug hinsichtlich ihrer menschlichen Qualität neutral sei. Jedes Werkzeug könne das Leben sowohl erleichtern wie auch nehmen, also als Waffe gebraucht werden. Es komme einzig auf den Gebrauch an, den der Mensch davon mache. (Vgl. meinen Post vom 30.03.2013)

Beide Aussagen widersprechen einander und werden gelegentlich auch in ein und demselben Text gemacht, ohne den Widerspruch zu reflektieren. Ist es aber nicht eher so, daß nur eins von beidem gelten kann? – Entweder der Werkzeuggebrauch ist ein wesentliches Moment der Menschwerdung und dann kann er nicht ethisch neutral sein. Oder der Werkzeuggebrauch ist ethisch neutral und dann kann er nicht ein wesentliches Moment der Menschwerdung sein. Alles was unsere menschliche Intelligenz möglich macht, ist immer auch immanenter Bestandteil der menschlichen Natur. Und jede qualitative Veränderung dieses Bestandteils verändert damit auch die menschliche Natur.

Dennoch: wenn wir zu uns selbst exzentrisch positioniert sind, als Körperleib, so muß das auch für die Werkzeuge gelten, die unsere körperlichen Fähigkeiten erweitern. Wo die Technik allerdings Gestellcharakter annimmt (vgl. meine Posts vom 23.04. bis 30.04.2013), wird diese exzentrische Positionierung systematisch unterlaufen. Letztlich ist nichts, was der Mensch tut, ethisch neutral, auch nicht die technischen Mittel, die er verwendet. Schlechte bzw. ‚böse‘ Mittel verderben auch die besten Zwecke. Wo die Mittel selbst Zweckcharakter annehmen, wie es beim Gestell der Fall ist, schaden sie immer schon unserer Menschlichkeit. Hier haben wir es nicht mehr mit einem einfachen Werkzeug zu tun, sondern mit einem ‚Denken‘, das sich ohne uns vollzieht.

Auch Al Gore verwendet immer wieder beide Argumente: das von der angeblichen ethischen Neutralität von Werkzeugen (vgl. Gore 2014, S.101 und 108) und das von der das menschliche Potential verändernden Qualität der Technik (vgl. Gore 2014, S.83 und 108). An einer Stelle fügt er zwei Sätze zusammen, deren wechselseitiger Widerspruch für einen denkenden Menschen geradezu atemberaubend ist: „Die Geschichte lehrt uns natürlich, dass jedes Werkzeug, das mächtige Internet eingeschlossen, zum Guten wie zum Bösen verwendet werden kann. Das Internet verändert zwar die Struktur unseres Denkens und auch unserer Beziehungen, doch es verändert nicht die menschliche Natur.“ (Gore 2014, S.108f.) – Jedes ‚Werkzeug‘, auch das Internet, ist also ethisch neutral. Dann aber doch wieder nicht; denn das Internet verändert die Struktur unseres Denkens und auch unserer Beziehungen. Nichts, was dazu in der Lage ist, kann ethisch neutral sein! Und dann kommt der eigentliche Hammer: „doch es verändert nicht die menschliche Natur“! Was bitte ist denn dann die menschliche ‚Natur‘, wenn sie nicht in der Struktur unseres Denkens und unserer Beziehungen besteht?!

Mit solchen ‚Überlegungen‘ deklassiert Gore alles, was er zur Zukunft des Menschen zu schreiben weiß.

Gore unterscheidet nicht zwischen Werkzeugen in ihrer unterschiedlichen Qualität; er unterscheidet nicht zwischen Werkzeug und Gestell. Alle Techniken sind für ihn unterschiedslos bloße „‚Erweiterungen‘ fundamentaler menschlicher Fähigkeiten“ (Gore 2014, S.74), also von derselben anthropologischen Qualität wie unser Körperleib: „Das Automobil ist ... eine Erweiterung unserer Fortbewegungsfähigkeit. Der Telegraf, das Radio und das Fernsehen sind Erweiterungen unserer Fähigkeit, über eine größere Entfernung miteinander zu sprechen. Sowohl die Schaufel als auch die Dampfschaufel sind Erweiterungen unserer Fähigkeit, Gegenstände zu heben.“ (Gore 2014, S.74)

Zu Radio und Fernsehen haben schon Günther Anders und Friedrich Kittler mehr und anthropologisch Bedenklicheres zu sagen gewußt, als Al Gore hier einfällt. (Vgl. meine Posts vom 23.01. bis 29.01.11 und vom 08.04. bis 14.04.2012) Und Leroi-Gourhan macht sich in aller wohlbegründeten Ernsthaftigkeit Gedanken über den Sapiens-Bestandteil in der Gattungsbezeichnung des Menschen, weil die Technik dazu geführt habe, daß wir unsere Hände nicht mehr brauchen. (Vgl. meinen Post vom 08.03.2013) Sogar Al Gore selbst weiß an einer Stelle von dem „fast hypnotischen Bann“ zu sprechen, in dem sich das „Massenfernsehpublikum“ tagtäglich befindet und der seiner Ansicht nach die us-amerikanische Demokratie längst zu unterminieren begonnen hat. (Vgl. Gore 2014, S.105)

Dennoch bezeichnet Gore zwar das „globale() Internet“ und die „damit verbundenen Milliarden intelligenter Geräte und Maschinen“ als das „bei Weitem mächtigste Werkzeug der Menschheitsgeschichte“, das „mittlerweile unser Denken, das triviale ebenso wie das tiefgründige“ beeinflußt, – „und zwar dramatisch und umfassend“ (vgl. Gore 2014, S.83); aber das reicht nicht weiter als bis zu der beruhigenden Feststellung einer ethischen Neutralität, daß nämlich „alle Technologien dem Guten und dem Bösen dienen können, je nachdem, wie und von wem sie am effektivsten eingesetzt werden“ (vgl. Gore 2014, S.101).

Das ist zu wenig, Mr Gore.

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2 Kommentare:

  1. Wenn sich ein dreißig jähriger auf das Internet einlässt und nach zwanzig Jahren "internet-konform" ist, hat er dann seine Natur einfach mal so verändert? Und wenn dem so ist, dann macht der Begriff der menschlichen Natur keinen Sinn mehr. Zumal er dann auch noch individuell zugeordnet werden muss. Dann würde der Begriff "exentrische Positionalität" den Natur-Begriff des Menschen ersetzen, der eh stark mythisch angelegt ist. Was aber nebenbei niemanden weiter hilft.

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  2. Ich gebe Dir völlig Recht. Ich gebrauche alledings den Naturbegriff immer noch gerne, weil ich die Opposition zwischen Natur und Kultur und zwischen Natur und Technik für eine wichtige Denkhilfe halte.

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