„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 18. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Al Gore stellt die „Welt AG“ als ein „emergentes Phänomen“ dar, als eine „völlig neue() Realität“ (vgl. Gore 2014, S.37), zu der uns, wie er einen „Experten für den automatisierten Handel“ zitiert, noch „jede vernünftige Verständnisgrundlage fehlt“ (vgl. Gore 2014, S.45). Wir haben es mit einer „Transformation der Weltwirtschaft“ (Gore 2014, S.36) zu tun, durch die offensichtlich all unser bisheriges, in BWL (Betriebswirtschaftslehre) und VWL (Volkswirtschaftslehre) gesammeltes ökonomisches Wissen bedeutungslos geworden ist; so bedeutungslos, daß wir einer noch zu erfindenden Weltwirtschafslehre (WWL) bedürfen.

Worin besteht das völlig Neuartige dieser Weltwirtschaft? – Es sind vor allem drei Faktoren, die die Fundamente der klassischen Kapitalismustheorie bilden, die in der ‚Welt AG‘ zum Teil völlig neu definiert und zum Teil als regelrecht abgeschafft gelten müssen: die Rohstoffe, die Waren und die Lohnarbeit. Diese drei Faktoren bilden das materielle Bedingungsgefüge einer der Bedürfnisbefriedigung dienenden Marktwirtschaft. Mit materiellen Bedürfnissen aber hat die ‚Welt AG‘ rein gar nichts mehr zu tun.

An die Stelle einer Industrieproduktion vor Ort, für deren Infrastruktur reale Fabriken und hohe Schornsteine stehen, sind „virtuelle() globale() Fabriken“ getreten, „mit kompliziert verflochtenen Lieferketten, die Hunderte von Unternehmen in Dutzenden von Ländern einbinden. ... Ein zunehmender Prozentsatz der Lohnarbeiter steht nicht nur im Wettbewerb mit anderen Lohnarbeitern anderer Länder, sondern auch mit intelligenten Maschinen, die wiederum mit anderen Maschinen und Computernetzwerken verzahnt sind.“ (Gore 2014, S.35)

Ohne das Wort zu verwenden, spricht Gore mit den miteinander verzahnten „Maschinen und Computernetzwerken“ das Internet der Dinge an. Zusammen mit einer weiteren, den neuzeitlichen Auguren zufolge alles umstürzenden technischen Revolution, dem 3D-Drucker – ein neuer Prototyp dieses Geräts druckte in Kalifornien „innerhalb von zwanzig Stunden ein ganzes Haus (ohne Türen und Fenster)“ (vgl. Gore 2014, S.66) – und in Kombination mit den neuen Materialwissenschaften, der „Molekularökonomie“ (Gore 2014, S.61), wird der Begriff des ‚Rohstoffs‘ völlig neu definiert, und die menschliche Arbeitskraft wird als ökonomischer Faktor abgeschafft bzw. ihre „grundlegende Rolle“ wird, wie Gore vorsichtig formuliert, „in der künftigen Wirtschaft infrage“ gestellt. (Vgl. Gore 2014, S.37)

Worin besteht diese „grundlegende Rolle der Arbeitskraft“? Marx zufolge besteht sie darin, daß sie Mehrwert schaffen kann. (Vgl. meine Posts vom 05.03., 23.03. und 25.03.2014) Nur die menschliche Arbeitskraft kann Marx zufolge tote Arbeitszeit, also Kapital, auf Waren übertragen und diesen Waren gleichzeitig Mehrwert hinzufügen. Der Trick – und Mehrwertbildung ist nichts als ein mieser Zaubertrick, auf den wir alle immer wieder hereinfallen – des Kapitalisten besteht darin, daß er diesen Mehrwert durch Entwertung der Arbeitskraft steigern kann, entweder durch Erhöhung der Arbeiterschaft oder durch Modernisierung der Technologie. Die erhöhte Menge der Waren, die auf diese Weise vom einzelnen Arbeiter produziert werden kann, wirkt sich direkt entweder auf seine Entlohnung oder auf seine Beschäftigung aus. Er bekommt weniger Geld für seine Arbeit oder er wird entlassen.

Man hat Marxens Kapitalismuskritik immer dahingehend verstanden, daß die tendenzielle Abschaffung der menschlichen Arbeitskraft zum Kommunismus führen müsse. Inwiefern Marx selbst tatsächlich auch dieser Meinung gewesen ist, kann ich nicht beurteilen. Tatsächlich läuft bislang alles auf eine Abschaffung des Menschen aus dem Wirtschaftssystem hinaus, nicht nur auf der Produktionsseite, sondern auch auf der Konsumseite. Denn der Konsum dient längst nicht mehr der Befriedigung von Bedürfnissen, in der die Nachfrage das Angebot bestimmt, sondern der Erzeugung von Bedürfnissen, in der das Angebot die Nachfrage bestimmt. Mit Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun.

Im Finanzkapitalismus jedenfalls gibt es nicht einmal mehr den Anschein irgendeiner Bedürfnisbefriedigung, die noch den Umweg über die Produktion von Waren nimmt. Die ‚Handelsströme‘ haben sich von der Produktion und dem Verkauf von Gütern völlig abgekoppelt. Es geht nur noch um die Vermehrung der Geldmenge als solcher: „Die internationalen Handelsströme haben sich in den vergangenen dreißig Jahren von 3 Billionen Dollar auf 30 Billionen Dollar jährlich verzehnfacht und wachsen weiter an, und zwar eineinhalb Mal so schnell wie die Produktion.()“ (Gore 2014, S.50) – Mit anderen Worten: der Geldmenge entsprechen kaum noch reale Werte.

Mit der Virtualisierung bzw. „‚Finanzialisierung‘ der Wirtschaft“ (Gore 2014, S.46) spielt der Mensch auch auf der Kapitalseite der ‚Produktion‘ keine Rolle mehr:  „Dass die menschliche Entscheidungsfähigkeit zunehmend aus dem Verfahren verdängt wird und der wachsende Handel künstlicher Finanzinstrumente ein Volumen erreicht, gegen das die Transaktionen mit echten Werten in der Weltwirtschaft verblassen, trägt in der Praxis dazu bei, dass Kapital immer seltener ein verlässlicher und effizienter Faktor der Produktion ist.“ (Gore 2014, S.48)

An die Stelle des menschlichen Entscheidungsfaktors ist eine systembedingte „positive Rückkopplung“ getreten. in der die „zunehmende() Integration der Welt AG“ und die „Zunahme verzahnter intelligenter Maschinen“, unter Umgehung der nationalen wie internationalen Politik, sich gegenseitig exponentiell verstärken. (Vgl. Gore 2014, S.38) – So viel zur letzten Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, derzufolge der Mensch im Mittelpunkt ihrer Politik steht.

Die Infrastruktur, die zu dieser positiven Rückkopplung beiträgt, besteht in den profitsteigernden Instrumenten von Outsourcing und Robosourcing und in den durch die digitalen Kommunikationstechnologien ermöglichten neuen Informations- und Investmentströmen. (Vgl. Gore 2014, S.57) Insbesondere Outsourcing und Robosourcing, deren Effekte auf Arbeit und Konsum Gore gleichsetzt, verändern das „Verhältnis zwischen dem Einsatz von Kapital und dem Einsatz von Arbeitskraft dramatisch“. (Vgl. Gore 2014, S.37) Damit verändern sie aber genau das ökonomische Bedingungsgefüge, an dem der gute alte Marx noch die Mehrwertproduktion festgemacht hatte. Wenn man bedenkt, daß Marx das Kapital als tote Arbeitszeit definiert, diese tote Arbeitszeit aber ehemals lebendige menschliche Arbeitszeit gewesen ist, schafft insbesondere das Robosourcing – die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch „mechanische() Prozesse(), Computerprogramme(), Roboter() aller Größen und Formen sowie bislang noch rudimentäre() Arten künstlicher Intelligenz, die hinsichtlich Effizienz, Nutzen und Einfluss mit jedem Jahr wachsen“ (vgl. Gore 2014, S.36) – mit der menschlichen Arbeitskraft auch das Kapital ab. Und das Kapital hat das bis jetzt einfach nur noch nicht bemerkt. Vielleicht leben wir ja in einer eigentümlichen Zwischenwelt, in der es den Kapitalismus gar nicht mehr gibt, der Finanzkapitalismus das aber zu verschleiern versucht und das Neue, das an seine Stelle treten wird, noch nicht sichtbar ist.

Jedenfalls tragen Outsourcing und Robosourcing gleichermaßen zu einer „Schwächung der Nachfrage“ und zur „Überproduktion“ bei, „da durch die langfristige Verschiebung hin zu einer Wirtschaft, in der es im Verhältnis zur Produktion deutlich weniger Arbeitsplätze gibt, die Einkommen sinken und somit auch Konsum und Nachfrage nachlassen.“ (Vgl. Gore 2014, S.59f.)

Schon das Outsourcing hatte sich für die Bedürfnisorientierung der klassischen Marktwirtschaft nicht mehr interessiert. Durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer wurden die Menschen in den Industrieländern ihrer Arbeit beraubt, durch deren ‚Verkauf‘ sie in die Lage versetzt worden waren, die von ihnen produzierten Produkte zu konsumieren. Mit der Produktion fehlt nun auch die ökonomische Grundlage für den Konsum. Interessanterweise ist aber der Konsum nicht der Verlegung der Produktionsanlagen in die Billiglohnländer gefolgt: „Arbeit und Kapital wurden zwar globalisiert, doch in der globalen Wirtschaft bleibt ein Großteil des Verbrauchs in den westlichen Industrienationen.“ (Gore 2014, S.60)

Mit dem Outsourcing haben sich also schon mal Produktion und Konsum voneinander abgekoppelt. Wenn man sich fragt, wer denn da noch konsumiert in diesen ehemaligen Industrieländern, so spricht Gore immer nur vom konzentrierten „Reichtum“, der wie ein umgekehrter Trichter oder wie eine Windhose mittels Outsourcing und Robosourcing den Boden des materiellen Wohlstands – hier denkt Gore in erster Linie an die Mittelschicht – absaugt, alles Materielle wegfiltert und als herausgefiltertes ‚Geld‘ in einer immer schmaler werdenden Oberschicht konzentriert. Dazu aber im folgenden Post mehr.

Das Robosourcing funktioniert also wie das Outsourcing: es läßt die ‚Arbeit‘ von Maschinen und Computern erledigen anstatt von Menschen. Wir haben es, wie gesagt, mit einer von jedem echten Wert losgelösten Mehrwertbildung zu tun, in der mit dem Herausfallen des Menschen aus dem Produktionsprozeß das „fundamentale Tauschgeschäft“, das menschliche Gesellschaften definiert und mit dem sich altehrwürdige Disziplinen wie BWL und VWL befassen, grundsätzlich in Frage gestellt wird. (Vgl. Gore 2014, S.73) Produktivität und Bedürfnisbefriedigung (vgl. Gore 2014, S.75), Technik und Beschäftigung (vgl. Gore 2014, S.75) sind von nun an entkoppelt und dem klassischen Fortschrittsgedanken, der eng mit der Entwicklung von Technologien und der durch sie ermöglichten „Produktivitätssteigerung“ verbunden ist (vgl. Gore 2014, ‚S.37), fehlt inzwischen die Grundlage: „Für die noch vorhandenen Arbeitsplätze steigt manchmal wegen der zusätzlich für den Umgang mit der neuen Technik notwendigen Qualifikationen auch die Entlohnung. Deshalb interpretieren wir die Gesamtwirkung dieses neuen beschleunigten Robosourcing oft fälschlicherweise als Fortführung des seit Langem vertrauten Schemas nach dem alte Jobs vernichtet und durch neue und bessere Jobs ersetzt werden.“ (Gore 2014, S.38)

Die Fixierung auf die verbesserte Entlohnung der überhaupt noch Beschäftigten trübt den Blick für die Verelendung der Arbeitslosen und für die unaufhaltsame Ausdünnung der Mittelschicht. Die politische Orientierung am Unternehmer als gesellschaftlichem Leistungsträger, der für Arbeitsplätze sorgt, womit auch die Konzentration des „Reichtums“ in einer schmalen Oberschicht von Millionären und Milliardären gerechtfertigt wird, erweist sich angesichts dieser desolaten Situation als bloße Demagogie.

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