„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Noch einmal: Die Natur des Menschen
2. Transhumanismus und Singularität
3. Ansätze zu einer Wissenschaftskritik
4. Fragen nach dem politischen Subjekt
5. Das Mikrobiom

An verschiedenen Stellen hatte Gore schon in den vorangegangenen Kapiteln auf die menschliche Natur hingewiesen. (Vgl. Gore 2014, S.108f. und 187) Ich habe auch schon meine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht, daß Gore den Begriff der Natur nicht näher erläutert. (Vgl. meinen Post vom 21.06.2014) Wer sich Gedanken über die Zukunft des Menschen macht, braucht eine vernünftige systematische Grundlage, d.h. eine Anthropologie, um alle die Fakten und Daten, zu denen er sich äußert, angemessen bewerten zu können.

Insbesondere hatte mich verwundert, daß Gore zufolge das Internet zwar die „Struktur unseres Denkens und auch unserer Beziehungen“ verändern, aber davon unsere „menschliche Natur“ unbeeinflußt bleiben soll. In dem aktuellen Kapitel kommt Gore nun zu einer dazu völlig gegenteiligen Einschätzung: „Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir mit der Digitalisierung des Menschen die Möglichkeit, das Sein im Menschsein zu verändern. Die Annährung der digitalen Revolution und der Revolution in den Biowissenschaften verändert nicht nur, was wir wissen und wie wir miteinander kommunizieren, und nicht nur, was wir tun und wie wir es tun – sie ist auch im Begriff, uns selbst zu verändern.“ (Gore 2014, S.277)

Dieses Hin und Her, das Gore bezüglich einer mal unveränderlichen, mal veränderlichen ‚Natur‘ bzw. ‚Sein‘ des Menschen an den Tag legt, zeigt, daß Gore die systematische Grundlage für die Unmenge an Fakten und Daten, die er in seinem Buch versammelt, fehlt. Dabei wäre eine solche systematische Klärung gerade in einem Kapitel, das der „Neuerfindung von Leben und Tod“ gewidmet ist, besonders dringlich. Aber schauen wir trotzdem, was Gore an anthropologisch relevanten Daten zu bieten hat.

Wenn von der ‚Natur‘ die Rede ist, dann sind damit immer wieder sehr unterschiedliche Inhalte verbunden. Zum einen verbindet sich damit der Gegensatz von Natur und Kultur bzw. Technik, zum anderen ist damit die Frage nach dem Wesen des Menschen verknüpft. Es gibt noch andere Bedeutungsnuancen; aber das sind die wichtigsten. Die Frage nach dem Wesen des Menschen richtet sich wiederum entweder auf ein Sein bzw. auf eine Identität oder auf eine Differenz. Die Differenz besteht entweder in der zum Tier oder in der zur Maschine.

Auf die Differenzen zum Tier und zur Maschine verweist Gore, wenn er die wissenschaftliche Tendenz zur Aufhebung der Artgrenzen thematisiert: „Wir sind dabei, seit Menschengedenken geltende Grenzen zu überschreiten: die Grenzen, die zwischen verschiedenen Arten verlaufen, die Schranke zwischen Mensch und Tier und die Unterscheidung zwischen lebenden Wesen und vom Menschen erschaffenen Maschinen.“ (Gore 2014, S.277)

Auf der Basis einer umfassenden Digitalisierung, der die Differenz zwischen Leben und Tod entgeht (vgl. Gore 2014, S.332), entsteht parallel zur „Welt AG“ so etwas wie eine „Leben AG“: „So wie die Welt AG aus der Vernetzung vieler Milliarden Computer und intelligenter Geräte entstanden ist, die quer über alle Grenzen hinweg problemlos miteinander kommunizieren, entsteht die Leben AG aus der Fähigkeit, quer über alle Artgrenzen hinweg den Fluss genetischer Informationen zwischen lebenden Zellen miteinander zu verbinden.“ (Gore 2014, S.284f.) – Wir haben es gewissermaßen analog zum Internet der Dinge mit einem Internet des Lebens zu tun. Wie man da noch an der Redeweise von einer Natur bzw. einem Sein des Menschen festhalten will, ist in der Tat kaum noch zu begründen.

Interessant ist deshalb ein Wortspiel von Gore, bei dem ich nicht entscheiden will, ob er es bewußt so ausformuliert oder ob es ihm unabsichtlich unterläuft. Er spricht von einer „Hybris“ der menschlichen Natur: „Die Hybris ist Teil der menschlichen Natur und in ihrem Kern gehört dazu das hochmütige und übersteigerte Selbstvertrauen darauf, die Folgen von Machtausübung in einem Feld (des Wissens und seiner Anwendung – DZ) ganz und gar erfassen zu können – auch wenn es mit einiger Wahrscheinlichkeit Komplexitäten birgt, welche den Horizont eines jeden Menschen nach wie vor übersteigen.“ (Vgl. Gore 2014, S.293)

Zum Wortfeld der ‚Hybris‘ gehören auch die ‚Hybride‘ aus Mensch und Tier und aus Mensch und Maschine, die der Mensch beim Mißachten und Überschreiten der Grenzen produziert. Ob Gore nun an diese Verbindung von Hybris und Hybrid gedacht hat oder nicht: indem er die Hybris zum Inbegriff der menschlichen Natur erklärt, bewegt er sich auf dem Niveau der Plessnerschen Exzentrizität. Die ‚Anmaßung‘ der Hybris stellt den Menschen aus dem natürlichen Maß der Dinge heraus. Sie stellt ihn neben sich und ‚überhebt‘ ihn, – hebt ihn über die Welt. Schon Rousseau hatte davon gewußt, daß eine Folge dieser ‚Hybris‘ der ständige Zwang des Menschen ist, sich selbst zu optimieren. (Vgl. hierzu auch Gore 2014, S.277) Rousseau nannte das „perfectibilité“. Wilhelm von Humboldt sprach in diesem Zusammenhang von „Bildung“.

Mit dieser Perfektibilität hätten wir schon mal einen guten Kandidaten für das, was man die menschliche Natur nennen könnte, eine Natur, die nicht festliegt, sondern die darin besteht, sich immer wieder allererst verwirklichen zu müssen. – Das wirft aber, was die Differenz zu den Maschinen betrifft, ein neues Problem auf. Darauf komme ich im nächsten Post zu sprechen.

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Sonntag, 29. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Entweder Nachhaltigkeit oder Wachstum!
2. Grenzen des Glücks
3. „... keine Kultur, die bei klarem Verstand ist ...“

Die Begrenztheit der Goreschen Anthropologie zeigt sich nicht nur in seinen Aussagen zur Natur des Menschen (vgl. meinen Post vom 24.06.2014), sondern auch in seiner Naivität gegenüber den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung. So kommt es immer wieder zu einer fraglosen Übernahme neurowissenschaftlicher ‚Erkenntnisse‘: „Im kollektiven Versagen bei der Einschätzung der äußerst wahrscheinlichen Konsequenzen von Tatsachen, die sich nach leicht messbaren Trends entwickeln, zeigt sich auch die wohlbekannte menschliche Schwäche, über die Zukunft nachzudenken. Hirnforscher und Verhaltensökonomen haben gezeigt, dass es bei uns zu einer Art von Denkstörung kommt, wenn wir in der Jetztzeit eine Entscheidung treffen sollen, für die eine Einschätzung künftiger Entwicklungen erforderlich ist.“ (Gore 2014, S.207)

Bei ‚uns‘ kommt es also zu einer Denkstörung. Was bitte heißt „bei uns“? Im nächsten Kapitel wird Gore immerhin die Frage stellen, wer denn das „wir“ ist, das in der Verantwortung steht, sich den Herausforderungen unserer Gegenwart im Dienste einer menschlichen Zukunft zu stellen. (Vgl. Gore 2014, S.283, 303) Aber angesichts der respekteinflößenden Erkenntnisse der „Hirnforscher“ stellt sich bei Gore eine „Denkstörung“ ein, und er fragt nicht mehr nach, wer denn dieses „uns“ sei, das sich da im Gehirn als Denkstörung manifestiert.

Dabei ist es so einfach: Wir haben es hier mit einer Aussage über die gesamte Kultur zu tun, so daß die von den Hirnforschern erhobenen Daten nicht isolierte Hirnprozesse messen, sondern ein kulturelles Phänomen! Und ich denke, daß es offensichtlich ist, daß die betreffenden Hirnprozesse so wenig ein biologisches Korrelat eines kulturelles Phänomens bilden wie sie ein individuell gestörtes Denken repräsentieren. Es ist vielmehr die umfassende Plastizität des Gehirns, das sich geschmeidig individuellen wie kulturellen Prozessen anpaßt und sie widerspiegelt. Für das, was Gore als „menschliche Schwäche“ bezeichnet, ist das Gehirn jedenfalls nicht verantwortlich. Diese Schwäche ist auf nichts anderes zurückzuführen als auf die von Kant beschriebene selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen, die darin besteht, aus welchen Motiven auch immer, nicht selber denken zu wollen.

Und diese Unmündigkeit ist natürlich eben auch kulturell bzw. lebensweltlich bedingt, weshalb es richtig ist, von einem „kulturellen Versagen“ zu sprechen. Die von Gore verwendete Formulierung zur „Weisheit der Menge“ beinhaltet ja durchaus die Einsicht, daß z.B. funktionierende Demokratien besonders geeignet dafür sind, diese Weisheit wirksam werden zu lassen. (Vgl. meinen Post vom 25.06.2014) Die Grundvoraussetzung dieser Weisheit besteht nämlich in einem ungestörten individuellen Denken, dessen Fundament das individuelle Gewissen ist und nicht das in moralischer Hinsicht wirklich ‚unschuldige‘ Gehirn.

Wenn also zu Recht von einem „kollektiven Versagen“ gesprochen werden kann, dann spielt sich das auf dieser Ebene eines denkfreundlichen oder denkfeindlichen Milieus ab. Als warnendes Zeichen mag hier die Osterinsel dienen. Hier haben wir es mit einer immerhin 700jährigen Kultur zu tun, die sich also insgesamt als erfolgreicher als unsere bislang vielleicht 300jährige Industriekultur erwiesen hat. Dennoch war sie, als die Osterinsel entdeckt wurde, komplett ausgestorben. Die einst dicht bewaldete Insel hatte sich in eine öde Graslandschaft verwandelt, weil die ursprünglichen Bewohner alle Bäume gefällt hatten und mit dem letzten Baum unwiderruflich auch ihre Lebensgrundlage. – Man fragt sich, was für eine „Denkstörung“ die Hirnforscher wohl bei diesen Leuten entdeckt hätten.

Wenn ‚wir‘ ‚uns‘ also bei unserem fortschreitenden Projekt, „der ohnehin bereits übersättigten Atmosphäre des Planeten so viel zusätzliches CO2 hinzu(zu)fügen“ – nämlich durch Fracking und durch Ausbeutung der letzten Ölreserven in der Tiefsee und der Arktis –, als „keine Kultur“ erweisen, „die bei klarem Verstand ist“ (vgl. Gore 2014, S.203f.), dann sollten wir bitteschön die Hirnforschung dabei rauslassen. Unsere mangelnde Zukunftsfähigkeit ist jedenfalls nicht in einer irgendwie mangelhaften Plastizität des Gehirns begründet.

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Samstag, 28. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Entweder Nachhaltigkeit oder Wachstum!
2. Grenzen des Glücks
3. „... keine Kultur, die bei klarem Verstand ist ...“

Al Gore verbindet den modernen Massenkonsum und das damit einhergehende Massenmarketing auf eine interessante Weise mit der Psychoanalyse, die etwa zeitgleich mit der Fließbandproduktion zu Beginn des 20. Jhdts. entwickelt wurde. (Vgl. Gore 2014, S.214ff.) Die automatisierte Massenproduktion brauchte auf der Konsumseite eine Art Kollektivverbraucher, der nichts mehr mit den individuellen Bedürfnissen eines individuellen Verbrauchers gemein hatte. Als Freud 1909 an der Clark University in den USA eine Reihe von Vorlesungen über die Psychoanalyse hielt (vgl. Gore 2014, S.215), hatte man diesen Kollektivverbraucher gefunden: das im Unterbewußtsein angesiedelte unstillbare Begehren einer Libido, der der Weg über die unmittelbare Befriedigung durch Erziehung und Kultur verschlossen war.

Der Geschäftspartner von Sigmund Freuds Neffen Edward Bernays, dem „Vater der Public Relations“, erklärte: „Wir müssen Amerika von einer Bedürfniskultur in eine Kultur des Begehrens umwandeln. ... Die Sehnsüchte der Menschen müssen geweckt werden, sie müssen sich neue Dinge wünschen, schon bevor die alten verbraucht sind. Wir müssen eine neue Einstellung formen. Die Wünsche des Menschen müssen seine Bedürfnisse übertreffen.“ (Gore 2014, S.216)

Mit den 1920er Jahren beginnt Gore zufolge die eigentliche, uns heute so viele Probleme bereitende „Konsumkultur“. (Vgl. Gore 2014, 214) Zuvor hatten die neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse wie so vieles andere auch noch einen kleinen Umweg über den Ersten Weltkrieg genommen, wo die Vereinigten Staaten psychologische Begriffe wie das Unbewußte und die Übertragung für „Techniken der Massenbeeinflussung“ nutzten, „die der Mobilisierung der Heimatfront dienten“: „Präsident Woodrow Wilson richtete ein Komitee zur Information der Öffentlichkeit (Committee on Public Information) ein(). ...“ – Hervorhebung von mir: ein klassischer Fall von Orwellschem ‚Neusprech‘! – „... Sigmund Freuds Neffe Edward Bernays gehörte diesem Komitee ebenso an wie der nur zwei Jahre ältere Walter Lippmann, der auf Bernays einen fast so großen Einfluss ausübte wie dessen Onkel Sigmund. Nach dem Krieg tat Bernays sein Erstaunen über die Wirkungsmacht der Massenpropaganda kund und verfolgte jetzt das Ziel, diese Techniken für das Massenmarketing zu nutzen.()“ (Gore 2014, S.215)

Mit den neuen Methoden des Massenmarketings wurde das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, wie es die klassischen Märkte organisierten, umgekehrt: „Bernays revolutionierte den Bereich der Marktforschung, indem er die damals geläufige Technik verwarf, bei der die Konsumenten befragt wurden, was ihnen an verschiedenen Produkten gefiel oder missfiel.“ (Gore 2014, S.216) – Anstatt also wie bisher die Produktion an den Bedürfnissen des Verbrauchers zu orientieren, sollten dessen Bedürfnisse an der Produktion orientiert werden; ja, sie sollten sogar regelrecht selbst produziert werden. Die Endlichkeit individueller Bedürfnisbefriedigung wurde durch die Unendlichkeit kollektiver Wunschträume ersetzt.

Bernays zeigte sich übrigens entsetzt, als er nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr, „dass Joseph Goebbels sich bei der Organisation von Hitlers Völkermord intensiv von seinem, Bernays’, Buch Propaganda inspirieren ließ.“ (Vgl. Gore 2014, S.218f.)

Die Konsumkultur ist mit einem unerfüllbaren Glücksversprechen verknüpft, auf das sich das neu entfachte Begehren richtet und das nicht mehr der restriktiven Sexualmoralvorstellungen zu Beginn des 20. Jhdts. bedarf, um die ge- und verbrauchsorientierten Individuen in müllproduzierende Kollektivverbraucher zu verwandeln, – täglich mehr Müll als das Gesamtgewicht aller sieben Milliarden Menschen (vgl. Gore 2014, S.221)! Das Paradox dieses Glücksversprechens ist nämlich, daß das Glücksempfinden des Menschen eigentlich begrenzt ist. Gore verweist auf die „Forschung zu den Quellen des Glücks“: „Sind die Grundbedürfnisse erst einmal abgedeckt, sorgt ein höheres Einkommen nur bis zu einem Punkt für mehr Glück, ab dem eine weitere Steigerung des Konsums das Gefühl des Wohlbefindens nicht mehr stärkt.()“ (Gore 2014, S.199)

Wahrscheinlich ist gerade diese Begrenztheit des Glücksempfindens der Grund dafür, daß sich das Versprechen eines ständig wachsenden Wohlstands in ein unerfüllbares Begehren verwandelt. So wird der ständig wachsende Wohlstand zur materiellen Basis eines stabilen persönlichen Unglücks, das den Kollektivverbraucher zu einer Suche nach immer größeren Kicks verführt, wie ein Junkie, der sich seinen Rausch nur noch durch eine Steigerung der täglichen Dosis erkaufen kann.

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Freitag, 27. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Entweder Nachhaltigkeit oder Wachstum!
2. Grenzen des Glücks
3. „... keine Kultur, die bei klarem Verstand ist ...“

In dem Kapitel „Auswüchse“ verwendet Gore den Begriff der Nachhaltigkeit endlich eindeutig im ökologischen Sinne. Ich weiß nicht, ob es am englischen Wort ‚sustainable‘ liegt, das vielleicht gleichzeitig ökologisch auf den Erhalt von Gleichgewichtszuständen und neutral auf alle möglichen Prozesse angewendet werden kann, möglicherweise sogar auf ‚nachhaltige‘ Auswüchse. Aber diese verwirrende Doppeldeutigkeit sollte vermieden werden, weil sie für politische Demagogie mißbraucht werden kann. Wenn dann von einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum die Rede ist, wie in der Agenda 21, assoziiert man damit unweigerlich so etwas wie eine ökologisch vertretbare, unbegrenzte Vermehrung des Wohlstands.

Auch das Wort ‚Auswüchse‘ hat eine lebensweltliche Konnotation: es suggeriert, daß unsere Lebensweise so weit ganz in Ordnung ist und wir sie im Grunde gar nicht verändern müssen, wie es in Sloterdijks paradox betiteltem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ (2009) verkündet wird. (Vgl. meinen Post vom 30.09.2011)

In dem aktuellen Kapitel läßt Al Gore jedenfalls in aller wünschenswerten Klarheit keinen Zweifel daran, daß wir einen „peak everything“, ein „Förder- und Produktionsmaximum in allen Bereichen“, erreicht haben (vgl. Gore 2014, S.201), und uns vor einem „Wendepunkt im planetaren Ausmaß“ befinden (vgl. Gore 2014, S.199): „Das rasche Wachstum der menschlichen Zivilisation – es wachsen die Zahl der Menschen, die Macht der Technologie, der Umfang der Weltwirtschaft – kollidiert mit der näher rückenden Erschöpfung wichtiger natürlicher Ressourcen, von denen Milliarden von Menschenleben abhängen, zum Beispiel vom Mutterboden und vom Süßwasser. Außerdem gefährdet es ernsthaft den Bestand wichtiger Ökosysteme des Planeten. Aber ‚Wachstum‘ auf die ganz besondere und unsinnige Art, in der wir es definieren, bleibt nahezu ausnahmslos das wichtigste und vorrangige Ziel in der nationalen und weltweiten Wirtschaftspolitik und in fast allen Unternehmen.“ (Gore 2014, S.197)

Die weltweite, täglich neu anfallende „Abfallmenge“ ist mittlerweile größer als das „Gesamtkörpergewicht“ aller „sieben Milliarden Menschen“. (Vgl. Gore 2014, S.221) Allein diese Zahl sagt, glaube ich, mehr aus über die ganze Absurdität unserer Lebensweise, als all die Statistiken und Daten, die Gore darüber hinaus noch in seinem Kapitel versammelt. Leider scheint es so zu sein, daß man diese Absurdität als dauerhaft und ‚nachhaltig‘ bezeichnen kann. Das Bruttoinlandsprodukt, mit dem der ‚Wohlstand‘ einer Nation gemessen wird, trägt zu dieser Sichtweise jedenfalls bei. (Vgl. Gore 2014, S.197f., 223f., 233, 251f.)

Der erklärte Optimist Al Gore kommt in diesem Kapitel ausführlich auf die verschiedenen Faktoren zu sprechen, die eine lebenswerte Zukunft des Menschen auf seinem Planeten äußerst zweifelhaft machen: auf die „Erosion von fruchtbarem Mutterboden“, auf den „Verlust der Bodenfruchtbarkeit“, auf die „Desertifikation von Grasland“, auf die „Nutzungskonkurrenz beim in der Landwirtschaft benötigten Wasser durch Städte und Industriebetriebe“, auf den „verlangsamte(n) Produktivitätszuwachs in der Landwirtschaft“, auf „zunehmende Resistenzen bei Schädlingen“, auf den „Verlust“ an „genetischer Vielfalt der Pflanzenwelt“, auf die „Klimaerwärmung“, auf das „Bevölkerungswachstum“, auf die „Umstellung“ „vom Anbau von Nahrungspflanzen auf Pflanzen, aus denen sich Biotreibstoff gewinnen lässt“ und auf die „Zersiedlung der Landschaft“. (Vgl. Gore 2014, S.205f.)

Und Al Gore verweist auf den mit diesem Ressourcenverbrauch einhergehenden Kollaps der Zivilisation: „Wir wissen heute schon, dass eine extreme Knappheit von Nahrungsmitteln, fruchtbarem Boden und Süßwasser in Ländern mit wachsender Bevölkerung zum völligen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung und zu einer starken Zunahme der Gewalt führen kann.“ (Gore 2014, S.206) – Zu ergänzen bleibt da nur, daß das alles schon längst begonnen hat und Europa seine Grenzen auf dem Mittelmeer gegen die andrängenden Flüchtlingsboote verteidigt.

Das Wachstumsdenken, das hinter allen diesen deprimierenden Zahlen steckt, die Gore penibel auflistet, ist auf ein ‚wissenschaftliches‘ Instrument zurückzuführen, das der Hinhaltetaktik der Politik als Argumentationshilfe dient, wenn sie Wahl für Wahl und Legislaturperiode für Legislaturperiode nichts anderes zu bieten hat, als die ewig gleiche Wachstumsrhetorik: das Bruttoinlandsprodukt. Sein Erfinder, Simon Kuznets, hatte schon 1937 darauf hingewiesen, daß es sich „um eine potenziell gefährliche übermäßige Vereinfachung (handele), die sich als irreführend erweisen könne ...“ (Vgl. Gore 2014, S.197) – Al Gore ergänzt, daß diese „gefährliche Illusion, vor der Kuznets einst warnte, ... heute im Mittelpunkt des Versagens einer Welt (steht), die die doppelte Gefahr einer nicht nachhaltigen Erschöpfung von Mutterboden und Grundwasser nicht erkennt.“ (Vgl. Gore 2014, S.251f.)

Mutterboden und Grundwasser sind nämlich nicht Bestandteil des Wohlstands, den das Bruttoinlandsprodukt mißt. Die Zerstörung des Mutterbodens und die Entnahme von nicht erneuerbarem Grundwasser wird nicht als „Kapitalentnahme“ (Gore 2014, S.249) verbucht. Dafür wird aber die Beseitigung der Umweltverschmutzung als positiver Ertrag bilanziert. Wie Gore einen Wirtschaftswissenschaftler zitiert: „Das ist asymmetrische Bilanzierung.“ (Gore 2014, 224) Angesichts der aufmerksamkeitslenkenden Funktion des Bruttoinlandsprodukts – nirgendwo wird mehr blind und gedankenlos dahergeredet als in den Wahlkämpfen; Schäuble ist ja so stolz auf seinen ersten ausgeglichenen Haushalt seit wer weiß wie vielen Jahrzehnten! –, kann man nur sagen: „... ein klassischer Fall von ‚aus den Augen, aus dem Sinn‘“. (Gore 2014, S.253) – Was im Bruttoinlandsprodukt nicht vorkommt, wie eben der Verlust an Mutterboden und Trinkwasser, kommt auch in unserem Denken nicht vor und wirkt sich also auch nicht auf unsere Lebensweise aus.

Das Wort ‚Kapitalentnahme‘ könnte übrigens noch einmal eine Umdeutung des Wortes ‚Kapitalismus‘ veranlassen: nicht das Geld ist das eigentliche Kapital, um das es in einer postkapitalistischen Ära geht, sondern die Ressourcen unseres Planeten. Ich weiß allerdings nicht, ob es hilfreich ist, die Naturressourcen in Geld umzurechnen, wie das viele Umweltorganisationen versuchen. ‚Geld‘ will sich vermehren, endlos und grenzenlos. Das ist der Kern des Kapitalismus. Naturressourcen aber vermehren sich nicht. Basta!

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Donnerstag, 26. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Al Gores Darstellungen historischer Prozesse und seine geschichtlichen Herleitungen aktueller politischer und kultureller Konstellationen sind von einer bemerkenswerten Schlichtheit und beinhalten nicht selten auch allzu große Verkürzungen komplexerer historischer Zusammenhänge. Dabei gefallen mir aber insbesondere seine Darstellungen zur ‚Buchdruckrevolution‘ (vgl. Gore 2014, S.179) und seine Herleitung des Massenkonsums und des damit verbundenen „Massenmarketings“ zu Beginn der 1920er Jahre aus der Verbindung von Fließbandproduktion und Freudscher Psychoanalyse (vgl. Gore 2014, S.214ff.; vgl. auch meinen Post zu den Grenzen des Glücks vom 18.06.2014).

Ärgerlich finde ich so eindeutig parteiische Geschichtsklitterungen, in denen die USA als eine politische Organisation dargestellt werden, die seit ihrer Gründung andere Nationen inspirierte und weltweit für die Verbreitung und Popularisierung der „Ideologie des demokratischen Kapitalismus“ (Gore 2014, S.142) eingetreten ist. Das geschah, so Gore, „seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in drei Wellenbewegungen über die Welt“. (Vgl. Gore 2014, S.143) Gore zählt insgesamt „29 Demokratien“, die aus der Inspiration durch die Gründung der USA hervorgegangen sind. (Vgl. Gore 2014, S.143f.) Simón Bolivar trug, so Al Gore, bei den „demokratischen Revolutionen in Südamerika“ „ein Bild George Washingtons in der Brusttasche bei sich.“ (Vgl. Gore 2014, S.144)

Eine zweite Welle der Demokratisierung setzt Gore mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an, aus dem die USA siegreich hervorgingen, so daß ihr politisches Modell in der Folge für viele moderne Nationen besonders attraktiv wurde. Eine dritte Welle breitete sich Gore zufolge „Ende der 1970-er Jahre“ aus „und beschleunigte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989.“ (Vgl. Gore 2014, S.144) Gore malt insbesondere die zweite und die dritte Welle des demokratischen Einflusses der USA auf die Welt in leuchtenden Farben: „Als die Länder Westeuropas ihren Kolonien in Übersee nach und nach die Unabhängigkeit gewährten und sich aus den Einflusssphären zurückzogen, die sie in der Zeit des Imperialismus aufgebaut hatten, füllten die Vereinigten Staaten das dadurch entstandene Machtvakuum teilweise wieder aus. Sie erweiterten ihre Hilfeleistungen und nahmen wirtschaftliche, politische sowie militärische Beziehungen zu vielen der eben erst unabhängig gewordenen Nationen auf.“ (Ebenda)

Dabei führt Gore den Vietnamkrieg auf eine „tragische() Fehleinschätzung“ zurück, und die Hinterhofpolitik der USA in Lateinamerika, die meines Wissens mindestens seit den 1960er Jahren keine wirkliche Demokratie in irgendeinem lateinamerikanischen Land zugelassen hatte und praktisch ausnahmslos nur brutale, korrupte und menschenfeindliche Despoten unterstützte, verniedlicht Gore als „ungeschickte() Militärinterventionen“. (Vgl. Gore 2014, S.144)

Damit will ich keineswegs die positive Rolle der USA in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg schmälern. Aber Gores patriotische Neigung, die außenpolitischen Aktivitäten der USA zu idealisieren, ist so nicht hinnehmbar.

Die ebenfalls verkürzte, aber durchaus lesenswerte Darstellung der menschlichen Kulturgeschichte von den „Steintafeln über Papyrus und Pergament bis hin zu Papier, von Piktogrammen über Hieroglyphen bis hin zum phonetischen Alphabet“ (vgl. Gore 2014, S.87) gefällt mir hingegen ganz gut. Dabei beschreibt Gore, wie gesagt auf extrem verkürzende Art und Weise, das phonetische Alphabet als Vorläufer binärer Programmiersprachen des Computerzeitalters: „Verglichen mit den Hieroglyphen, den Piktogrammen und der Keilschrift verbirgt sich in den abstrakten Formen des griechischen Alphabets (wie denen aller modernen westlichen Alphabete) nicht mehr inhärente Bedeutung als in den Einsen und Nullen des Dualsystems.“ (Gore 2014, S.87)

Dabei gefällt mir insbesondere, daß Gore von einem „Gestaltsinn“ spricht, der zu den „immer neuen Kombinationen“ aus Buchstaben bzw. aus Nullen und Einsen hinzukommen muß, um ihnen Bedeutung zu verleihen. (Vgl. Gore 2014, S.87) Er hebt also das qualitative Merkmal des menschlichen Bewußtseins hervor, das das sinnverstehende Lesen von der maschinellen Informationsverarbeitung unterscheidet.

Die Erfindung des Buchdrucks und die mit diesem technischen Medium einhergehende Alphabetisierung der Bevölkerung führte Gore zufolge zu einem ersten virtuellen Begegnungsraum der lesenden Menschheit: „Ein virtueller ‚Marktplatz‘ entstand, auf dem Ideen Einzelner ausgetauscht wurden. Waren die Agora im alten Athen und das Forum in der Römischen Republik noch physische Orte, an denen ein Austausch von Ideen stattfand, so ahmte das größere virtuelle Forum, das durch die Druckerpresse entstand, dennoch zentrale Merkmale seiner antiken Vorgänger nach.“ (Gore 2014, S.89) – Der Buchdruck als Erbe von Agora und Forum und als Vorläufer des Internets: diese Parallelen haben etwas im positiven Sinne Suggestives.

Aus der Buchdruckrevolution gingen Gore zufolge die modernen repräsentativen Demokratien hervor. (Vgl. Gore 2014, S.91) Sie führte zu einer Vereinheitlichung der Nationalsprachen, zu einem allen lesenden Menschen zugänglichen, freien Informationsfluß und so zu einem gemeinsamen nationalen Bewußtsein mit einem Anspruch auf politische Partizipation: „Die Selbstverwaltung im Rahmen einer repräsentativen Demokratie war ebenfalls eine Folge dieses neuen öffentlichen Marktplatzes, der im Informations-Ökosystem der Druckerpresse entstanden war. Individuen, die frei lesen und mit anderen kommunizieren konnten, waren in der Lage, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und ihr Schicksal selbst zu gestalten.“ (Gore 2014, S.90)

Diese in der Buchdruckrevolution sich bündelnde, zu digitalen Kommunikationsmedien hinführende kulturelle Entwicklungslinie ist auf jeden Fall einleuchtender als die durchweg positive politische Rolle der USA bei der weltweiten Verbreitung demokratischer Systeme.

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Mittwoch, 25. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Inzwischen verstehe ich besser, wie Al Gore einige zentrale Begriffe verwendet, also etwa den der ‚Nachhaltigkeit‘ oder den des ‚demokratischen Kapitalismus‘. Wenn Gore vom ‚nachhaltigen‘ Wirtschaftswachstum spricht, ist nicht etwa ein Wirtschaftswachstum gemeint, das sich im Gleichgewicht mit den Ressourcen unseres Planeten befindet. Das wäre ein begriffliches Monstrum. (Vgl. meinen Post vom 15.06.2014)

Was eigentlich mit einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum gemeint ist, wird an einer Stelle deutlich, wo es um die „Nachhaltigkeit von Chinas gegenwärtigem wirtschaftlichem Aufstieg“ geht. (Vgl. Gore 2014, S.147) Auch hier ist nicht Chinas Umgang mit seinen Ressourcen gemeint. Tatsächlich ist mit ‚Nachhaltigkeit‘ vor allem ‚Stabilität‘ gemeint, also die Frage, wie anhaltend und stabil das chinesische Wirtschaftswachstum ist. Letztlich wird also das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ überhaupt nicht im ökologischen Sinne gebraucht; es hat hier überhaupt keine ökologische Bedeutung und es handelt sich deshalb dabei auch um ein ganz anderes Wort. – Erst in dem Kapitel zu den ‚Auswüchsen‘ des Wirtschaftswachstums wird dann das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ im ursprünglichen ökologischen Sinne verwendet werden. (Vgl. Gore 2014, S.197-272)

Auch der Begriff ‚nachhaltiger Kapitalismus‘ (vgl. meinen Post vom 20.06.2014) hat bei Gore eine besondere Bedeutung. Hier geht es weniger um einen ‚stabilen‘ Kapitalismus, als vielmehr um eine „Ideologie des demokratischen Kapitalismus“. (Vgl. Gore 2014, S.142) Gore verwendet den Begriff der ‚Ideologie‘ ganz wertfrei; gemeint ist eher so etwas wie eine ‚Philosophie‘, die Gore mit der Vorstellung von einer „Weisheit der Menge“ verbindet. (Vgl. Gore 2014, S.143) Dazu gehört auch ein nicht-ökonomischer Begriff von der „Mittelschicht“, die, anders als ich es bisher verstanden habe (vgl. meinen Post vom 20.06.2014), bei Gore vor allem eine ethische Bedeutung hat. Gore spricht der Mittelschicht, insbesondere der global vernetzten, trotz ihrer derzeitigen Ausdünnung in den ‚Industrienationen‘ weltweit wachsenden Mittelschicht, ein ethisches Gesamtbewußtsein zu. Er zitiert aus einem Bericht des European Strategy and Policy Analysis System (ESPAS): „Dieses Bewusstsein entwickelt bereits eine weltbürgerliche Tagesordnung, die grundlegende Freiheiten ebenso hervorhebt wie wirtschaftliche und soziale Rechte und – in zunehmendem Umfang – Umweltfragen.“ (Gore 2014, S.192)

Dabei beruft sich Gore auf die geschichtlichen Erfahrungen mit einer bürgerlichen Mittelschicht, die sich immer schon mehr um ethische Fragen gekümmert habe als die ‚Unterschicht‘. (Vgl. Gore 2014, S.191f.) Als ein besonders wichtiges Moment für ein solches gesamtplanetarisches Engagement der Mittelschicht nennt Gore das individuelle Gewissen, das die von ihm geleiteten Menschen dazu drängt, „Exzesse“ des Kapitalismus „durch die Einführung von Standards und Grundsätzen“ einzudämmen und für die Respektierung „menschliche(r) Werte“ einzutreten. (Vgl. Gore 2014, S.193)

Nimmt man alles zusammen, was Gore zur „Weisheit der Menge“ schreibt, als einer von „freiem Informationsfluss“ gespeisten, „versammelten Weisheit“, die wiederum wie eine „unsichtbare Hand“ Angebot und Nachfrage reguliert (vgl. Gore 2014, S.151) und die vor der Manipulation durch mächtige Sonderinteressen wie den Wirtschaftsunternehmen geschützt werden muß, so erinnert das sehr an das, was die Komplexitätsforschung zur ‚Schwarmintelligenz‘ über die Intelligenz von Gruppen herausgefunden hat. (Vgl. meinen Post vom 04.08.2011) Len Fischer (2010) differenziert zwischen „Gruppendenke“ und echter „Gruppenintelligenz“. Gruppendenke entsteht immer dort, wo der Gruppenzwang das individuelle Urteil beeinflußt. Wenn ein Meinungsführer die anderen Gruppenmitglieder dazu überredet, sich seiner Meinung anzuschließen, trifft die Gruppe immer schlechte Entscheidungen, also Entscheidungen, die ihr oder anderen schaden. Das ist natürlich auch dort der Fall, wo Wirtschaftsunternehmer Politiker mithilfe von Geldspenden kaufen und wo die Wähler durch ebenfalls gekaufte Fernsehsendungen daran gehindert werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Gruppenintelligenz hingegen entsteht dort, wo alle Fakten und Informationen frei diskutiert werden können und die individuelle Meinung respektiert wird. Von solchen Gruppen getroffene Entscheidungen sind meistens richtiger, ‚intelligenter‘, als individuell getroffene, isolierte Entscheidungen. Die Basis der Gruppenintelligenz ist also das individuelle Urteil bzw. das ‚Gewissen‘, von dem Gore spricht. Dieses individuelle Gewissen wiederum kann sein Potential nur in sozialen Situationen, in ‚Gruppen‘, wirklich voll entfalten.

Gore will anscheinend mit seiner „Ideologie des demokratischen Kapitalismus“ auf so eine soziale Intelligenz hinaus, und da habe ich letztlich nichts gegen einzuwenden, auch wenn ich mich frage, was das Wort „Kapitalismus“ in diesem Zusammenhang zu suchen hat.

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Dienstag, 24. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Wenn Al Gore den Unterschied zwischen Unternehmenspersonen und Individuen an der Sterblichkeit der Individuen festmacht (vgl. Gore 2014, S.161), so steckt darin der Ansatz zu einer Anthropologie, in der das Verhältnis des Individuums zu seiner Sterblichkeit thematisiert wird. Ein Individuum, das um seine Sterblichkeit weiß, ist gezwungen, sich dazu zu verhalten, und das heißt: seinem Leben einen Sinn zugeben. Damit aber befinden wir uns auf der Ebene des Plessnerschen Körperleibs. Gore verknüpft die Sinnfrage mit dem Generationenverhältnis. Sterbliche Individuen, so Gore, machen sich „Sorgen um die Zukunftsaussichten“ ihrer Kinder und Enkel.

Dennoch gelingt es Gore nicht, dieses Niveau zu halten. Schon bei der Bestimmung des Potentials, den der Werkzeuggebrauch für die menschliche Natur hat, fällt ihm nicht mehr ein, als daß alle Technik irgendwie eine Schaufel und deshalb ethisch neutral sei. (Vgl. Gore 2014, S.74; vgl. auch meinen Post vom 21.06.2014) Auch in dem aktuellen Kapitel, mit dem ich mich hier befasse, beschränkt sich Gore darauf, sich pauschal auf die Forschung von „Neurobiologen und Psychologen“ zu berufen, die, wie er behauptet, erwiesen habe, daß die in allen Ländern verbreitete politische Unterscheidung zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘ zum Teil „in der Natur des Menschen angelegt“, also genetisch bedingt sei: „Die aktuelle Forschung zeigt, dass diese Unterschiede teilweise auch genetisch bedingt sein könnten, wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber vielleicht, dass die Unterschiede von sozialen Feedbackschleifen verstärkt werden.() Das Problem der Ungleichheit liegt auch auf der ideologischen Verwerfungslinie zwischen Demokratie und Kapitalismus.“ (Gore 2014, S.171)

So vorsichtig sich Gore auch ausdrückt und sogar eigens nochmal auf „soziale Feedbackschleifen“, also auf eine biologisch-soziale Wechselbedingtheit dieser politischen Orientierungen hinweist, bleibt letztendlich doch die Aussage, daß die politischen Differenzen zwischen Republikanern und Demokraten in den USA irgendwie auch genetisch bedingt sind. Solche Wischiwaschi-Aussagen mögen alles mögliche sein, – um ernsthafte politische Analysen handelt es sich dabei jedenfalls nicht. Bei der Politik haben wir es mit einem menschlichen Verhalten zu tun, das auf gesellschaftlicher Ebene das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen und zu seinen Nachkommen zu klären und zu organisieren versucht. Es geht um Sinngebung und nicht um Genetik.

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Montag, 23. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Christina von Braun spricht davon, daß das Geld eines „starken Ichs“ bedarf, „um die ihm eigene Dynamik zu realisieren“. (Vgl. Braun 2012, S.440; vgl. auch meinen Post vom 22.12.2012) Das muß man aber, wie Al Gore zeigt, noch einmal differenzieren. Für das Geld ist ‚Ich‘ nicht gleich ‚Ich‘. Das wußten anscheinend schon die „Gründerväter“ der Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Gore immer wieder zurückkommt. Zunächst kennzeichnet die Gründerväter ein ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber der Konzentration von Macht: „Wenn bei einer kleinen Gruppe von Personen zu viel Macht konzentriert ist, korrumpiert das deren Urteilskraft wie auch ihre Menschlichkeit. ... Also wurde die Macht in konkurrierende Bereiche aufgeteilt, die sich gegenseitig überprüfen und ausbalancieren sollten. Das Ziel war ein sicheres Gleichgewicht, in dessen Rahmen die Einzelpersonen von ihrer Rede- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen und ihren Glauben ausüben konnten.“ (Gore 2014, S.143)

Das politische System der USA ist deshalb durch ein ausgefeiltes check and balance bestimmt, das eben diese Konzentration von Macht verhindern soll. Schon die einzelne Person, also das individuelle Ich, ist demnach, was die politische Macht betrifft, keineswegs jenseits von gut und böse. An das individuelle Ich sind zwar unveräußerliche Menschenrechte geknüpft, eben auch die Freiheit, aber die Freiheit der Machtausübung, wie sie sich vor allem im us-amerikanischen Präsidenten konzentriert, stellt im Gegenteil eine potentielle Bedrohung der individuellen Freiheit dar.

Aber nicht nur die politische Macht des us-amerikanischen Präsidenten bedurfte nach Auffassung der Gründerväter der Kontrolle durch Repräsentantenhaus, Kongreß und oberstem Gericht. Sie trauten auch der Konzentration der wirtschaftlichen Macht nicht über den Weg. Und hier zeigt sich nun, welche Art von ‚Ich‘ es wirklich ist, auf die es in der Geldwirtschaft ankommt: auf die „Kapitalgesellschaften“. (Vgl. Gore 2014, S.151)

Gore beschreibt die Geschichte der Körperschaften, der „juristischen Person“, seit der Gründung der ersten Kapitalgesellschaft in Schweden um 1347. Dabei fällt auf, daß solchen mit individuellen Rechten ausgestatteten Gesellschaftsformen lange Zeit nicht so recht über den Weg getraut wurde. Zu einer verbreiteten gesellschaftlichen Institution wurden sie erst im 17. Jhdt. (Vgl. Gore 2014, S.151) Als das wichtigstes Unterscheidungskriterium gegenüber dem individuellen Ich nennt Gore die Unsterblichkeit, die es Kapitalgesellschaften erlaubt, über lange Zeiträume hinweg enorme Reichtümer und damit auch Macht anzuhäufen. (Vgl. Gore 2014, S.161) Ihre einzige Sorge gilt dem Geld, während sich sterbliche Einzelpersonen darüberhinaus auch „Sorgen um die Zukunftsaussichten“ ihrer Kinder und Enkel machen können. (Vgl. ebenda)

Juristische Personen wie die Kapitalgesellschaften haben deshalb auch kein Interesse am Allgemeinwohl. Gore zitiert den Konzernchef von Exxon, der die Bitte eines Politikers, seine Macht für eine sichere Treibstoffversorgung der US-Bevölkerung einzusetzen, damit kontert: „Ich bin kein US-Unternehmen und treffe Entscheidungen nicht nach dem Kriterium, was gut für die Vereinigten Staaten ist.“ (Gore 2014, S.162) – Gore ergänzt das mit dem Hinweis auf Thomas Jefferson, einem der Gründerväter, „der 1809, kaum einen Monat nachdem er das Weiße Haus verlassen hatte, in einem Brief an John Jay über ‚den selbstsüchtigen Geist des Geschäftslebens‘ klagte, ‚der kein Heimatland kennt und keine Leidenschaft und keinen Grundsatz empfindet, außer dem des Gewinns.‘“ (Ebenda)

Das ist also das „starke Ich“, von dem Christina von Braun spricht, das der Dynamik des Geldes dient, und die Gründerväter wußten sehr wohl von dieser demokratiefeindlichen Tendenz des Kapitals „und ließen Aktiengesellschaften ursprünglich meist für gemeinschaftliche und wohltätige Zwecke und nur für einen begrenzten Zeitraum zu.“ (Vgl. Gore 2014, S.152)

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Unternehmenslobbys, die ihre Sonderinteressen über das Allgemeininteresse stellten, immer einflußreicher und Korruption zur alltäglichen Gewohnheit: „Die manipulierte Präsidentenwahl von 1876 ... wurde nach den Untersuchungen von Historikern durch Geheimverhandlungen entschieden, bei denen Geld und Einfluss von Unternehmen die entscheidende Rolle spielten.() Sie bereiteten die Bühne für eine Phase korrupter Übereinkünfte die den neuen Präsidenten Rutherford B. Hayes zu der Klage veranlassten, dass ‚dies keine Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk mehr ist. Es ist eine Regierung von Unternehmen, durch Unternehmen und für Unternehmen.‘()“ (Gore 2014, S.152) – Das erinnert sehr an Streecks Analysen zum Schuldenstaat. (Vgl. meinen Post vom 06.08.2013)

Der Einfluß der Unternehmenslobbys auf die Politik ist bis heute ungebrochen: „Es ist heutzutage üblich, dass Rechtsanwälte im Auftrag von Unternehmenslobbys bei der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen dabei sind und exakte Sprachregelungen zu neuen Gesetzen beisteuern.() Das geschieht in der Absicht, Hindernisse für die geschäftlichen Vorhaben der Unternehmen aus dem Weg zu räumen – in der Regel durch die Abschwächung bestehender Gesetze und Bestimmungen, die die Öffentlichkeit vor nachgewiesenen Exzessen und Missbräuchen schützen sollten. In den US-Bundesstaaten werden heute oft routinemäßig Gesetze abgesegnet, die vollständig von Unternehmenslobbys verfasst worden sind.“ (Gore 2014, S.150)

Marktfundamentalisten wie die „Tea Party“ verstehen das Wort „öffentliches Interesse“ überhaupt nicht mehr. (Vgl.Gore 2014, S.166) Für sie ist es nur ein anderes Wort für Kommunismus.

Unternehmenslobbys und konservative Richter des Obersten Gerichtshofs haben in den USA über viele Generationen hinweg daran gearbeitet, die Regularien, die die Gründerväter zur Eingrenzung wirtschaftlicher Macht eingerichtet haben, wieder aus dem Weg zu räumen. Ein wichtiges Instrument war dabei der 14. Zusatzartikel zur us-amerikanischen Verfassung, der am 28. Juli 1868 eingeführt wurde und eigentlich dazu dienen sollte, die Staatsbürgerrechte auch auf die ehemaligen Sklaven auszudehnen. (Vgl. Gore 2014, S.154) Im Dienste der Unternehmenslobbys stehende Rechtsanwälte und konservative Richter interpretierten diesen Zusatzartikel so, daß auch juristischen Personen wie den Kapitalgesellschaften individuelle Rechte zugestanden werden müßten: „Powell schrieb beispielsweise 1978 die Begründung zu einem mit fünf zu vier gefällten Urteil, das erstmals Gesetze von Bundesstaaten aufhob, mit denen Geldspenden von Firmen bei einer Wahl verboten wurden (hier bei einem Bürgerentscheid in Massachusetts), und führte dabei als Begründung an, das alte Gesetz verstoße gegen die freie Meinungsäußerung von ‚Unternehmenspersonen‘ (corporate persons).()“ (Gore 2014, S.160f.)

Das Recht, die Politik mit Geldspenden zu beeinflussen, wurde also mit dem Individualrecht der freien Meinungsäußerung gleichgesetzt. Manche Unternehmensvertreter scheinen, wie Gore andeutet, sogar so weit gegangen zu sein, das Wahlrecht für Unternehmen zu fordern. (Vgl. Gore 2014, S.158) Man kann sich vorstellen, daß in so einem Falle Kapitalgesellschaften mehr Stimmanteile für sich beanspruchen würden, als jedem einzelnen, individuellen Wähler zukommen.

Es tut sich hier aber nicht nur bei der Gleichstellung von privatwirtschaftlichen ‚Personen‘ mit Individuen ein Problem auf. Es gibt auch gemeinnützige Körperschaften, die am Allgemeinwohl interessiert sind. In der Moralphilosophie und in der Diskurs- und Kommunikationstheorie ist außerdem immer von der normativen Perspektive der ‚dritten Person‘ die Rede, die die Interaktionen unter Individuen reguliert. (Vgl. auch meinen Post vom 06.06.2012) Von Adam Smith kennt man den Begriff der „unsichtbaren Hand“, die das Marktgeschehen reguliert. Die subtile Demagogie, die mit der Anerkennung von Kapitalgesellschaften einhergeht, besteht nun darin, diese normative Perspektive der dritten Person mit dieser unsichtbaren Hand gleichzusetzen. Wo also Lobbyisten, die ja ebenfalls im Auftrag einer ‚dritten Person‘ tätig werden, rücksichtslos die Interessen ihrer Kapitalgesellschaften durchsetzen, können sie diese einfach gegen das allgemeine Interesse ausspielen.

Alle erscheinen jetzt gleichermaßen als Egoisten: gemeinnützige Einrichtungen, Individuen und Kapitalgesellschaften. So gesehen ist es nicht etwa das „Vordringen des großen Geldes“ (Gore 2014, S.166), das entsprechend der Kolonialisierungsthese von Habermas die demokratischen Entscheidungsprozesse korrumpiert, sondern das Geld selbst wird mit dem allgemeinen Interesse und damit mit der Demokratie gleichgesetzt. Es ist die dritte Person, von Brauns starkes Ich, der bzw. dem alle individuellen Interessen gleichermaßen und irgendwie auf demokratische Weise unterworfen sind.

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Sonntag, 22. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Technik als Erweiterung menschlicher Fähigkeiten
2. Big Data

Hatte Leroi-Gourhan mit seinem Buch „Hand und Wort“ (1964/65) noch die verschiedenen Phasen der ‚Exteriorisierung‘ bzw. mit Gore: ‚Erweiterung‘ menschlicher Fertigkeiten vor allem auf Werkzeuge bezogen und von weiteren Phasen der Exteriorisierung/Erweiterung menschlicher Muskelkraft auf tierische Muskelkraft, auf Wind- und Wasserkraft bis hin zu den diversen fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl und schließlich bis zur Elektrizität gesprochen, und hatte er auch schon die Exteriorisierung der menschlichen Intelligenz in die Maschinenintelligenz thematisiert, so hatte er doch noch nicht die Exteriorisierung des menschlichen Unterbewußtseins in Betracht gezogen. Heidegger bezeichnet diese Qualität der Technik, die sich unabhängig von unserer bewußten Kontrolle vollzieht, als „Gestell“. (Vgl. meinen Post vom 23.04.2013) Auch Al Gore hat dafür ein Wort: „Big Data“. Umso unverständlicher ist es, daß er die Technik generell, also auch die Informationstechnologie, für ethisch neutral hält.

Al Gore bezeichnet diese Dimension des globalen Internets, die laufend Daten sammelt und am Menschen vorbei austauscht, wie z.B. das Internet der Dinge, als eine Art „Unterbewusstsein“, als „periphere(s) Nervensystem“. (Vgl. Gore 2014, S.93) Mit Hilfe neuer Algorithmen, so Gore, können „umfangreiche Datenmengen“, zu denen wir bislang keinen Zugang gehabt hatten, durchforstet und ausgewertet werden. (Vgl. ebenda) Gore spricht von „nützlichen Erkenntnissen“, die so gewonnen werden können, und vergleicht diesen rechnerunterstürzten Umgang mit von Rechnern erhobenen Daten mit dem Vorgehen von Psychologen und Philosophen, die ebenfalls ihr eigenes Bewußtsein oder das ihrer Klienten erforschen. (Vgl. Gore 2014, S.94)

An dieser Stelle kommt Gore übrigens auf die NSA und ihre Praktiken zu sprechen. Ohne schon von Snowden und seinen Enthüllungen zu wissen – Gores Buch ist 2013 erschienen –, kommt er schnell zur Sache, was diese „nützlichen Erkenntnisse“ betrifft: „Nach 9/11 wurden einem ehemaligen Mitarbeiter der National Security Agency zufolge ‚im Grunde alle Regeln über Bord geworfen, jeder Vorwand wurde genutzt, das Ausspionieren von Amerikanern zu rechtfertigen‘, auch das direkte Abhören von Telefonaten.() Nach Ansicht des ehemaligen leitenden NSA-Beamten Thomas Drake verwandelte der Kurswechsel nach 9/11 ‚die Vereinigten Staaten von Amerika rasch in ein Gebilde, das wie ein fremder Staat das Land mit einer flächendeckenden elektronischen Schleppnetzfahndung überzog‘.() Ein ehemaliger NSA-Mitarbeiter schätzt, dass die Behörde seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ‚zwischen fünfzehn und zwanzig Billionen‘ Nachrichten abgefangen hat.()“ (Gore 2014, S.125)

Gore erwähnt auch einen vom NSA 2011 angeschafften Computergiganten, der „unter anderem jedes Telefongespräch, jede E-Mail, jede SMS, jede Google-Suche und jede andere elektronische Kommunikationsform (verschlüsselt oder nicht) überwachen (kann), die von einem US-Bürger gesendet oder empfangen wird. All diese Daten werden dauerhaft für das Data-Mining gespeichert, also für die Auswertung der Datenbestände.“ (Gore 2014, S.128) – Man fragt sich unwillkürlich ob Snowden dort gearbeitet hat, bevor er sich mit seinen Unterlagen an die Weltöffentlichkeit wandte und schließlich ausgerechnet bei Putin – Schande über unsere Bundesregierung! (und natürlich auch über den Rest der ‚freien‘ Welt) – Unterschlupf fand.

Und Gore spricht durchaus, wie Kittler sagen würde, ‚Klartext‘. Er bezeichnet die NSA-Computer als das „aufdringlichste und mächtigste Datensammelsystem ..., das die Welt je gesehen hat“ (vgl. Gore 2014, S.128), und er stellt nüchtern fest, daß man vom „Apparat eines Polizeistaates“ sprechen könne (vgl. Gore 2014, S.126). Schon die Bush-Regierung, so Gore, hatte so etwas Ähnliches geplant gehabt, wie es dann unter Obama verwirklicht worden ist, und diesem Vorhaben den Namen „Total Information Awareness“ gegeben. (Vgl. Gore 2014, S.128)

„Total Information Awareness“: das könnte auch der Name Gottes sein. Er könnte den 99 Namen Allahs hinzugefügt werden, und er ist vielleicht der hundertste, den bislang keiner kannte. Aber wir können uns auch einfach damit begnügen, vom ‚Gestell‘ zu sprechen. Denn ein solch totales Bewußtsein wird dem Menschen immer verwehrt sein, selbst der NSA und ihren Mitarbeitern. Es werden die Maschinen sein, die darüber entscheiden, was davon sich für uns zu wissen lohnt. Übrigens – wie Herfried Münkler am Beispiel des Ersten Weltkriegs zeigt – letztlich kommt es nicht auf die Informationen an. Ein Zuviel-Wissen kann genauso zu politischen Fehlentscheidungen führen wie ein Zuwenig-Wissen. (Vgl. meinen Post vom 30.03.2014)

Man kann für ‚NSA‘ selbstverständlich auch ‚Google‘, ‚Amazon‘, ‚Facebook‘ etc. einsetzen. Aber am einfachsten ist es natürlich, wenn man einfach bei ‚Internet‘ oder ‚Gestell‘ bleibt.

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Samstag, 21. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Technik als Erweiterung menschlicher Fähigkeiten
2. Big Data

Es gibt eine in sich widersprüchliche Thematisierung der Technik als einem Menschheitskriterium. Gerne wird immer wieder der entscheidende Unterschied gemacht, daß der Gebrauch von Werkzeugen auf ein intelligentes Lebewesen hinweist und daß insbesondere der Mensch in seiner Entwicklung entscheidend durch den Gebrauch des Feuers und von Werkzeugen beeinflußt gewesen sei. (Vgl. meinen Post vom 02.03.2013; zu weiteren Urspungsmythen der Menschheit vgl. auch meinen Post vom 15.05.2011) Dann aber heißt es wieder ganz anders, daß die Technik wie jedes Werkzeug hinsichtlich ihrer menschlichen Qualität neutral sei. Jedes Werkzeug könne das Leben sowohl erleichtern wie auch nehmen, also als Waffe gebraucht werden. Es komme einzig auf den Gebrauch an, den der Mensch davon mache. (Vgl. meinen Post vom 30.03.2013)

Beide Aussagen widersprechen einander und werden gelegentlich auch in ein und demselben Text gemacht, ohne den Widerspruch zu reflektieren. Ist es aber nicht eher so, daß nur eins von beidem gelten kann? – Entweder der Werkzeuggebrauch ist ein wesentliches Moment der Menschwerdung und dann kann er nicht ethisch neutral sein. Oder der Werkzeuggebrauch ist ethisch neutral und dann kann er nicht ein wesentliches Moment der Menschwerdung sein. Alles was unsere menschliche Intelligenz möglich macht, ist immer auch immanenter Bestandteil der menschlichen Natur. Und jede qualitative Veränderung dieses Bestandteils verändert damit auch die menschliche Natur.

Dennoch: wenn wir zu uns selbst exzentrisch positioniert sind, als Körperleib, so muß das auch für die Werkzeuge gelten, die unsere körperlichen Fähigkeiten erweitern. Wo die Technik allerdings Gestellcharakter annimmt (vgl. meine Posts vom 23.04. bis 30.04.2013), wird diese exzentrische Positionierung systematisch unterlaufen. Letztlich ist nichts, was der Mensch tut, ethisch neutral, auch nicht die technischen Mittel, die er verwendet. Schlechte bzw. ‚böse‘ Mittel verderben auch die besten Zwecke. Wo die Mittel selbst Zweckcharakter annehmen, wie es beim Gestell der Fall ist, schaden sie immer schon unserer Menschlichkeit. Hier haben wir es nicht mehr mit einem einfachen Werkzeug zu tun, sondern mit einem ‚Denken‘, das sich ohne uns vollzieht.

Auch Al Gore verwendet immer wieder beide Argumente: das von der angeblichen ethischen Neutralität von Werkzeugen (vgl. Gore 2014, S.101 und 108) und das von der das menschliche Potential verändernden Qualität der Technik (vgl. Gore 2014, S.83 und 108). An einer Stelle fügt er zwei Sätze zusammen, deren wechselseitiger Widerspruch für einen denkenden Menschen geradezu atemberaubend ist: „Die Geschichte lehrt uns natürlich, dass jedes Werkzeug, das mächtige Internet eingeschlossen, zum Guten wie zum Bösen verwendet werden kann. Das Internet verändert zwar die Struktur unseres Denkens und auch unserer Beziehungen, doch es verändert nicht die menschliche Natur.“ (Gore 2014, S.108f.) – Jedes ‚Werkzeug‘, auch das Internet, ist also ethisch neutral. Dann aber doch wieder nicht; denn das Internet verändert die Struktur unseres Denkens und auch unserer Beziehungen. Nichts, was dazu in der Lage ist, kann ethisch neutral sein! Und dann kommt der eigentliche Hammer: „doch es verändert nicht die menschliche Natur“! Was bitte ist denn dann die menschliche ‚Natur‘, wenn sie nicht in der Struktur unseres Denkens und unserer Beziehungen besteht?!

Mit solchen ‚Überlegungen‘ deklassiert Gore alles, was er zur Zukunft des Menschen zu schreiben weiß.

Gore unterscheidet nicht zwischen Werkzeugen in ihrer unterschiedlichen Qualität; er unterscheidet nicht zwischen Werkzeug und Gestell. Alle Techniken sind für ihn unterschiedslos bloße „‚Erweiterungen‘ fundamentaler menschlicher Fähigkeiten“ (Gore 2014, S.74), also von derselben anthropologischen Qualität wie unser Körperleib: „Das Automobil ist ... eine Erweiterung unserer Fortbewegungsfähigkeit. Der Telegraf, das Radio und das Fernsehen sind Erweiterungen unserer Fähigkeit, über eine größere Entfernung miteinander zu sprechen. Sowohl die Schaufel als auch die Dampfschaufel sind Erweiterungen unserer Fähigkeit, Gegenstände zu heben.“ (Gore 2014, S.74)

Zu Radio und Fernsehen haben schon Günther Anders und Friedrich Kittler mehr und anthropologisch Bedenklicheres zu sagen gewußt, als Al Gore hier einfällt. (Vgl. meine Posts vom 23.01. bis 29.01.11 und vom 08.04. bis 14.04.2012) Und Leroi-Gourhan macht sich in aller wohlbegründeten Ernsthaftigkeit Gedanken über den Sapiens-Bestandteil in der Gattungsbezeichnung des Menschen, weil die Technik dazu geführt habe, daß wir unsere Hände nicht mehr brauchen. (Vgl. meinen Post vom 08.03.2013) Sogar Al Gore selbst weiß an einer Stelle von dem „fast hypnotischen Bann“ zu sprechen, in dem sich das „Massenfernsehpublikum“ tagtäglich befindet und der seiner Ansicht nach die us-amerikanische Demokratie längst zu unterminieren begonnen hat. (Vgl. Gore 2014, S.105)

Dennoch bezeichnet Gore zwar das „globale() Internet“ und die „damit verbundenen Milliarden intelligenter Geräte und Maschinen“ als das „bei Weitem mächtigste Werkzeug der Menschheitsgeschichte“, das „mittlerweile unser Denken, das triviale ebenso wie das tiefgründige“ beeinflußt, – „und zwar dramatisch und umfassend“ (vgl. Gore 2014, S.83); aber das reicht nicht weiter als bis zu der beruhigenden Feststellung einer ethischen Neutralität, daß nämlich „alle Technologien dem Guten und dem Bösen dienen können, je nachdem, wie und von wem sie am effektivsten eingesetzt werden“ (vgl. Gore 2014, S.101).

Das ist zu wenig, Mr Gore.

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Freitag, 20. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Wenn wie in der Agenda 21 (1992) der Vereinten Nationen, mit der diese sich für „Umwelt und Entwicklung“ einsetzen, immer wieder die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Wirtschaftswachstum“ miteinander kombiniert werden und allen Ernstes von einem „nachhaltigen Wirtschaftswachstum“ die Rede ist, bekomme ich Zahnschmerzen. Wir leben auf einem begrenzten Planeten inmitten der Ödnis eines menschenfeindlichen Weltraums, aber unser Vertrauen in die unbegrenzte Innovationskraft unserer Wissenschaftler und Ingenieure macht uns blind für die schlichte Notwendigkeit, ein neues Gleichgewicht im Umgang mit den Ressourcen dieses Planeten finden zu müssen. Anstatt uns technologisch als künstliche Intelligenz zu duplizieren, brauchen wir einen neuen Zugang zu unseren natürlichen Bedürfnissen, in denen sich unsere Menschlichkeit begrenzt. ‚Nachhaltigkeit‘ meint dann auch die Einsicht in die konstitutive Funktion dieser Grenzen für unser Menschsein: wir wachsen an unserer Begrenztheit, und wir schrumpfen dort, wo wir uns technologisch entgrenzen.

Al Gore spricht nun aber nicht nur von einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, sondern sogar von einem „nachhaltigen Kapitalismus“. Das geht über meine schlimmsten Zahnschmerzalpträume mit Wurzelbehandlung hinaus. Vom ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus spricht Gore in demselben Kapitel, in dem er den bemerkenswerten Satz formuliert: „Ständig wachsender Konsum und eine gesunde Weltwirtschaft sind in jedem Fall immer weniger vereinbar.“ (Gore 2014, S.60) – Der Satz steht dann aber einsam da und wird im folgenden Text, in dem es um die Erfindung neuer Rohstoffe durch die Materialwissenschaften geht, nicht weiter erläutert. Eigentlich könnte man sogar von den darauf folgenden Erörterungen her zum gegenteiligen Schluß kommen und behaupten, daß man ruhig in weiter wachsendem Maße konsumieren könne, da die Materialwissenschaften dabei sind, neue Rohstoffe zu entwickeln, die die derzeitig schrumpfenden Ressourcen ersetzen werden.

Al Gore geht in seinem Buch öfter so vor, daß er Thesen behauptet, die er dann aber nicht weiter begründet. So auch in dem Abschnitt seines Textes, den er mit „Nachhaltiger Kapitalismus“ übertitelt. (Vgl. Gore 2014, S.69f.) Man sollte meinen, daß er hier auf ein paar Details zu sprechen kommt, was genau er darunter versteht. Stattdessen weist er aber nur auf seine gemeinsam mit seinem Partner David Blood gegründete Firma „Generation Investment Management“ hin, in der er sich für „einen, wie wir es nennen, nachhaltigen Kapitalismus“ einsetzt. (Vgl. Gore 2014, S.69) Auf den folgenden zwei Seiten dieses Textabschnitts folgt dann kein weiteres Wort mehr zum ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus. Stattdessen spricht Gore zwei Probleme des „derzeit gängigen Kapitalismus“ (Gore 2014, S.70) an, die in dessen kurzfristigem, auf die Gewinne von Drei-Monats-Rhythmen fixiertem Denken bestehen.

Der diesem Abschnitt vorangegangene Textabschnitt ist mit „Kapitalismus in der Krise“ übertitelt. (Vgl. Gore 2014, S.67ff.) Als eines der Hauptkrisenmerkmale nennt Gore hier die „wachsende Ungleichheit in den meisten großen Volkswirtschaften der Welt“ und das „anhaltend hohe Niveau der Arbeitslosigkeit“. (Vgl. Gore 2014, S.67) Seltsamerweise beginnt dieser Textabschnitt aber mit einer Ehrenrettung des Kapitalismus als einer „im Vergleich zu anderen Wirtschaftsordnungen“, besonders effektiven Wirtschaftsform: „In der Zuteilung von Ressourcen und der Abstimmung von Angebot und Nachfrage ist der Kapitalismus effizienter. Er schafft mehr Wohlstand und ist besser mit einem hohen Maß an Freiheit vereinbar. Vor allem aber setzt der Kapitalismus ein größeres Maß an menschlichem Potenzial frei, da er mit allerlei Anreizen Leistung und Innovation belohnt.“ (Gore 2014, S.67)

Alle diese angeblichen Vorteile des Kapitalismus sind, wenn man sich den tatsächlichen globalen Weltzustand anschaut, ein schlechter Witz: Ressourcen? – Unser Planet wird geplündert, was die Technik hergibt, und sogar die Klimaerwärmung wird als Chance genutzt, noch an die letzten Rohstoffreserven der Arktis und der Antarktis heranzukommen. Abstimmung von Angebot und Nachfrage? – Al Gore selbst beschreibt, wie die Produktivitätssteigerung längst zu einer Abkopplung der Technologieentwicklung von unseren „essenzielle(n) menschliche(n) Bedürfnisse(n)“ geführt hat. (Vgl. Gore 2014, S.73; vgl. auch S.75) Hohes Maß an Freiheit? – Man muß nicht nur an die aktuellen, von Edward Snowden aufgedeckten NSA-Praktiken denken, über die Gore übrigens so gut Bescheid weiß, daß er nicht davor zurückschreckt vom „Apparat eines Polizeistaates“ zu sprechen. (Vgl. Gore 2014, S.126) Es reicht aber vorerst, darauf hinzuweisen, daß der Kapitalismus sich hervorragend mit Faschismus und Kommunismus, siehe das heutige China, verstanden hat und noch versteht, um zu erkennen, daß der Kapitalismus mit Menschenrechten nichts zu tun hat. Freiheit ist immer nur die Freiheit, das private Nutzungsrecht am Kapital und an den Ressourcen der Erde zu bewahren oder durchzusetzen.

Der Vergleich, den Gore zieht, um die Vorteile seines ‚Kapitalismus‘ zu begründen, ist deshalb auch eher peinlich: mit den „anderen Wirtschaftsordnungen“ sind Faschismus und Kommunismus gemeint. Anders als mit diesen beiden Wirtschaftsordnungen – handelt es sich beim Faschismus überhaupt um eine? – hat der Kapitalismus eher mit einer wirklich praktizierten Demokratie Probleme, etwa im Sinne von „Eigentum verpflichtet“. Das Experiment mit einer sozialen Marktwirtschaft in den sechziger Jahren in Westdeutschland hat dann auch nicht lange gedauert. (Vgl. meine Posts vom 03.08. bis 09.08.2013)

Letztlich meint Gore mit dem ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus einen auf die Perspektive und die Bedürfnisse der Mittelschicht reduzierten Kapitalismus. Wenn er deshalb von „essenzielle(n) menschliche(n) Bedürfnisse(n)“ (Gore 2014, S.73) spricht, von denen sich die „Produktivitätszuwächse“ abgekoppelt haben, so ist damit in erster Linie der „Lebensstandard der Mittelschicht“ gemeint (vgl. Gore 2014, S.75). Von dem Wegfall der Arbeitsplätze ist vor allem diese Mittelschicht bedroht, die bislang aufgrund ihrer Bildung und Qualifikation von den technologischen Entwicklungen profitiert hatte. Wenn im langen 20. Jahrhundert Arbeitsplätze bedroht gewesen waren, dann vor allem die Arbeitsplätze der sogenannten Unterschicht. Diese ‚Unterschicht‘ kommt aber mittlerweile zum großen Teil nicht mal mehr in den Arbeitslosenstatistiken vor. Sie sind einfach das berüchtigte eine - oder sind es mittlerweile zwei? – Drittel der Gesellschaft, für das sich niemand mehr interessiert; nicht einmal die Politiker vor Neuwahlen.

Auch Gore interessiert sich also nicht wirklich für den Menschen, sondern nur für einen gesunden Kapitalismus mit einem gesunden Mittelstand. Kritik am Wachstumsdenken kommt da nur am Rande vor und ist argumentativ in der Gesamtdarstellung dieses Kapitels auch nicht wirklich eingebettet.

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Donnerstag, 19. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Vom ‚Geld‘ spricht Gore in seinem Kapitel zur Welt AG eher selten. Meistens spricht er von einer „wachsende(n) Konzentration von Reichtum“ an der „Spitze der Einkommensleiter“ (vgl. Gore 2014, S.40), was die tatsächliche Funktion des Geldes eher verschleiert. An einer Stelle aber reicht Gore dicht an das Analyseniveau eines Frank Engster heran (vgl.u.a. meine Posts vom 21.02. und vom 24.03.2014), wenn er das Geld als ein Symbol „für Soll und Haben“ bezeichnet, mit dessen Hilfe sich moderne Gesellschaften einen „Überblick“ über die „ständigen Tauschabfolgen“ verschaffen (vgl. Gore 2014, S.73). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem Geld, dessen Rechenkapazität sich mit den heutigen Supercomputern vergleichen ließe, obwohl sie tatsächlich weit über sie hinaus geht, da es die Gesamtproduktivität einer Gesellschaft, heute der globalen Welt, in jedem einzelnen unserer Kaufakte als Durchschnittswert ermittelt.

Das unbewußte, der menschlichen Kontrolle entzogene Rechnen des Geldes wird von Gore sehr schön an eben diesen Supercomputern verdeutlicht. Wir haben es hier mit einer Zeitdimension zu tun, die zu den in seiner Einleitung angesprochenen vier Uhren (vgl. Gore 2014, S.17f.), die individuelle Lebenszeit, die menschliche Geschichte, die biologische Zeit (Evolution), die planetarische Zeit (Geologie) als eine fünfte Uhr hinzukommt: die digitale Zeit rechnergesteuerter Finanztransaktionen. In der Kulturgeschichte des Menschen unterscheidet Al Gore drei Epochen: „Die erste dauerte 200 000 Jahre, die nächste 8000 Jahre und die industrielle Revolution nur 150 Jahre.“ (Gore 2014, S.72) – Wenn man die aktuelleren Umbrüche in den digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien vom social web über das Internet der Dinge bis hin zum 3D-Drucker hinzudenkt, erkennt man eine exponentiell ansteigende Kurve, die eine humane Synchronisation der verschiedenen ‚Uhren‘ als undenkbar erscheinen läßt.

Was die erwähnte fünfte Uhr betrifft, den digitalisierten „Kapitalfluss der Weltmärkte“, sind Al Gore zufolge die Menschen „mittlerweile hinter die Supercomputer zurückgetreten, die in rasender Geschwindigkeit und Frequenz Transaktionen vornehmen“. (Vgl. Gore 2014, S.45) Die finanziellen Transaktionen laufen im Mikrosekunden- (Millionstelsekunden) und demnächst wohl auch im Nanosekundenbereich (Milliardstelsekunden) ab (vgl. Gore 2014, S.45): „Die Handelsfirmen stellen heute ihre Supercomputer direkt neben den jeweiligen Börsensaal, denn selbst bei Lichtgeschwindigkeit würde die Zeit, die eine Information für die Überquerung der Straße in ein anderes Gebäude braucht, einen Wettbewerbsnachteil mit sich bringen.“ (Gore 2014, S.46)

Es ist für meinen einfachen Menschenverstand unbegreiflich, wie man in solchen Zeiteinheiten Geschäfte machen kann. Um Transaktionen rechtsgültig zu machen, ließen Banker vor der Wirtschaftskrise von 2008 mit Hilfe billiger Arbeitskräfte in der Minute hunderte von Unterschriften für Darlehen fälschen, was man als „Robosigning“ bezeichnete, weil kein realer Banker so schnell so viele Kredite bewilligen konnte. (Vgl. Gore 2014, S.50) Für die Verlegung eines Transatlantikkabels, der die Kommunikation zwischen New York und London um 5,2 Millisekunden verkürzte, wurden 300 Millionen Dollar ausgegeben. (Vgl. Gore 2014, S.46)

Als am 06. Mai 2010 der Dow Jones an der New Yorker Börse um tausend Punkte fiel, um dann 16 Minuten später wieder auf den ursprünglichen Wert anzusteigen, ohne daß es dafür irgendeinen ersichtlichen Grund gab, fand man fünf Monate später nach intensivster Analysearbeit heraus, daß die extrem kurzen Zeiteinheiten bei den Transaktionen in den Algorithmen so etwas wie einen Echoeffekt ausgelöst hatten – sie haben auf sich selbst reagiert –, „was die Kurse jäh zum Absturz“ brachte. (Vgl. gore 2014, S.49) Der recht vernünftig erscheinende Vorschlag, eine neue Regel einzuführen, „nach der Kauf- oder Verkaufsgebote eine Sekunde lang offen bleiben sollten“, wurde abgelehnt. Das hätte die Gewinne der Finanzunternehmen gemindert. (Vgl. ebenda)

Wir haben es also nicht einfach mit konzentriertem Reichtum zu tun, sondern mit Geld als einer Form des gesellschaftlichen Rechnens, das sich von Produktions- und Konsumzusammenhängen völlig abgekoppelt hat. Dieses ‚Geld‘ hat inzwischen auch die Wissenschaft selbst infiltriert und transformiert. Ihre fundamentale Aufgabe, Daten zu sammeln und zu interpretieren, die bislang im wesentlichen in zwei Methoden bestand, der Induktion und der Deduktion, ist um eine dritte Methode ergänzt worden: „Das neue Gebiet des wissenschaftlichen Rechnens – auch bekannt unter dem Begriff computational science – gilt deshalb mittlerweile neben der Induktion und der Deduktion als dritter grundlegender Weg zu neuen Erkenntnissen. Es kombiniert Elemente dieser beiden und simuliert eine künstliche Realität, in der ohne vereinfachende Annahmen detaillierte Experimente möglich sind.“ (Gore 2014, S.61) – Mit anderen Worten: an die Seite – vielleicht auch an deren Stelle? – von Induktion und Deduktion ist die Simulation getreten, und wo Induktion und Deduktion noch weitgehend von menschlicher Sinnlichkeit und von menschlicher Verstandeskraft abhängig gewesen sind, vertrauen wir zunehmend der Kraft von Algorithmen.

Vom Geld also spricht Gore eher selten. Aber er verwendet ein anderes Wort, das den neuen Zeitverhältnissen im Mikro- und Nanosekundenbereich und den neuen Materialwissenschaften, der „Molekularökonomie“ (Gore 2014, S.61), vielleicht sogar noch besser entspricht: „Technologiekapital“. (Vgl. Gore 2014, S.38, 40, 75) Das Wort bringt sehr schön die enge Verbindung von Geld und Technik zum Ausdruck, insofern sich das Geld nicht mehr in erster Linie über Waren und ihren Tausch, sondern über die Technik realisiert. Insbesondere die Informationstechnologie stellt die zentrale Infrastruktur, in der sich das Geld durch sich selbst mit sich selbst, als Informationsquantum, als Boid, ‚verrechnet‘. Wir haben es bloß noch mit einem von jeder Materie losgelösten, reinen Strukturalismus zu tun. Der Kapitalismus ist zu einem Computerspiel geworden, dessen einzige materielle Basis im Elend der Verlierer besteht.

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Mittwoch, 18. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Al Gore stellt die „Welt AG“ als ein „emergentes Phänomen“ dar, als eine „völlig neue() Realität“ (vgl. Gore 2014, S.37), zu der uns, wie er einen „Experten für den automatisierten Handel“ zitiert, noch „jede vernünftige Verständnisgrundlage fehlt“ (vgl. Gore 2014, S.45). Wir haben es mit einer „Transformation der Weltwirtschaft“ (Gore 2014, S.36) zu tun, durch die offensichtlich all unser bisheriges, in BWL (Betriebswirtschaftslehre) und VWL (Volkswirtschaftslehre) gesammeltes ökonomisches Wissen bedeutungslos geworden ist; so bedeutungslos, daß wir einer noch zu erfindenden Weltwirtschafslehre (WWL) bedürfen.

Worin besteht das völlig Neuartige dieser Weltwirtschaft? – Es sind vor allem drei Faktoren, die die Fundamente der klassischen Kapitalismustheorie bilden, die in der ‚Welt AG‘ zum Teil völlig neu definiert und zum Teil als regelrecht abgeschafft gelten müssen: die Rohstoffe, die Waren und die Lohnarbeit. Diese drei Faktoren bilden das materielle Bedingungsgefüge einer der Bedürfnisbefriedigung dienenden Marktwirtschaft. Mit materiellen Bedürfnissen aber hat die ‚Welt AG‘ rein gar nichts mehr zu tun.

An die Stelle einer Industrieproduktion vor Ort, für deren Infrastruktur reale Fabriken und hohe Schornsteine stehen, sind „virtuelle() globale() Fabriken“ getreten, „mit kompliziert verflochtenen Lieferketten, die Hunderte von Unternehmen in Dutzenden von Ländern einbinden. ... Ein zunehmender Prozentsatz der Lohnarbeiter steht nicht nur im Wettbewerb mit anderen Lohnarbeitern anderer Länder, sondern auch mit intelligenten Maschinen, die wiederum mit anderen Maschinen und Computernetzwerken verzahnt sind.“ (Gore 2014, S.35)

Ohne das Wort zu verwenden, spricht Gore mit den miteinander verzahnten „Maschinen und Computernetzwerken“ das Internet der Dinge an. Zusammen mit einer weiteren, den neuzeitlichen Auguren zufolge alles umstürzenden technischen Revolution, dem 3D-Drucker – ein neuer Prototyp dieses Geräts druckte in Kalifornien „innerhalb von zwanzig Stunden ein ganzes Haus (ohne Türen und Fenster)“ (vgl. Gore 2014, S.66) – und in Kombination mit den neuen Materialwissenschaften, der „Molekularökonomie“ (Gore 2014, S.61), wird der Begriff des ‚Rohstoffs‘ völlig neu definiert, und die menschliche Arbeitskraft wird als ökonomischer Faktor abgeschafft bzw. ihre „grundlegende Rolle“ wird, wie Gore vorsichtig formuliert, „in der künftigen Wirtschaft infrage“ gestellt. (Vgl. Gore 2014, S.37)

Worin besteht diese „grundlegende Rolle der Arbeitskraft“? Marx zufolge besteht sie darin, daß sie Mehrwert schaffen kann. (Vgl. meine Posts vom 05.03., 23.03. und 25.03.2014) Nur die menschliche Arbeitskraft kann Marx zufolge tote Arbeitszeit, also Kapital, auf Waren übertragen und diesen Waren gleichzeitig Mehrwert hinzufügen. Der Trick – und Mehrwertbildung ist nichts als ein mieser Zaubertrick, auf den wir alle immer wieder hereinfallen – des Kapitalisten besteht darin, daß er diesen Mehrwert durch Entwertung der Arbeitskraft steigern kann, entweder durch Erhöhung der Arbeiterschaft oder durch Modernisierung der Technologie. Die erhöhte Menge der Waren, die auf diese Weise vom einzelnen Arbeiter produziert werden kann, wirkt sich direkt entweder auf seine Entlohnung oder auf seine Beschäftigung aus. Er bekommt weniger Geld für seine Arbeit oder er wird entlassen.

Man hat Marxens Kapitalismuskritik immer dahingehend verstanden, daß die tendenzielle Abschaffung der menschlichen Arbeitskraft zum Kommunismus führen müsse. Inwiefern Marx selbst tatsächlich auch dieser Meinung gewesen ist, kann ich nicht beurteilen. Tatsächlich läuft bislang alles auf eine Abschaffung des Menschen aus dem Wirtschaftssystem hinaus, nicht nur auf der Produktionsseite, sondern auch auf der Konsumseite. Denn der Konsum dient längst nicht mehr der Befriedigung von Bedürfnissen, in der die Nachfrage das Angebot bestimmt, sondern der Erzeugung von Bedürfnissen, in der das Angebot die Nachfrage bestimmt. Mit Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun.

Im Finanzkapitalismus jedenfalls gibt es nicht einmal mehr den Anschein irgendeiner Bedürfnisbefriedigung, die noch den Umweg über die Produktion von Waren nimmt. Die ‚Handelsströme‘ haben sich von der Produktion und dem Verkauf von Gütern völlig abgekoppelt. Es geht nur noch um die Vermehrung der Geldmenge als solcher: „Die internationalen Handelsströme haben sich in den vergangenen dreißig Jahren von 3 Billionen Dollar auf 30 Billionen Dollar jährlich verzehnfacht und wachsen weiter an, und zwar eineinhalb Mal so schnell wie die Produktion.()“ (Gore 2014, S.50) – Mit anderen Worten: der Geldmenge entsprechen kaum noch reale Werte.

Mit der Virtualisierung bzw. „‚Finanzialisierung‘ der Wirtschaft“ (Gore 2014, S.46) spielt der Mensch auch auf der Kapitalseite der ‚Produktion‘ keine Rolle mehr:  „Dass die menschliche Entscheidungsfähigkeit zunehmend aus dem Verfahren verdängt wird und der wachsende Handel künstlicher Finanzinstrumente ein Volumen erreicht, gegen das die Transaktionen mit echten Werten in der Weltwirtschaft verblassen, trägt in der Praxis dazu bei, dass Kapital immer seltener ein verlässlicher und effizienter Faktor der Produktion ist.“ (Gore 2014, S.48)

An die Stelle des menschlichen Entscheidungsfaktors ist eine systembedingte „positive Rückkopplung“ getreten. in der die „zunehmende() Integration der Welt AG“ und die „Zunahme verzahnter intelligenter Maschinen“, unter Umgehung der nationalen wie internationalen Politik, sich gegenseitig exponentiell verstärken. (Vgl. Gore 2014, S.38) – So viel zur letzten Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, derzufolge der Mensch im Mittelpunkt ihrer Politik steht.

Die Infrastruktur, die zu dieser positiven Rückkopplung beiträgt, besteht in den profitsteigernden Instrumenten von Outsourcing und Robosourcing und in den durch die digitalen Kommunikationstechnologien ermöglichten neuen Informations- und Investmentströmen. (Vgl. Gore 2014, S.57) Insbesondere Outsourcing und Robosourcing, deren Effekte auf Arbeit und Konsum Gore gleichsetzt, verändern das „Verhältnis zwischen dem Einsatz von Kapital und dem Einsatz von Arbeitskraft dramatisch“. (Vgl. Gore 2014, S.37) Damit verändern sie aber genau das ökonomische Bedingungsgefüge, an dem der gute alte Marx noch die Mehrwertproduktion festgemacht hatte. Wenn man bedenkt, daß Marx das Kapital als tote Arbeitszeit definiert, diese tote Arbeitszeit aber ehemals lebendige menschliche Arbeitszeit gewesen ist, schafft insbesondere das Robosourcing – die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch „mechanische() Prozesse(), Computerprogramme(), Roboter() aller Größen und Formen sowie bislang noch rudimentäre() Arten künstlicher Intelligenz, die hinsichtlich Effizienz, Nutzen und Einfluss mit jedem Jahr wachsen“ (vgl. Gore 2014, S.36) – mit der menschlichen Arbeitskraft auch das Kapital ab. Und das Kapital hat das bis jetzt einfach nur noch nicht bemerkt. Vielleicht leben wir ja in einer eigentümlichen Zwischenwelt, in der es den Kapitalismus gar nicht mehr gibt, der Finanzkapitalismus das aber zu verschleiern versucht und das Neue, das an seine Stelle treten wird, noch nicht sichtbar ist.

Jedenfalls tragen Outsourcing und Robosourcing gleichermaßen zu einer „Schwächung der Nachfrage“ und zur „Überproduktion“ bei, „da durch die langfristige Verschiebung hin zu einer Wirtschaft, in der es im Verhältnis zur Produktion deutlich weniger Arbeitsplätze gibt, die Einkommen sinken und somit auch Konsum und Nachfrage nachlassen.“ (Vgl. Gore 2014, S.59f.)

Schon das Outsourcing hatte sich für die Bedürfnisorientierung der klassischen Marktwirtschaft nicht mehr interessiert. Durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer wurden die Menschen in den Industrieländern ihrer Arbeit beraubt, durch deren ‚Verkauf‘ sie in die Lage versetzt worden waren, die von ihnen produzierten Produkte zu konsumieren. Mit der Produktion fehlt nun auch die ökonomische Grundlage für den Konsum. Interessanterweise ist aber der Konsum nicht der Verlegung der Produktionsanlagen in die Billiglohnländer gefolgt: „Arbeit und Kapital wurden zwar globalisiert, doch in der globalen Wirtschaft bleibt ein Großteil des Verbrauchs in den westlichen Industrienationen.“ (Gore 2014, S.60)

Mit dem Outsourcing haben sich also schon mal Produktion und Konsum voneinander abgekoppelt. Wenn man sich fragt, wer denn da noch konsumiert in diesen ehemaligen Industrieländern, so spricht Gore immer nur vom konzentrierten „Reichtum“, der wie ein umgekehrter Trichter oder wie eine Windhose mittels Outsourcing und Robosourcing den Boden des materiellen Wohlstands – hier denkt Gore in erster Linie an die Mittelschicht – absaugt, alles Materielle wegfiltert und als herausgefiltertes ‚Geld‘ in einer immer schmaler werdenden Oberschicht konzentriert. Dazu aber im folgenden Post mehr.

Das Robosourcing funktioniert also wie das Outsourcing: es läßt die ‚Arbeit‘ von Maschinen und Computern erledigen anstatt von Menschen. Wir haben es, wie gesagt, mit einer von jedem echten Wert losgelösten Mehrwertbildung zu tun, in der mit dem Herausfallen des Menschen aus dem Produktionsprozeß das „fundamentale Tauschgeschäft“, das menschliche Gesellschaften definiert und mit dem sich altehrwürdige Disziplinen wie BWL und VWL befassen, grundsätzlich in Frage gestellt wird. (Vgl. Gore 2014, S.73) Produktivität und Bedürfnisbefriedigung (vgl. Gore 2014, S.75), Technik und Beschäftigung (vgl. Gore 2014, S.75) sind von nun an entkoppelt und dem klassischen Fortschrittsgedanken, der eng mit der Entwicklung von Technologien und der durch sie ermöglichten „Produktivitätssteigerung“ verbunden ist (vgl. Gore 2014, ‚S.37), fehlt inzwischen die Grundlage: „Für die noch vorhandenen Arbeitsplätze steigt manchmal wegen der zusätzlich für den Umgang mit der neuen Technik notwendigen Qualifikationen auch die Entlohnung. Deshalb interpretieren wir die Gesamtwirkung dieses neuen beschleunigten Robosourcing oft fälschlicherweise als Fortführung des seit Langem vertrauten Schemas nach dem alte Jobs vernichtet und durch neue und bessere Jobs ersetzt werden.“ (Gore 2014, S.38)

Die Fixierung auf die verbesserte Entlohnung der überhaupt noch Beschäftigten trübt den Blick für die Verelendung der Arbeitslosen und für die unaufhaltsame Ausdünnung der Mittelschicht. Die politische Orientierung am Unternehmer als gesellschaftlichem Leistungsträger, der für Arbeitsplätze sorgt, womit auch die Konzentration des „Reichtums“ in einer schmalen Oberschicht von Millionären und Milliardären gerechtfertigt wird, erweist sich angesichts dieser desolaten Situation als bloße Demagogie.

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Sonntag, 15. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

Al Gores Buch ist in sechs Kapitel unterteilt, die den sechs im Titel seines Buches „Die Zukunft“ (2014) genannten, etwas unschön übersetzten „Kräften“ (drivers) entsprechen. Passender wäre es gewesen, ‚drivers‘ mit ‚Einflußfaktoren‘ zu übersetzen. Was die Sache betrifft, brächte es aber ‚Kontexte‘ besser auf den Punkt. Mit der „Welt AG“ (1) geht es Gore vor allem um die „stark vernetzte globale Wirtschaft“. Beim „Weltgehirn“ (2) denkt Al Gore an das „globale() elektronische() Kommunikationsnetz()“. Bei „Machtfragen“ (3) geht es um den Antagonismus zwischen Lebenswelt und Finanzkapital, den Gore analog zu Habermasens Kolonialisierungsthese beschreibt, ohne diesen eigens zu nennen. Bei den „Auswüchse(n)“ (4) denkt Gore an die Exzesse eines Wirtschaftswachstums, dem er ein mit dem Adjektiv ‚nachhaltig‘ versehenes Wirtschaftswachstum entgegenhält, ohne das Wachstum selbst, zumindestens schon im Rahmen seiner Einleitung, in Frage zu stellen. Mit der „Neuerfindung von Leben und Tod“ (5) geht es um „revolutionäre() Techniken in der Biochemie, der Genetik und de(n) Materialwissenschaften“, und „Am Abgrund“ (6) meint das angesichts des Klimawandels aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Zivilisation und Ökosystem. (Vgl. Gore 2014, S.12f.)

Jedem der Kapitel hat Gore ein detailliertes mind map vorangestellt, das einen Überblick über das Geflecht der mit diesem Kapitel verbundenen Themen bietet. Diese mind maps ergänzen das Register am Ende des Buches, indem sie die verschiedenen Schlagworte in Gruppen ordnen und diese Gruppen wiederum gruppieren und eine assoziative Systematik andeuten, die zum Mit-Denken einlädt. Eine schöne Idee.

Die umfassenden Recherchen zu diesen Kapiteln/Kontexten des menschlichen Handelns und Denkens und ihre Analyse haben ihm, so Gore, „neue Möglichkeiten des Verstehens eröffnet“. (Vgl. Gore 2014, S.13) Gore bezeichnet sich selbst als einen Optimisten, der sich weder naiv dem Ernst der Lage verschließen noch der „Neigung zum Pessimismus“ hingeben will, der blind ist für die „Umstände, die legitimen Anlass zu der Hoffnung geben, dass wir doch noch einen gangbaren Weg durch die vor uns liegenden Gefahren finden“. (Vgl. Gore 2014, S.30) Als wichtigste Instrumente auf so einem Weg nennt Gore einen ‚reformierten‘, insbesondere wiederum ‚nachhaltigen‘ „Kapitalismus“ (vgl. Gore 2014, S.25) und eine nicht durch das Geld ‚verzerrte‘ und ‚korrumpierte‘ „Demokratie“, in der „aus der Interaktion von Menschen unterschiedlicher Sichtweisen, Neigungen und Lebenserfahrungen Weisheit und Kreativität“ entstehen können (vgl. Gore 2014, S.24).

Al Gore geht also nicht nur von einer Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und maximaler Profitorientierung aus, sondern glaubt darüberhinaus, daß sich die Kolonialisierungseffekte eines „von der Sphäre des Marktes in die der Demokratie“ vordringenden „konzentrierte(n) Reichtum(s)“ innerhalb desselben kapitalistischen Systems, das diese Kolonialisierung bewirkt hat, wieder rückgängig machen lassen; und er denkt an so etwas wie eine erneuerte, ökologisch ausgerichtete „Allianz von Kapitalismus und repräsentativer Demokratie“. (Vgl. Gore 2014, S.23)

Für diese Naivität, den american way of life nur ein wenig reformieren zu wollen und ihn ansonsten einfach nur fortzusetzen wie gehabt, gibt es ein passendes Sprichwort: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!“

Dabei ist Al Gore durchaus nicht zimperlich in seiner Kritik an den Exzessen und der Korrumpierung von Wirtschaft und Politik der einzigen verbliebenen Supermacht. Er ist sich auch durchaus der singulären Situation der Menschheit im noch jungen 21. Jahrhundert bewußt: „Dass die nahe Zukunft völlig anders sein wird als alles, was wir aus der Vergangenheit kennen, ist unstrittig. Die Unterschiede sind qualitativer, nicht so sehr quantitativer Art. Kein Wandel, der sich in der Vergangenheit vollzogen hat, lässt sich mit dem vergleichen, was der Menschheit bevorsteht.“ (Gore 2014, S.13) – Angesichts einer solchen Feststellung wirkt Al Gores Festhalten an der Vorstellung eines nachhaltigen Kapitalismus nicht einmal mehr naiv, sondern einfach dumm.

Doch ist dieses Urteil vielleicht etwas voreilig. Ich bin noch bei der Einleitung des Buches, das ich in den folgenden Tagen und Wochen Kapitel für Kapitel lesen und besprechen werde. Und dumm ist Al Gore nun wirklich nicht. Schon in der Einleitung finden sich andere, durchaus lesenswerte Stellen, und auf eine will ich hier noch kurz eingehen, weil sie einen umfassenderen Blick auf die Situation des Menschen auf diesem Planeten ermöglicht.

Al Gore unternimmt eine zeitliche Perspektivierung des Menschen auf seinem Planeten, die mich an meine drei Entwicklungslinien (Biologie/Kultur/Individuum) erinnert. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010) Zunächst verweist Gore auf die ‚natürliche‘ Beschränktheit unseres Zeitempfindens auf unsere eigene Lebenszeit, die uns für „kurzfristiges Denken“ anfällig macht. (Vgl. Gore 2014, S.28) Das läßt sich so zwar nicht unbedingt verallgemeinern, weil wir durchaus von anderen, nicht-kapitalistischen Kulturen mit zyklischen Lebensrhythmen wissen, die dazu in der Lage gewesen sind, über mehrere Generationen hinweg zu planen und zu handeln. Diese Fähigkeit ist ja gerade das, was man eigentlich unter ‚Nachhaltigkeit‘ versteht. (Vgl. Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010) Dennoch trifft Gore einen richtigen Punkt, weil es in mündlichen Kulturen eine natürliche Grenze für die Verläßlichkeit des kollektiven Gedächtnisses gibt. Dieses Gedächtnis erstreckt sich nur über drei bis vier Generationen, weil es hier noch eine konkrete Kommunikation zwischen Großeltern und Enkeln gibt. (Vgl. meinen Post vom 07.02.2011) Alles, was noch weiter zurück reicht, beruht auf Hörensagen und ist ‚graue Vorzeit‘. Veränderungen, die außerhalb dieses intergenerativen Erfahrungsaustausches liegen, werden nicht wahrgenommen.

Das Phänomen der ‚shifting baselines‘ gibt es aber nicht nur für mündliche Kulturen. Auch in modernen, schriftbasierten Gesellschaften fällt es schwer, Veränderungen, die sich zu unseren Lebzeiten ereignen, wahrzunehmen, wenn sie nur langsam genug sind. Oder andersrum: wir nehmen Veränderungen bald nicht mehr als solche wahr, selbst wenn wir sie einmal bewußt befürwortet oder abgelehnt hatten. Und genau das hat viel mit dem zu tun, was Gore „kurzfristiges Denken“ nennt. Die Politik muß, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen und zu erhalten, möglichst den Eindruck erwecken, viele wichtige Entscheidungen zu fällen, und das auch möglichst noch kurz vor den nächsten Wahlen, weil viele Wähler meist schon vergessen haben, was an Positivem oder Negativem nur ein Jahr zuvor geschehen ist. Wenn Veränderungen einmal eingetreten sind, erleben wir sie bald als ‚normal‘, so, als wäre es schon immer so gewesen. Das ist das Funktionsprinzip der Lebenswelt.

Al Gore spricht nun von insgesamt vier „Uhren“, die wir im Blick behalten müssen. Wir müssen unsere persönliche Uhr, die unsere Lebenszeit anzeigt, mit drei anderen Uhren synchronisieren: mit der Uhr, die die „Jahrhunderte und Jahrtausende“ der menschlichen Kulturgeschichte anzeigt; mit der Uhr, „die die Zeitabläufe der Evolution misst“; und mit der „planetarischen Uhr“, die „geologische() Zeitspanne(n)“ umfaßt. (Vgl. Gore 2014, S.17f.)

Warum müssen wir das? – Weil unser jetziges Handeln „Störungen“ in den „natürlichen Systemen der Erde“ verursacht, die sich auf die weitere Kulturgeschichte, auf die weitere biologische Evolution des Menschen und auf die Geologie der Erde auswirken. (Vgl. Gore 2014, S.17) Al Gore bringt dabei als Beispiel die „90 Millionen Tonnen Schmutz, die wir jeden Tag in die Atmosphäre pusten und mit denen wir die globale Erwärmung beschleunigen“. Dieser ‚Schmutz‘ „wird auch in 10 000 Jahren noch dort oben sein und Wärme am Entweichen hindern.()“ (Vgl. Gore 2014, S.18) Dabei erwähnt Gore noch nicht mal die noch längeren Zeiträume, die der giftige Atomabfall überdauert, oder die Chemieabfälle, von denen allein die Deutschen jährlich 18 Millionen Tonnen in ihren Salzbergwerken versenken und die immer, immer giftig bleiben werden, auf ewig! (Vgl. „Wissenschaft im Brennpunkt“, DLF, 24.05.2010)

Bei Al Goeres Uhren handelt es sich um eine invertierte Perspektive auf die drei Entwicklungslinien, zu denen noch die geologische Entwicklungslinie, die ich bislang nicht berücksichtigt hatte, hinzukommt. Statt den Menschen nur von seiner Biologie, Kultur und Individualität her verstehen zu wollen, müssen wir ihn auch auf seine individuelle Verantwortung für seine künftige Kultur, Biologie und eben auch ‚Geologie‘ (Zeitspannen von vielen hunderttausend Jahren und mehr) hin denken. Erst dieses Zusammendenken von Individualität, Geschichte, Biologie und Geologie, also die Verbindung von individueller und planetarischer ‚Uhr‘ wird der immensen Aufgabe gerecht, die sich dem Menschen in unserer Zeit stellt.

Angesichts der Ungeheuerlichkeit und der Diskrepanz dieser ‚Verzeitlichung‘ erstaunt es umso mehr, daß Gore seine Hoffnung auf einen reformierten Kapitalismus setzt. Jedes Jahr 400.000.000 Tonnen Giftmüll weltweit: das ist wohl kaum einem bloßen Exzeß des Kapitalismus zuzuschreiben, so als gäbe es noch einen anderen nicht-exzessiven, gutartigen Kapitalismus.

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