„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 9. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

1. Der dritte Weg
2. Aperçu
3. Anthropologie
4. Karma
5. Nur beinahe

Faust bildet die europäische Verkörperung dessen, was im fernen Osten als ‚Karma‘ bezeichnet wird. An Faust arbeitet Goethe sein eigenes zwiespältiges Verhältnis zur Kausalität heraus. Sehr schön kommt das insbesondere in dem Verhältnis zwischen Faust und Mephisto zum Ausdruck, in dem Faust mal den Gedanken und Mephisto die Tat verkörpert und ein andermal Mephisto als Schatten des unermüdlich tätigen Faust bezeichnet wird: „Fausts Tüchtigkeit wirft einen Schatten, und Mephisto ist dieser Schatten.“ (Safranski 2013, S.619)

Dabei handelt es sich um einen dämonischen Schatten, denn Mephisto ist stets bemüht, Faustens Taten unheilvoll enden zu lassen: „Wenn die Kausalreihen zwischen der Tat hier und ihrer Wirkung als Untat dort kurz sind, sprechen wir von Schuld; sind sie etwas länger, ist von Tragik die Rede; Schuld und Tragik können, bei noch längeren Verursachungsketten, sich zu bloßem Unbehagen verdünnen. Solchem Unbehagen wird sich keiner entziehen können, dem bewußt geworden ist, daß er, ob er will oder nicht, ein Überlebender ist, der davon lebt, daß andere Not leiden und sterben. Mephisto, der erstens zum Weltkonsum anstachelt, verkörpert zweitens diesen abgründigen Schuldzusammenhang der Welt, dieses fatale Umschlagen einer Tat in eine Untat, sei es auf kurzen oder auf langen Wegen.“ (Safranski 2013, S.619f.)

Dieser uns schemenhaft verfolgende Schatten, die Unübersehbarkeit der Folgen unserer Taten entspricht nicht nur dem, was u.a. Hinduisten und Buddhisten als Karma bezeichnen. In seiner Wirkungsweise gleicht dieser Effekt auch dem Geld. Mit Blick auf die Gentrifizierung, die Verwandlung von heruntergekommenen, aber billigen Stadtteilen in teure Lifestile-Quartiere, hatte ich schon mal das Problem angesprochen, daß jedem Versuch, die Lebensqualität zu verbessern und alternative Lebenskonzepte zu entwickeln, wie ein Schatten das Geld folgt und Profit daraus schlägt. (Vgl. meinen Post vom 08.11.2013) Mit dem Profit aber wird genau jene Lebensqualität, die zuvor entstanden ist, vernichtet. Mit dem Geld werden immer schon Kausalreihen in Gang gesetzt, die persönliche Tragik und Schuld in ein bloßes Unbehagen umwandeln.

So sehr Goethe also sich selbst als tätigen Menschen verstand, der sich von dem eigenen „fortwährenden Tätigsein“ eine Art persönliche Unsterblichkeit versprach, war er doch nicht blind für die anonyme Unsterblichkeit der möglichen Folgen einer unbeschränkten „Tüchtigkeit“; in seinen eigenen Worten: „Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“ (Zitiert nach Safranski 2013, S.618)

Von diesem Gespür für die eigene Verstrickung in Schuldzusammenhänge her erklärt sich auch Goethes Bemühen, zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens mit früheren Lebensabschnitten ins Reine zu kommen und dabei nicht nur sein bisheriges Werk und sein bisheriges Leben zu sichten und zu prüfen. Er suchte auch immer wieder den Kontakt mit früheren, ihm ehemals nahestehenden Bekannten und Freunden, um eventuell erhalten gebliebene Unstimmigkeiten zu klären oder Schulden zu begleichen.

Dem inneren Drang nach Tätigkeit entsprach bei Goethe eine gewisse Allergie gegenüber den damit verbundenen Versuchungen einer hektischen Geselligkeit, die man auch als das Gegenbild zu einer von ihm propagierten geselligen Bildung verstehen kann. (Vgl. Safranski 2013, S.402; vgl. auch meinen gestrigen Post.) Diese hektische Geselligkeit ist nicht bildend, sondern entfremdend. (Vgl. Safranski 2013, S.570) Für sie findet Goethe das Bild vom „graugestrickte(n) Netz“ (vgl. ebenda), das sehr schön die schon erwähnte Unabsehbarkeit eines Geflechts von Folgen thematisiert, die überall dort außer Kontrolle geraten, wo wir die Gesellschaft nicht mehr als ein Spiel mit dem „Als ob“ verstehen (vgl. Safranski 2013, S.402). Das „Als ob“, die „Masken“, wie Plessner sagen würde, macht uns gegenüber den möglichen Folgen unseres Handelns überall dort frei, wo wir es nicht wirklich ernst meinen bzw. wo wir es nur auf vermittelte Weise ernst meinen; wo wir also mit unserem Handeln zwar ‚etwas‘ bewirken wollen, aber ohne ‚jemanden‘ dafür zu opfern.

Nehmen wir unsere Masken ernst, befreien sie uns nicht mehr, sondern sie nehmen uns gefangen, mit allen damit verbundenen, für uns unabsehbaren Folgen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen