„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 31. März 2014

Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 3/2013

1. Methode
2. Kontingenz
3. Rolle der Intellektuellen
4. Paradoxien
5. Lernen aus der Geschichte

Die Bereitschaft, großes Leiden auf sich zu nehmen und Opfer zu bringen, hängt, wie im letzten Post gezeigt wurde, vom Sinnangebot ab. Wird das Sinnbedürfnis befriedigt, sind Menschen zu nahezu allem bereit. Deshalb gehört zu den vielen technischen, sozialen und politischen Neuerungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, auf die im nächsten Post noch einzugehen sein wird, auch, daß der Erste Weltkrieg der erste „Weltanschauungskrieg“ (Münkler 2013, S.627) gewesen ist. Natürlich hat es schon früher Religionskriege gegeben, wie etwa den tatsächlichen Dreißigjährigen Krieg, mit dem der Erste Weltkrieg gelegentlich verglichen worden ist. Aber in der Hauptsache waren Kriege bis in das 19. Jhdt. hinein ‚Kabinettskriege‘, was bedeutet, daß es vor allem in der Entscheidungsgewalt einer Regierung bzw. eines Regierungsoberhaupts lag, ob ein Krieg geführt wurde oder nicht. (Vgl. Münkler 2013, S.792) Das Volk spielte dabei keine Rolle.

Der Erste Weltkrieg hingegen wurde in Deutschland vor allem vom deutschen Volk geführt, in doppelter oder dreifacher Hinsicht: zum einen war da die ganze Bevölkerungsschichten erfassende Begeisterung, mit der die Kriegsentscheidung des Kaisers entgegengenommen worden war; des weiteren waren da die Kriegsanleihen, die die bürgerlichen Schichten zeichneten und mit denen der Krieg finanziert wurde; und schließlich waren da die immensen Opfer an der „Heimatfront“, die aufgrund der „Hungerblockade“ der Entente erbracht wurden. Die Kriegsanleihen waren übrigens mit ein Grund, warum es den Politikern, allen voran dem deutschen Kaiser, mit der Zeit fast unmöglich geworden war, den Krieg frühzeitig zu beenden. Der Staat bzw das ‚Reich‘ war der Bevölkerung gegenüber dermaßen verschuldet, daß diese einen Verhandlungsfrieden nicht akzeptiert hätte, weil den Besitzern von Kriegsanleihen einfach zu viel Geld verloren gegangen wäre.

Der Erste Weltkrieg war also von Anfang ein Nationalkrieg, nicht nur auf deutscher Seite, sondern insgesamt vor allem an der Westfront, wo sich anders als an der Ostfront vor allem Nationalstaaten gegenüberstanden: England, Frankreich und das deutsche Reich. An der Ostfront hatte es das Deutsche Reich vor allem mit multinationalen Staaten zu tun, auf beiden Seiten: auf der eigenen Seite der Mittelmächte das Habsburger Reich und auf der Gegenseite Rußland. Dabei zeigte sich, daß der das eigene Volk mit einbeziehende Nationalstaat im Krieg multinationalen Staaten haushoch überlegen war. (Vgl. Münkler 2013, S.759) An der Ostfront gewannen die Deutschen eine Schlacht nach der anderen und zwangen schließlich Rußland zu einem ungleichen Frieden (Brest-Litowsk), bei dem alle Vorteile auf der deutschen Seite lagen. Österreich spielte bei allen diesen Schlachten nur eine untergeordnete Rolle.

Mit der großen Bedeutung, die die jeweils eigene Bevölkerung für diesen Krieg gewann, wurde auch die politische Propaganda auf beiden Seiten der Kriegsparteien, insbesondere der Westfront, zu einem wichtigen Instrument der Kriegsführung. (Vgl. Münkler 2013, S.215-288) Während sich die Entente, also vor allem Frankreich und England, dabei des Schemas gut/böse bedienten, mit dem häßlichen Deutschen als dem inkarnierten Bösen – im Ersten Weltkrieg wurde auch erstmals der Begriff des „Kreuzzugs“ verwendet, erst von den Briten, dann von den USA (vgl. Münkler 2013, S.789) –, hatten die Deutschen eher ein allgemeineres Problem: nämlich das der Begründbarkeit dieses Krieges. Nach der ersten Begeisterung, mit der die Deutschen in den Krieg gezogen waren, machte sich ein erhebliches Sinndefizit bemerkbar.

Franzosen und Engländer hatten es da einfacher: die Franzosen (und Belgier) verteidigten ihr eigenes Land, auf dessen Boden sich große Teile der deutschen Armee befanden. Die Engländer wiederum glaubten, ihre weltpolitische Vorrangstellung gegenüber einem erstarkenden Konkurrenten wie dem deutschen Reich verteidigen zu müssen. „Die Deutschen selbst hingegen“, so Münkler „hatten von allen beteiligten Großmächten die größten Schwierigkeiten, auf die Frage nach dem Sinn des Krieges eine angemessene Antwort zu finden.“ (Vgl. Münkler, 2013 S.216)

Die Folge war, daß Intellektuelle, „vor allem Theologen und Philosophen sowie Geisteswissenschaftler im weiteren Sinne“, eine wichtige Rolle für die deutsche Kriegspropaganda spielten. (Vgl. Münkler 2013, S.216) Das schmälerte den Einfluß der Politik auf das Kriegsgeschehen, der auch schon dadurch gemindert war, daß aufgrund der Wankelmütigkeit des deutschen Kaisers die Militärs zunehmend an Bedeutung gewannen. Insbesondere diejenigen Intellektuellenkreise, die Münkler als „Intentionalisten“ bezeichnet, gewannen hier eine unheilvolle Bedeutung: „Bezeichnenderweise waren die Wissenschaftler und Intellektuellen, die in Deutschland den propagandistischen Flankenschutz für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg organisierten, überwiegend Vertreter von Disziplinen, in denen mehr Wert auf die Intentionalität des Handelns als auf dessen funktionelle Effekte gelegt wurde. Der Bedeutungsgewinn, den die Sozial- gegenüber den Geisteswissenschaften nach dem Krieg verbuchen konnten, hatte auch mit den politischen Irrtümern und falschen Ratschlägen dieser Intentionalisten zu tun. Die Geisteswissenschaften, die stets mit dem ‚reinen Herzen‘ und der ‚aufrechten Absicht‘ argumentiert hatten, wurden nun unter sozialwissenschaftlichen Vorbehalt gestellt.“ (Münkler 2013, S.584f.)

Wer wie die Intentionalisten mit dem „reinen Herzen“ und der „aufrechten Absicht“ argumentiert und die Befürworter eines Verhandlungsfriedens als Feiglinge und Verräter diffamiert, nimmt der Politik jeden Handlungsspielraum: „Wer allerdings in dieser Weise vom Sinn des Krieges an sich überzeugt war, hielt nicht nach politischen Kompromissen Ausschau, um ihn zu beenden.“ (Münkler 2013, S.217)

Bis heute ist die Beurteilung von Kriegsparteien nicht nur nach dem Freund-Feind-Schema, sondern auch nach dem gut-böse-Schema bis hin zur Kreuzzugsrhetorik ein verbreitetes Mittel politischer Argumentation. Noch heute, angesichts der Krim-Krise, versteht sich die westliche Welt gegenüber der östlichen Macht, also Rußland, als die gute Seite. Schon Max Weber hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf die dämonische Wirkung vermeintlich guter Absichten hingewiesen, die darin besteht, daß sich gute Absichten in der Politik, insbesondere aber im Krieg, immer wieder in „schlechte Wirkungen“ verkehren. (Vgl. Münkler 2013, S.585)

Diese Kritik ist soweit durchaus einleuchtend. Aber mir fehlt bei Münkler diesbezüglich eine weitergehende Differenzierung zu den nicht nur negativen Auswirkungen einer Politik, die sich einer moralischen Grundhaltung verpflichtet weiß, – auch und gerade in Kriegszeiten mit den ihnen eigenen moralischen Paradoxien. Man denke auch an die moralischen Implikationen der Globalisierung: Die Menschen müssen in einer globalisierten Welt zusammenleben. Die damit verbundenen Probleme lassen sich nicht auf Machtpolitik reduzieren.

Wir haben es also unvermeidbar mit Problemen der Sinngebung zu tun. Und in dieser Hinsicht ist der Erste Weltkrieg überaus lehrreich. Hier zeigen sich nämlich auch die Grenzen der Propaganda. Und das nicht nur im Sinne der mit jedem Krieg sowieso schon einhergehenden Paradoxien, die strategisches Handeln so schwierig und fast schon unmöglich machen. Die Kontingenz der Ereignisse erweist sich immer wieder als strategisch unberechenbar. Was jedenfalls im Ersten Weltkrieg mit propagandistischen Mitteln keineswegs verschleiert werden konnte, ist das massenhafte Sterben der Soldaten in den Materialschlachten. Massenhaftes Sterben läßt sich offensichtlich unter keinen Umständen als sinnhaft darstellen. An der Westfront kam es insbesondere auf französischer Seite immer wieder zu Kampfstreiks. (Vgl. Münkler 2013, S.593-619) Ansonsten hatten es vor allem multinationale Kriegsparteien wie Rußland und das Habsburger Reich mit diesem Problem zu tun. Hier war anscheinend vor allem die fehlende nationale Sinngebung das Problem.

Hier stellt sich nun die interessante Frage, warum Kampfstreiks auf deutscher Seite so selten waren und erst vor allem gegen Ende des Krieges im zunehmenden Maße auftraten. Woher kam die enorme Opferbereitschaft der deutschen Soldaten? Um das zu erklären, unterscheidet Münkler zwischen zwei Formen des Opfers: dem sinnvollen und dem sinnlosen Opfer, der „sacrificia“ und der „victima“. (Vgl. Münkler 2013, S.226) Mit der anfänglichen, massenhaften Begeisterung der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs stimmte sich die Gesellschaft insgesamt auf eine Gemeinschaftsidee ein, die das sich-Opfern für die Volksgemeinschaft als durch und durch sinnhaft wahrnehmen läßt. Schon vor der Kriegserklärung hatten sich die Bürger auf den Straßen und in den Cafés auf diesen Opfergedanken eingestimmt: „Im gemeinsamen Gesang vollzog sich die Selbstverwandlung der victima zur sacrificia.() Was sich zunächst in den Cafés im Kleinen abspielte, holte wenig später das Augusterlebnis im Großen nach: die Transformation der viktimen Gesellschaft in eine sakrifizielle Gemeinschaft. ... Die Stimmung des Sakrifiziellen konnte sich darum durchsetzen, weil sie ein Sinnangebot enthielt, das der viktimen Haltung fehlte.“ (Münkler 2013, S.226)

Das Sakrifizielle bzw. Heilige dieses Opfergedankens ging dann im späteren Verlauf des Krieges auch auf deutscher Seite verloren: „Infolge der großen Materialschlachten der Westfront wurde der Opfergedanke ... aus dem Sakrifiziellen ins Viktime zurückgebogen: Hatte in der Gesellschaft im Sommer und Herbst 1914 noch eine überschwängliche Bereitschaft bestanden, sich für die Gemeinschaft zu opfern,() so empfand sie die Verluste an der Front nun zunehmend als sinnlos und die Opfer als erzwungen. In dieser Erfahrung des Viktimen, des Geopfertwerdens, kam das Opfer als rettende Tat kaum noch vor, und so wurde die Bereitschaft zum Selbstopfer allmählich zu fragil, als dass sich die Militärführung darauf weiterhin verlassen konnte.“ (Münkler 2013, S.467)

Wieso kam es dann aber bei den deutschen Soldaten nicht zu massenhaften Kampfstreiks, wie bei den Franzosen, Russen, Österreichern und Italienern? Die Antwort liegt anscheinend in einer veränderten Kampfführung auf deutscher Seite. Im Stellungskrieg an der Westfront wurden die deutschen Soldaten nicht mehr in einer konzentrierten Kampflinie aufgestellt, sondern in gestaffelten Linien hintereinander. An der vordersten Linie befanden sich kleinere Stoßtrupps, die unabhängig voneinander kämpften und deren Offiziere angepaßt am wechselnden Kampfgeschehen eigene Entscheidungen treffen konnten. Das vermittelte den Soldaten den Eindruck, nicht einfach nur unterschiedslos mit der Masse der Kameraden aufgeopfert zu werden und unterzugehen, sondern mit dem eigenen Einsatz auch einen eigenen Beitrag zum Kampfgeschehen zu leisten. Anhand einer von Ernst Jünger beschriebenen Episode in der Flandernschlacht zeigt Münkler, wie innerhalb eines großen, unüberschaubaren Ereignisses wie einer Schlacht, die insgesamt als sinnlos erscheint, auf einzelne Kampftrupps begrenzte Sinnerfahrungen „des Weiterkämpfens“ gemacht werden konnten. (Vgl. Münkler 2013, S.647ff.)

Die Überdehnung des Gemeinschaftsgedankens auf ein ganzes Volk trägt auf die Dauer nicht. Wenn die Kriegserfolge ausbleiben, erscheint das eigene Sterben als zunehmend sinnlos. Der Gemeinschaftsgedanke funktioniert nur im Kleinen.  Sönke Neitzel und Harald Welzer (5/2011) beschreiben diese Kampfgemeinschaft als „totale Gruppe“, in der Gruppendenken vorherrscht. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2011) Anthropologisch gesehen entspricht es offensichtlich einfach nicht der Natur des Menschen, in Gruppen mit mehr als 150 Individuen zu leben. Das mit größeren Gesellschaften verbundene Sinndefizit kann keine Propaganda dauerhaft ausgleichen.

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