„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 20. Mai 2014

Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014

(Klett-Cotta, Tropen Sachbuch, 184 S., 17.95 €)

1. Kultur, Verantwortung, Genuß
2. Vom Terror des Bildes
3. Menschen und Märkte

„Du sollst nicht funktionieren“ (2014) von Ariadne von Schirach, – das ist ein Titel, der an ein anderes Buch erinnert, an „Du sollst nicht merken“ (1981) von Alice Miller. Beide Imperative haben viel miteinander zu tun: daß wir nicht merken, was mit uns geschieht, ist die Voraussetzung dafür, daß wir funktionieren. Und Ariadne von Schirachs Buch ist der Versuch, diese Anästhesie durch ihren Gegenimperativ, nicht funktionieren zu sollen, aufzuheben und uns dafür zu sensibilisieren, was uns verloren geht, wenn wir, ohne es zu merken, nur noch funktionieren.

Dabei sollte man sich vom Untertitel ihres Buches, der nach einem weiteren Exemplar aus der Ratgeberliteratur klingt, nicht täuschen lassen. Zwar haben wir es durchaus auch mit einer Lebenshilfe zu tun; aber nur in dem Sinne, in dem die Philosophie es schon immer mit dem richtigen und guten Leben zu tun gehabt hatte. (Vgl. von Schirach 2013, S.176) Und dabei geht es eben nicht um einschlägige Tips, Rezepte und Diätiken der Lebensführung in den Bereichen der Gesundheit und der Psychohygiene – „eingeebnet, psychologisiert und standardisiert und so auf einen möglichst erfolgreichen Lebenslauf hin ausgerichtet“ (von Schirach 2014, S.74) –, sondern um Aufklärung im eigentlichen, ursprünglichen Sinne.

Einen konkreten Weg aus den ‚Labyrinthen‘ des falschen Lebens, in das wir alle uns verstrickt haben, kann und will Ariadne von Schirach uns trotz ihres Vornamens nicht aufzeigen, weil dieser für jeden Menschen anders verläuft und es eben deshalb keinen Leitfaden dafür gibt. Aber was sie gerade als Philosophin versuchen kann, ist, uns zu zeigen, auf welche Weise wir denken sollen; und das heißt, wie wir unser Leben denkend begleiten sollen; und das heißt wiederum, wie wir uns zu uns selbst verhalten sollen, um uns und die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie uns vorgegaukelt wird, wie sie angeblich sei. Kurz: Es geht um die rechte Art und Weise bei uns selbst und bei Anderen zu sein.

Ausgangspunkt dieser Einstellung eines Dabei-Seins, das uns über den bloßen, animalischen Lebensvollzug erhebt, ist das Kantische „Ich denke“, das alle unsere Wahrnehmungen und Erlebnisse begleiten können muß, damit sie unsere Wahrnehmungen und Erlebnisse sind. Zugleich aber reicht dieses „Ich denke“ weit über seinen transzendentalen Ermöglichungsgrund von Bewußtheit hinaus und in die Welt hinein, auf den anderen Menschen hin und auf alles, was uns in der Welt begegnet. Das „Ich denke“ enthält eine rekursive Dynamik: „Ich denke, daß Du denkst, weil ich es weiß und weil ich es fühle, daß Du denkst und deshalb ebenfalls weißt, daß ich denke.“

Auf diese denkende Weise eignen wir uns unsere eigenen Wahrnehmungen und Erlebnisse an, und mit ihnen eignen wir uns die Welt an, die wir mit „Liebe  und Bedeutung“ begaben, bis hin zu unseren Haustieren, deren Tod uns nahe geht wie der eines geliebten Menschen: „Denn ein Haustier ist erhoben aus der Welt der stummen Tiere und geadelt durch die Liebe und Bedeutung, die wir ihm geben, und doch zeigt sich in jedem Tier, das unser Leben geteilt und wieder verlassen hat, wie unendlich wert es dieser Liebe gewesen ist.“ (von Schirach 2014, S.67)

Dieses Dabei-Sein des Menschen bei allem, was ihm widerfährt, als Verwandlung dieser Widerfahrnisse in Erfahrung, Bildung und Verantwortung, ist einem Denken geschuldet, das den Blick fokussiert und ausrichtet: „Alle guten Dinge werden erzeugt, indem man sich ihnen zuwendet, sie pflegt und fördert und stärkt. Indem man den Blick darauf richtet und nicht ablässt, darauf zu blicken, allem Dreck und Schmutz der Welt zum Trotz.“ (von Schirach 2014, S.178)

Dieses Dabei-Sein wird durch eine Abhebung des Menschen aus dem Lebenskreis der Pflanzen und Tiere ermöglicht, eine Gabe, die ihn wiederum dazu befähigt den menschlichen und nicht-menschlichen Anderen vom komplexen Hintergrund des Lebens abzuheben und zu verbesondern, mit dem Anderen zu sein, so wie man mit sich ist. Von Schirach zitiert den entscheidenden Gedanken von Plessner aus den „Stufen des Organischen“ (1928/1975): „Der Menschheit Würde ist in ihre Hand gegeben. Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, sondern ebenso sehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm.“ (von Schirach 2014, S.62)

Dieser Abstand zu sich, zu Gott und eben auch zur Welt, seine exzentrische Positionalität, macht den Menschen fähig, nicht nur seine eigenen Empfindungen wahrzunehmen, sondern allem, was ihm begegnet eine Stimme zu verleihen, auf den stummen Blick der Kreatur, wie etwa einem Haustier, zu antworten und damit Verantwortung für sie zu übernehmen. Das beginnt, wie gesagt, mit der eigenen inneren Stimme: „Der Mensch weiß also sehr wohl, was gut und was schlecht ist. Er hat ein Gewissen, und diesem Gewissen sollte man zuhören ... Man muss das Lebendige in sich bewahren, es pflegen und fördern. Auf die eigene Stimme hören, die sagt, das mag ich, das hasse ich, das schmeckt mir.“ (von Schirach 2014, S.69)

Das Gewissen bildet also eine weitere notwendige Folge jener Apperzeption, von der Kant spricht. Es geht eben nicht nur darum, bei dem, was wir empfinden, zu denken, wie es dem transzendentalen Charakter der Kantischen Apperzeption entspricht, sondern darum, bei dem, was wir empfinden, uns etwas zu denken. Das ist die vollständige, echte Menschlichkeit, mit der wir von Schirach zufolge das dunkle Tier in uns überwinden: „Denn der Mensch kann das dunkle Tier, das er selbst ist, nicht töten, höchstens bezähmen, und der erste Schritt ist, es anzusehen, gütig und streng.“ (von Schirach 2014, S.64) – Diese Menschlichkeit ist es, die in der Trauer um das verstorbene Haustier mitschwingt.

Von Schirach zählt drei Formen dieses denkenden Dabei-Seins auf: Kultur, Verantwortung und Genuß, die den drei Entwicklungslinien der Kultur, des Individuums und der Biologie entsprechen, von denen in diesem Blog immer wieder die Rede ist. Auf die Verantwortung bin ich gerade schon zu sprechen gekommen. Von Schirach faßt sie prägnant in folgendem Satz: „Denn wir wissen im Gegensatz zu den Tieren vom Leiden und Leben der anderen und dieses Wissen ist das Wesen unserer Verantwortung.“ (von Schirach 2014, S.62)

Auch die Kultur definiert von Schirach als eine Form des wissenden Dabei-Seins: „... sie betrifft nicht nur die Weise, wie wir wohnen und essen und arbeiten, sondern auch, wie wir auf uns und unser Dasein Bezug nehmen.“ (von Schirach 2014, S.73) – Die Kultur ist also eine Form der gemeinschaftlichen Verantwortung, die das individuelle Gewissen überschreitet.

Die dritte Form, der Genuß, ist aber noch etwas Besonderes, das sich von den beiden anderen Formen des Dabei-Seins unterscheidet. Der Genuß bildet einen besonderen Aspekt unserer Körperleiblichkeit, wie ihn Plessner als Lachen und Weinen (1941/1950) beschrieben hat. Zunächst einmal bildet der Körper einen Lebensvollzug: „das Leben vollzieht sich an ihm“ (von Schirach 2014, S.47). Wenn wir genießen, vollzieht sich etwas in unserem Körper, an dem wir zwar beteiligt sind, das wir aber nicht unter Kontrolle haben. Deshalb ist der Genuß immer auch etwas Fremdes, dem Rausch Benachbartes. Oder anders: das „Fremde des Rausches“ wird im Genuß veredelt. (Vgl. von Schirach 2014, S.49)

So wie im Lachen und Weinen kommt uns der Körper im Genuß mit seiner Lebensfreude zu Hilfe und versöhnt uns mit den Plagen des Dabei-Sein-Müssens. Zugleich aber folgt dem Genuß mit der fehlenden Abständigkeit wie ein Schatten der Absturz, so daß wir uns nicht mehr an unserem Genuß erfreuen können. Bei allem Vollzugscharakter und gerade wegen dieses Vollzugscharakters ist der Genuß immer auch eine Kunst, eine Kunst des rechten Loslassens, wie es in der Kunst des Bogenschießens von Herrigel heißt.

Diese Nähe zum Rausch macht den Genuß erst recht zu einer besonderen Form unserer Menschlichkeit, und von Schirach hält deshalb fest: „Dem Genießen seinen dunklen Stachel zu ziehen, verwandelt es in bloßen Konsum.“ (S.50) – Dieser Satz richtet sich gegen einen Gesundheitsbegriff und gegen eine Psychohygiene, die „das Sprechen von sich eingeebnet, psychologisiert und standardisiert und so auf einen möglichst erfolgreichen Lebenslauf hin ausgerichtet“ hat. (Vgl. von Schirach 2014, S.74) – Diese Art, unsere Befindlichkeiten auszumessen und nicht nur zu be-werten, sondern auch zu ver-werten, ist inzwischen zu einer weiteren Spielart des Konsums geworden.

Von Schirach findet für die Differenz zwischen Konsum und Genuß eine geniale Formel, der ich am Schluß dieses Posts nichts mehr hinzuzufügen habe: „Konsumieren ist mehr vom Gleichen, und Genießen ist etwas vom Anderen.“ (Von Schirach 2014, S.51)

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