„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. April 2014

Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 3/2013

1. Methode
2. Kontingenz
3. Rolle der Intellektuellen
4. Paradoxien
5. Lernen aus der Geschichte

Die Phänomene, mit denen sich der Historiker befaßt, verstecken sich hinter Konstellationen. Das könnte in der Geschichtswissenschaft zu einem Strukturalismus verleiten, in dem das Sinnerleben der betroffenen Zeitgenossen einem sekundären Determinismus von Strukturen geopfert wird. (Vgl. Münkler 2014, S.779 bzw. meinen Post vom 30.03.2013) Dann aber gäbe es nichts aus der Geschichte zu lernen, weil es keine Subjekte mehr gäbe, die etwas lernen könnten. Die historischen Strukturen bzw. Epochen wechselten dann einander ab und gingen gleichgültig über das Schicksal der ihnen unterworfenen Menschen hinweg.

Dem Begriff der Konstellation sind wir allerdings auch schon einmal in einem meiner Posts (vom 11.03.2014) zu Adorno begegnet. Dort ging es eben nicht um gleichgültige Strukturen, sondern um situativ eingebettete  Perspektiven, um Sinnerleben, also um das in aller Vermitteltheit unmittelbare Wahrnehmen von Möglichkeiten und Gelegenheiten. Genau in diesem Sinn muß sich Geschichte eben nicht einfach blind wiederholen, sondern es gilt aus ihr zu lernen, wie Münkler schreibt: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, zumindest nicht in exakt der Form, in der sie schon einmal stattgefunden hat. Aber die Konstellationen, die einer Ereignisabfolge zugrunde liegen, sind einander oft ähnlich, und nur deswegen hat die Formel Sinn, man könne und müsse aus der Geschichte lernen.“ (Münkler 2013, S.773)

Wie bei einer Sternenkonstellation müssen aus den historischen Ereignisabfolgen die Sinnstrukturen erst herausgelesen werden, und diese müssen wiederum auf das Sinnerleben historischer Akteure zurückgeführt werden können, damit wir vergangene und gegenwärtige Situationen aufeinander beziehen und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Dabei unterscheidet Münkler zwischen zwei Formen des historischen Lernens: „strategisches“ und „systemisches“ Lernen. (Vgl. Münkler 2013, S.776) Zu strategischem Lernen soll Münkler zufolge jeder Staat für sich selbst in der Lage sein, während systemisches Lernen auf wechselseiter Kommunikation und Austausch zwischen den Staaten beruht. So könnte man z.B. die EU (und die USA) als eine Art Lerngemeinschaft bezeichnen, die aus den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs hervorgegangen ist, während Putins Rußland momentan vor allem seine strategische Lernfähigkeit demonstriert, nachdem er aus den Erfahrungen mit der EU und den USA den Schluß gezogen hat, daß die Wiedereingliederung der Krim in Rußland konstellativ günstig ist, ohne das zuvor mit irgendjemandem zu kommunizieren. Was da an wechselseitiger Kommunikation nicht stattgefunden hat, kann man nur vermuten.

In Münklers vor den neueren Ereignissen geschriebenem Buch findet sich ein anderes Beispiel für strategisches und systemisches Lernen. Hier vergleicht Münkler das wilhelminische Deutschland um 1900 mit dem heutigen China: „Strategisches Lernen hieße in diesem Fall, dass China bestrebt sein müsste, die Fehler, die Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht hat, zu vermeiden – allerdings nicht in dem Sinne, dass es den ‚Griff nach der Weltmacht‘ überhaupt nicht anstrebte, sondern um ihn geschickter und umsichtiger vorzunehmen. Ein systemisches Lernen hingegen wäre darauf ausgerichtet zu verhindern, dass Konstellationen wie die, aus denen der Krieg von 1914 bis 1918 hervorgegangen ist, überhaupt entstehen. Während jede am Konflikt beteiligte Macht für sich allein und ohne Austausch mit anderen strategisch lernen kann, ist systemisches Lernen auf Kommunikation und Austausch angewiesen; die Lernergebnisse müssen kommuniziert werden, damit daraus Schlussfolgerungen für die Implementierung von Eskalationsblockaden und Verständigungsmechanismen gezogen werden können. Die Gefahr besteht darin, dass sich systemisches und strategisches Lernen gegenseitig blockieren. Aus keinem Krieg kann in dieser Hinsicht mehr gelernt werden als aus dem Ersten Weltkrieg. Er ist ein Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann.“ (Münkler 2013, S.776)

Erweisen wir uns also als lernfähige Zeitgenossen. Probleme gibt es wirklich genug. Dazu gehört aber vor allem, daß wir uns das Denken nicht von irgendwelchen „Deutungseliten“ (Münkler 2013, S.17f.) abnehmen lassen. Und dazu gehört, daß wir nicht in Gruppen (Freund/Feind, gut/böse) gegeneinander denken. Diese Gruppen sind in einer globalisierten Welt immer schon größer, als es für den einzelnen Menschen gut ist. Denken muß jeder für sich selbst.

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