„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. April 2014

Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2/2013

(Wallstein Verlag, 96 S., franz. brosch., 9,90 €)

1. Expressivität und Apperzeption
2. Ort und Zeit
3. Nähe und Ferne

Das Fehlen einer anthropologischen Perspektive führt bei Ute Frevert, wie im letzten Post gezeigt, nicht nur zu einer kulturhistorischen Relativierung von Gefühlen. Es macht sie auch unempfindlich für eine weitere notwendige Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, die gerade, wenn es darum geht, dem Gefühl der Empathie gerecht zu werden, unverzichtbar ist. Zwar schwingt in Freverts Darstellungen diese Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft immer implizit mit, wie etwa in folgender Feststellung: „Der Ort, an dem solche Tugenden“ – wie „Selbstzucht“ und „Selbstregierung“ – „erlernt und praktiziert werden konnten, war die Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen.“ (Frevert 2013, S.47) – Doch Frevert geht hier auf die Unterscheidung zwischen ‚klein‘, also der Gemeinschaft, und ‚groß‘, also der Gesellschaft, nicht weiter ein, sondern nivelliert ihn gleich wieder mit einem Verweis auf Adam Smith, der unter der „Gesellschaft“ beides zusammenfaßt: „Freunde, Bekannte oder Fremde“, die allesamt unterschiedslos „den Einzelnen soziabel und mitfühlend“ machen. (Vgl. ebenda)

Während es also an dieser Stelle zu keiner prinzipiellen und strukturellen Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft kommt, deutet Frevert an anderer Stelle eine solche Differenzierung mit Verweis auf Hume und Lessing durchaus an: „Bereits Hume und Lessing hatten darauf aufmerksam gemacht, dass soziale und kulturelle Nähe Mitgefühl erleichtere, während Ferne ihm hinderlich sei.“ (Frevert 2013, S.67) – Auch Freverts Verweis auf Nietzsches Differenzierung zwischen „Nächstenliebe“ und „Fernstenliebe“ legt eine entsprechende Übertragung auf Gemeinschaft und Gesellschaft nahe: „Die Fernsten sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muss immer ein sechster sterben.‘()“ (Zitiert nach Frevert 2013, S.68)

Alle diese Gelegenheiten, in die Gemeinschaftsproblematik einzusteigen und so die Analysen zur Empathie zu vertiefen, werden von Ute Frevert nicht genutzt. Dabei hätte es nahegelegen, als Direktorin eines Max-Planck-Institutes, ihren Kollegen Michael Tomasello, ebenfalls Direktor eines Max-Planck-Institutes, in ihre Analysen mit einzubeziehen. Schon sein Ansatz, die Sprache auf Rekursivität und geteilte Intentionalität zurückzuführen, hätte Freverts sprachanalytische Passagen vor einer rein kulturhistorischen Verengung bewahrt, wenn sie z.B. die Möglichkeit der „Mitteilung“ mit einem „gemeinsamen Bedeutungs- und Referenzrahmen“ zu begründen versucht. (Vgl. Frevert 2013, S.11) Gegenüber der subjektiven Leistung, im anderen Menschen ein mir ähnliches Selbst wiederzuerkennen, können gemeinsame kulturelle Referenzrahmen ein zwar notwendiges, aber dennoch immer nur zweitrangiges Bedingungsgefüge bilden.

Desweiteren zeigt sich schon bei de Waal, noch mehr aber bei Tomasello, daß die Empathie kein einfaches, distinktes Gefühl ist, sondern ein komplexes Gefühlsphänomen, das sich aus verschiedenen physiologischen und kulturellen Quellen speist und sich dabei auf je verschiedene Weise in den Individuen konkretisiert. Auf Tomasellos Differenzierungen in seinem Buch „Warum wir kooperieren“ (2010) möchte ich hier jetzt näher eingehen. (Vgl. meinen Post vom 08.06.2012)

Tomasello unterscheidet zwischen Altruismus und Mutualismus. Aus Tomasellos gelegentlich etwas unübersichtlichen Differenzierungen zwischen diesen beiden Gefühlskomplexionen geht hervor, daß es Sinn macht, zwischen einem individuellen und einem sozialen Altruismus zu unterscheiden, während der Mutualismus als eine auf Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens beruhende Form der ‚Sympathie‘ dem Egoismus zumindestens nahesteht. Ich habe versucht, das in der folgenden Graphik zu veranschaulichen.

Unter dem Oberbegriff ‚Empathie‘ können wir mit Tomasello zwischen Altruismus und Mutualismus unterscheiden. Beim Altruismus ist wiederum noch einmal zwischen einem individuellen Altruismus als Nächstenliebe und einem sozialen Altruismus als Solidarität zu unterscheiden. Beide Altruismen entsprechen spezifisch individuellen Bedürfnissen und stehen dabei in einem wiederum unterschiedlichen Bezug zum Mutualismus. Der individuelle Altruismus verträgt keinen Mutualismus. Einem anderen Menschen helfen zu wollen, verträgt sich nicht damit, eine Gegenleistung zu erwarten. Der individuelle Altruismus ist völlig frei von jedem Egoismus. Schleicht sich auf irgendeine Weise ein Egoismus in diesen Altruismus ein, z.B. in Form des Geldes, mit dem jemand eine ‚Gabe‘ bezahlen möchte, wird der individuelle Altruismus korrumpiert. Der individuelle Altruismus stiftet eine Gemeinschaft. Das Geld zerstört sie.

Der soziale Altruismus, in Form der Gruppensolidarität, verträgt sich hingegen gut mit dem Mutualismus. Wenn sich jemand für gemeinsame Werte einsetzt oder einen Streit zu schlichten versucht, beinhaltet das immer auch einen impliziten Egoismus, den Erhalt der Gruppe, deren Schutz man genießt, zu sichern. Gruppen können diesen sozialen Altruismus stärken und steuern, indem sie ein damit verbundenes Verhalten belohnen und ihm öffentliche Anerkennung zollen. Die damit verbundenen Gefühlskomplexionen fallen unter den Oberbegriff der Ehre. Negative Steuerungsmechanismen haben mit öffentlicher Bloßstellung und Bestrafung zu tun und fallen unter den Oberbegriff der Scham.

Auch hier haben wir es also mit Empathie zu tun, so daß Freverts Feststellung, daß Scham und Ehre an Bedeutung verloren hätten, Empathie hingegen an Bedeutung gewonnen habe, so nicht zutreffen kann. Diese Gefühle hängen einfach zu eng zusammen.

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