„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 24. April 2014

Zentrum und Peripherie: zum Sinn wissenschaftlicher Interdisziplinarität

(Dieser Text wurde im September 2013 auf der Tagung „Dialog der Wissenschaften“ an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg vorgetragen.)

Mit „Zentrum und Peripherie“ beziehe ich mich auf die „exzentrische Positionalität“ von Helmuth Plessner. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.292f.) Dabei ist mit ‚Zentrum‘ bzw. ‚Mitte‘ gemeint, daß sich der Mensch wie ein Außenweltding unter lauter Außenweltdingen ‚in‘ der ‚Mitte‘ der Welt befindet. Und mit ‚Peripherie‘ ist gemeint, daß er sich zugleich außerhalb der Welt an ihrem ‚Rand‘ befindet und seinen Blick auf sie richtet, als wäre er kein Teil von ihr. (Vgl. Plessner 1950/1941, S.200) Den Begriff der ‚Mitte‘ verwendet Plessner hier, wie ich finde, kontraintuitiv. Zumindestens mir geht es so, daß ich bei ‚Mitte‘ an die Mitte in mir, als Bewußtseinszentrum, denke. Aber ob intuitiv oder kontraintuitiv: an der Verhältnisbestimmung des Menschen zu sich und zur Welt ändert das nichts.

Bezogen auf mein Thema, die Interdisziplinarität, geht es um die spezifische ‚Positionalität‘ der Wissenschaft. Wenn es der Mensch ist, der wissen will, Fragen stellt und Forschung betreibt, und wenn das wesentliche anthropologische Prinzip in der exzentrischen Positionalität besteht, dann muß sich auch die Wissenschaft ‚positionieren‘. Oder andersrum: wissen wollen und Fragen stellen, also ein Wissenssubjekt sein, kann der Mensch überhaupt nur, weil er exzentrisch positioniert ist. Jedenfalls kommen wir als Wissenschaftler nicht um die Frage herum, wie wir uns zur Welt positionieren wollen. Neutralität, bewußter Verzicht auf ein Urteil, auf eine Positionierung im Sinne einer Werturteilsfreiheit, im Sinne einer vorurteilslosen Objektivität, ist nicht etwa der Beginn, sondern die Verunmöglichung von Wissenschaft.

Im welchem Sinne ist also die Wissenschaft exzentrisch positioniert? Sie ist es, insofern sie aus der Mitte der Lebenswelt stammt, aus der die Fragen kommen, die in der Wissenschaft gestellt werden und die sie, in einem zweiten Schritt, am Rande dieser Lebenswelt stehend, in ihren kritischen Blick nimmt und auf ihre Stichhaltigkeit und Relevanz prüft. In einem dritten Schritt gibt sie ihre immer nur vorläufigen Antworten in Form von Lösungen, von Technologien, an die Lebenswelt zurück.

Damit haben wir aber schon ein Problem: Die Antworten, auf die sich die Wissenschaft versteht, sind immer nur vorläufig. Die Technologien, die diesen Antworten auf dem Fuße folgen, haben aber die Tendenz, endgültig zu sein. Sie setzen Konsequenzen in die ‚Welt‘, die in ihren Folgen nicht berechenbar sind und die sich nicht rückgängig machen lassen. Um so verhängnisvoller ist es, wenn wir die Differenz zwischen Forschung – im Sinne von ‚Fragen stellen‘ – und Technologie – im Sinne von ‚Probleme lösen‘ – nivellieren. Das tun wir immer dann, wenn wir ‚Interdisziplinarität‘ nicht mehr als einen Sinnzusammenhang wissenschaftlicher Disziplinen verstehen, der durch gemeinsames Fragenstellen gekennzeichnet ist, sondern als technologisches Kompetenzzentrum zur Lösung tagesaktueller Bedürfnisse, welcher Art auch immer. Letzteres bedeutet nämlich, daß sich die Wissenschaft nicht mehr am Rande der Welt befindet, sondern in ihrem Zentrum, was tatsächlich viele so sehen.

So beschreibt es z.B. Norbert Bolz, der die Interdisziplinarität als „Konvergenz der Spitzentechnologien“ beschreibt. Allerdings weiß man bei ihm nie so recht, ob er solchen Feststellungen nun zustimmt oder ihnen kritisch gegenübersteht. Jedenfalls ist Bolz zufolge das Wissenwollen dem Know-How gewichen. (Vgl. Bolz 2012, S.16) An die Stelle des Verstehenwollens tritt „Black Boxing“. (Vgl. Bolz 2012, S.99) Wozu brauchen wir noch Einblicke in Ursache-Wirkungszusammenhänge, wenn es reicht, sie zu simulieren, um sie technologisch anwenden zu können? So tritt an die Stelle der guten alten Physik die Informatik.

Interdisziplinarität bedeutet dann nur noch die beliebige Kombinierbarkeit der Disziplinen durch Reduktion der Wirklichkeit auf kleinste Elemente: Bits, Atome, Neuronen und Gene. (Vgl. Bolz 2012, S.90) Die Welt wird deregionalisiert; die bisherige Trennung von Lebensbereichen – als Urbild jeder Disziplinarität – wird aufgehoben, und Pflanzen, Tiere, Menschen werden hybridisiert. (Vgl. ebenda)

Husserl hatte noch eine Entperspektivierung der Lebenswelt durch Mathematik diagnostiziert, insofern in der Mathematik alle Gegenstände eindeutig bestimmt und Teile eines wiederum eindeutig bestimmten Ganzen „aus reiner Rationalität, ein in seiner unbedingten Wahrheit einsehbares Ganzes von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“ bilden. (Vgl. Husserl 3/1996 (1935/36), S.20) Blumenberg hält dem entgegen, daß die mathematische Wissenschaft qua Technologieproduktion längst selbst zur Lebenswelt geworden ist. Die Technik ist, wie der Mythos und die Lebenswelt, begründungsunbedürftig geworden. Sie muß nur funktionieren. (Vgl. Blumenberg 2010, S.90) Keiner von uns versteht mehr den täglichen Gebrauch der Apparate in unserer Lebenswelt; keiner von uns will ihn hinterfragen. Bolz spricht mit Heidegger vom „Gestell“, und nach anfänglich durchaus kritischer Analyse feiert er sie am Ende als den Neuen Bund, mit Ingenieuren als Messiassen und mit Unternehmern als Aposteln. (Vgl. Bolz 2012, S.75f. und 90ff.)

Nimmt man Blumenbergs Lebensweltbegriff, so gibt es zur Lebenswelt keine exzentrische Position. Sie hat keinen Außenhorizont. Sobald wir sie in den Blick zu nehmen versuchen, löst sie sich auf bzw. sie verwandelt sich in etwas anderes, in einen Gegenstand, den wir distanzieren und fokussieren können. Sie selbst befindet sich aber als Lebenswelt immer im blinden Fleck. Sie ist wesentlich unsichtbar, so sieht es Blumenberg, im Unterschied zu Habermas, für den die Lebenswelt ganz im Gegenteil einen „Raum der Gründe“ bildet und dem Zugriff im argumentierenden Gespräch jederzeit zugänglich ist. (Vgl. Habermas 2012)

Die Blumenbergsche Version der Lebenswelt entspricht dem Noli-me-tangere der Plessnerschen ‚Seele‘. (Vgl. Plessner 1950/1941, 65) Plessner beschreibt die Seele als ein Geschöpf der Nacht, das aus den Tiefen unseres Bewußtseins aufsteigt, aber vor dem Tageslicht zurückschreckt. (Vgl. Plessner 1950/1941, 62) Sie will sich gleichzeitig zeigen und verbergen; sie will verstanden sein, aber nicht dingfest gemacht werden. Kurz: sie ist die Seinsweise exzentrisch positionierter Wesen wie der Mensch.

In diesem Sinne können wir die Lebenswelt als die ‚Seele‘ der Wissenschaft bezeichnen. Sie ist nicht der Raum der Gründe, auf die der Wissenschaftler einfach zugreifen könnte und durch die er in seinem Tun immer schon gerechtfertigt wäre. Sie ist vielmehr die Sinnquelle, der gegenüber er sich rechtfertigen muß. Und zugleich ist sie der dunkle Schatten, der allen unseren wissenschaftlichen Vorhaben und Projekten folgt und den wir kritisch auf Distanz halten müssen, um uns von ihm nicht vereinnahmen zu lassen.

Das ist eine interdisziplinäre Aufgabe. Oder sollte ich vielleicht besser sagen: eine transdisziplinäre? Der lebensweltliche Sinnzusammenhang durchzieht alle wissenschaftlichen Disziplinen und macht aus ihnen erst ein interdisziplinäres Projekt. Insofern ist die Lebenswelt transdisziplinär, als spezifischer Modus der exzentrischen Positionalität des Menschen.

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2 Kommentare:

  1. Löschbarer Kommentar:
    Mir fehlt zwischen Wissenschaft und der technologischen Anwendung, der Verweis darauf, das es ein Wirschaftsgut ist und sich somit zwangsweise verselbstständigt, weil eine Firma nicht pleite gehen will.

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  2. Zugegeben. Aber wenn die Firma pleite geht, dann endet damit auch die technologische Anwendung und die weiteren Konsequenzen für die Um- und Nachwelt bleiben minimal. Wenn die Firma nicht pleite geht, sondern von den neuen Technologien profitiert, beginnen erst die eigentlichen Probleme.

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