„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 19. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Vom ‚Geld‘ spricht Gore in seinem Kapitel zur Welt AG eher selten. Meistens spricht er von einer „wachsende(n) Konzentration von Reichtum“ an der „Spitze der Einkommensleiter“ (vgl. Gore 2014, S.40), was die tatsächliche Funktion des Geldes eher verschleiert. An einer Stelle aber reicht Gore dicht an das Analyseniveau eines Frank Engster heran (vgl.u.a. meine Posts vom 21.02. und vom 24.03.2014), wenn er das Geld als ein Symbol „für Soll und Haben“ bezeichnet, mit dessen Hilfe sich moderne Gesellschaften einen „Überblick“ über die „ständigen Tauschabfolgen“ verschaffen (vgl. Gore 2014, S.73). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem Geld, dessen Rechenkapazität sich mit den heutigen Supercomputern vergleichen ließe, obwohl sie tatsächlich weit über sie hinaus geht, da es die Gesamtproduktivität einer Gesellschaft, heute der globalen Welt, in jedem einzelnen unserer Kaufakte als Durchschnittswert ermittelt.

Das unbewußte, der menschlichen Kontrolle entzogene Rechnen des Geldes wird von Gore sehr schön an eben diesen Supercomputern verdeutlicht. Wir haben es hier mit einer Zeitdimension zu tun, die zu den in seiner Einleitung angesprochenen vier Uhren (vgl. Gore 2014, S.17f.), die individuelle Lebenszeit, die menschliche Geschichte, die biologische Zeit (Evolution), die planetarische Zeit (Geologie) als eine fünfte Uhr hinzukommt: die digitale Zeit rechnergesteuerter Finanztransaktionen. In der Kulturgeschichte des Menschen unterscheidet Al Gore drei Epochen: „Die erste dauerte 200 000 Jahre, die nächste 8000 Jahre und die industrielle Revolution nur 150 Jahre.“ (Gore 2014, S.72) – Wenn man die aktuelleren Umbrüche in den digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien vom social web über das Internet der Dinge bis hin zum 3D-Drucker hinzudenkt, erkennt man eine exponentiell ansteigende Kurve, die eine humane Synchronisation der verschiedenen ‚Uhren‘ als undenkbar erscheinen läßt.

Was die erwähnte fünfte Uhr betrifft, den digitalisierten „Kapitalfluss der Weltmärkte“, sind Al Gore zufolge die Menschen „mittlerweile hinter die Supercomputer zurückgetreten, die in rasender Geschwindigkeit und Frequenz Transaktionen vornehmen“. (Vgl. Gore 2014, S.45) Die finanziellen Transaktionen laufen im Mikrosekunden- (Millionstelsekunden) und demnächst wohl auch im Nanosekundenbereich (Milliardstelsekunden) ab (vgl. Gore 2014, S.45): „Die Handelsfirmen stellen heute ihre Supercomputer direkt neben den jeweiligen Börsensaal, denn selbst bei Lichtgeschwindigkeit würde die Zeit, die eine Information für die Überquerung der Straße in ein anderes Gebäude braucht, einen Wettbewerbsnachteil mit sich bringen.“ (Gore 2014, S.46)

Es ist für meinen einfachen Menschenverstand unbegreiflich, wie man in solchen Zeiteinheiten Geschäfte machen kann. Um Transaktionen rechtsgültig zu machen, ließen Banker vor der Wirtschaftskrise von 2008 mit Hilfe billiger Arbeitskräfte in der Minute hunderte von Unterschriften für Darlehen fälschen, was man als „Robosigning“ bezeichnete, weil kein realer Banker so schnell so viele Kredite bewilligen konnte. (Vgl. Gore 2014, S.50) Für die Verlegung eines Transatlantikkabels, der die Kommunikation zwischen New York und London um 5,2 Millisekunden verkürzte, wurden 300 Millionen Dollar ausgegeben. (Vgl. Gore 2014, S.46)

Als am 06. Mai 2010 der Dow Jones an der New Yorker Börse um tausend Punkte fiel, um dann 16 Minuten später wieder auf den ursprünglichen Wert anzusteigen, ohne daß es dafür irgendeinen ersichtlichen Grund gab, fand man fünf Monate später nach intensivster Analysearbeit heraus, daß die extrem kurzen Zeiteinheiten bei den Transaktionen in den Algorithmen so etwas wie einen Echoeffekt ausgelöst hatten – sie haben auf sich selbst reagiert –, „was die Kurse jäh zum Absturz“ brachte. (Vgl. gore 2014, S.49) Der recht vernünftig erscheinende Vorschlag, eine neue Regel einzuführen, „nach der Kauf- oder Verkaufsgebote eine Sekunde lang offen bleiben sollten“, wurde abgelehnt. Das hätte die Gewinne der Finanzunternehmen gemindert. (Vgl. ebenda)

Wir haben es also nicht einfach mit konzentriertem Reichtum zu tun, sondern mit Geld als einer Form des gesellschaftlichen Rechnens, das sich von Produktions- und Konsumzusammenhängen völlig abgekoppelt hat. Dieses ‚Geld‘ hat inzwischen auch die Wissenschaft selbst infiltriert und transformiert. Ihre fundamentale Aufgabe, Daten zu sammeln und zu interpretieren, die bislang im wesentlichen in zwei Methoden bestand, der Induktion und der Deduktion, ist um eine dritte Methode ergänzt worden: „Das neue Gebiet des wissenschaftlichen Rechnens – auch bekannt unter dem Begriff computational science – gilt deshalb mittlerweile neben der Induktion und der Deduktion als dritter grundlegender Weg zu neuen Erkenntnissen. Es kombiniert Elemente dieser beiden und simuliert eine künstliche Realität, in der ohne vereinfachende Annahmen detaillierte Experimente möglich sind.“ (Gore 2014, S.61) – Mit anderen Worten: an die Seite – vielleicht auch an deren Stelle? – von Induktion und Deduktion ist die Simulation getreten, und wo Induktion und Deduktion noch weitgehend von menschlicher Sinnlichkeit und von menschlicher Verstandeskraft abhängig gewesen sind, vertrauen wir zunehmend der Kraft von Algorithmen.

Vom Geld also spricht Gore eher selten. Aber er verwendet ein anderes Wort, das den neuen Zeitverhältnissen im Mikro- und Nanosekundenbereich und den neuen Materialwissenschaften, der „Molekularökonomie“ (Gore 2014, S.61), vielleicht sogar noch besser entspricht: „Technologiekapital“. (Vgl. Gore 2014, S.38, 40, 75) Das Wort bringt sehr schön die enge Verbindung von Geld und Technik zum Ausdruck, insofern sich das Geld nicht mehr in erster Linie über Waren und ihren Tausch, sondern über die Technik realisiert. Insbesondere die Informationstechnologie stellt die zentrale Infrastruktur, in der sich das Geld durch sich selbst mit sich selbst, als Informationsquantum, als Boid, ‚verrechnet‘. Wir haben es bloß noch mit einem von jeder Materie losgelösten, reinen Strukturalismus zu tun. Der Kapitalismus ist zu einem Computerspiel geworden, dessen einzige materielle Basis im Elend der Verlierer besteht.

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