„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 30. März 2014

Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 3/2013

1. Methode
2. Kontingenz
3. Rolle der Intellektuellen
4. Paradoxien
5. Lernen aus der Geschichte

In den bisherigen, insbesondere den deutschen Darstellungen des Ersten Weltkrieges bis in die 1980er Jahre hinein wurde vor allem dessen Unvermeidbarkeit und ineins damit auch des Zweiten Weltkrieges hervorgehoben. Beide Weltkriege mitsamt dazwischenliegender Zwischenkriegszeit von 1914 bis 1944 wurden dann auch gerne mit dem Dreißigjährigen Krieg verglichen, womit noch einmal die geschichtliche Zwangsläufigkeit dieser die globale Hegemonie Europas beendenden Kulturkatastrophen hervorgehoben wurde. Den Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg relativiert Münkler, wenn er ihn allenfalls für den Balkan gelten lassen will. (Vgl. Münkler 2013, S.757) Ansonsten aber bestreitet er ganz energisch jeden Determinismus im geschichtlichen Ablauf der Ereignisse, der unter anderem darin besteht, im Attentat auf den österreichischen Erzherzog in Sarajewo nur einem ‚Anlaß‘ zu sehen, an dessen Stelle sich, wenn er ausgeblieben oder mißlungen wäre, genügend andere Anlässe gefunden hätten. (Vgl. Münkler 2013, S.28f.)

Münkler hält es „durchaus einer genaueren Untersuchung wert, ob das Attentat von Sarajewo vielleicht doch mehr war als eben nur ein Anlass, ob die übrigen Faktoren womöglich gar nicht zum Krieg geführt hätten, wenn es diesen Mordanschlag nicht gegeben hätte. Wirklich ausschließen kann das nur eine Geschichtsbetrachtung, die den Krieg als überdeterminiert ansieht.“ (Vgl Münkler 2013, S.28) – Er selbst hält die These von der Überdetermination des Ersten Weltkrieges jedenfalls für eine bequeme Ausflucht, die es den verantwortlichen Politikern und den Verlierermächten, allen voran dem Deutschen Reich bzw. dessen Nachfolgerin, der Weimarer Republik, und später der jungen BRD ermöglichte, sich der Frage nach der persönlichen Verantwortung und Schuld nicht stellen zu müssen. (Vgl. Münkler 2013, S.778, 782)

Dabei ist Münkler durchaus nicht der Ansicht, daß die ‚Kriegsschuld‘ allein auf deutscher Seite zu suchen sei. Weder der Kaiser noch die deutschen Politiker noch die deutschen Militärs noch die Industriellen, hatten den Ersten Weltkrieg von langer Hand vorbereitet und entschieden auf ihn hingearbeitet, wie es in der Geschichtsforschung bislang dargestellt worden war. In dieser Fehldarstellung kommt Münkler zufolge neben dem verbreiteten Vermeidungsverhalten in Schuldfragen noch ein anderes menschliches Bedürfnis zum Ausdruck: „Sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler haben die Kontingenz eines Geschehens in strukturellen Determinanten verschwinden lassen, und dieses Bedürfnis nach Kontingenzreduktion hat entscheidend zum Siegeszug der sekundären Determinationstheorien beigetragen. Darunter sind jene geschichtstheoretischen Konzepte zu verstehen, die nicht das Handeln der Akteure von 1914 beeinflusst haben, sondern in historischer Perspektive zu erklären versuchen, warum dieser Krieg ‚überdeterminiert‘, letztlich also unvermeidlich gewesen sei.“ (Münkler 2014, S.779) – Auch in der Geschichtswissenschaft führt der Strukturalismus also zu einer Eliminierung der subjektiven Perspektive.

Sozialpsychologisch gesehen war es für die Betroffenen und ihre Nachkommen bis in die 1980er Jahre hinein offensichtlich unerträglich, daß so gravierende Ereignisse wie der Erste und der Zweite Weltkrieg das Ergebnis von Zufällen gewesen sein sollten und auf individuelle Unzulänglichkeiten verantwortlicher Personen und Personenkreise zurückgeführt werden könnten. Das hätte das massenhafte Leiden und Sterben entwertet und im nachhinein als sinnlos erscheinen lassen. Der Mensch ist aber anscheinend in der Lage, praktisch alles zu ertragen und sich seinem ‚Schicksal‘ zu ergeben, wenn er sich nur einreden kann, daß es einen ‚Sinn‘ macht. Er glaubt dann lieber an Verschwörungstheorien und an die „Dolchstoßlegende“, als sich der Sinnlosigkeit des Geschehenen zu stellen.

Münkler differenziert zwischen „Ereignis“ und „Geschehnis“ dahingehend, daß Ereignisse in den „Geschichtsverlauf“ eingreifen und ihm eine grundsätzlich andere Richtung geben, während Geschehnisse diesem Geschichtsverlauf „immanent“ sind: „Die Kontingenz der Geschehnisse ist für uns kein großes Problem, weil von ihr keine grundlegenden Fragen aufgeworfen werden. Aber Ereignisse transzendieren die Normalität oder Banalität des Geschehens; in ihnen stellt sich die Frage nach dem ‚Wozu‘ und ‚Warum‘. Diese Frage bleibt unbeantwortet, wenn Ereignis und Kontingenz zusammenkommen. Sobald die Vermutung auftaucht, der Zufall habe seine Hand im Spiel gehabt, sind wir bemüht, das Ereignis auf das Niveau eines Geschehnisses herabzustufen.“ (Münkler 2013, S.779f.)

Lassen sich aber trotz gewissenhafter Nachforschung und Durchsicht der zur Verfügung stehenden Dokumente und Zeugen keine herausragenden, die Fäden der Ereignisse in den Händen haltenden Geschichtsheroen, Interessengruppen oder ominösen Geheimbündler namhaft machen, die eindeutig und unbeirrbar auf den Ersten Weltkrieg hingearbeitet hatten, „so kehrt“, wie Münkler schreibt, „die Kontingenz in die Ereignisse zurück“. (Vgl. Münkler 2013, S.28f.)
Nebenbei bemerkt: Angesichts des die menschliche Natur kennzeichnenden Anachronismusses aus drei Entwicklungslinien, der biologischen, kulturellen und der individuellen, hatte ich schon immer meine Zweifel an Verschwörungstheorien, die nicht nur wie beim Ersten und Zweiten Weltkrieg lediglich dreißig Jahre umfassen, sondern die auch von oft Jahrhunderte hindurch in ungebrochener Kontinuität wirkenden Geheimorganisationen ausgehen, etwa den Illuminati oder dem Opus Dei oder wie sie alle heißen. Wie schwer es einem einzelnen Menschen fällt, unter wechselnden Lebensumständen die eigenen Lebensziele nicht aus den Augen zu verlieren, kann jeder für sich selbst beurteilen. Dasselbe aber über Generationen hinweg zu institutionalisieren und durchzuhalten – eine Sache ausgeklügelter Pädagogik und Initiation –, ist noch ein ganz anderes Kaliber. Kurz: Diesen Geheimorganisationen müßte gelingen, womit die meisten Eltern ihren eigenen Sprößlingen gegenüber scheitern. Da ist Kontingenz tatsächlich die vernünftigere Hypothese.
Zurück zu Münkler: Zur Kontingenz gehören nicht nur die Wechselfälle unberechenbarer Ereignisse. Zu ihr gehört auch das, was die jeweiligen Akteure wissen und was sie nicht wissen; wobei das Wissen selbst aber weniger ausschlaggebend ist, als wie sie das, was sie wissen, bewerten, also ihre subjektive ‚Zutat‘. Sowohl ein Zuviel wie auch ein Zuwenig an Wissen konnte zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen der am Krieg beteiligten Parteien führen. Einer der Faktoren, die auf deutscher Seite dazu beitrugen, ein britisches Vermittlungsangebot, das den bevorstehenden Krieg verhindert hätte, abzulehnen, war die von einem Spion in der Londoner Botschaft Rußlands gelieferte Information „über eine gegen Deutschland gerichtete Marinekonvention“ zwischen England und Rußland. Der deutsche Reichskanzler maß „den britisch-russischen Gesprächen ein größeres Gewicht bei, als ihnen tatsächlich zukam“. (Vgl. Münkler 2013, S.16)

In einem anderen Fall hätte es im deutschen Reichstag „vermutlich keine Mehrheit für die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ gegeben, wenn man gewußt hätte, daß in Rußland wenige Wochen später die Revolution ausbrechen würde. (Vgl. ebenda) Ohne den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wäre es aber nicht zum Kriegseintritt der USA gekommen: „Im einen Fall war es ein Zuviel, im anderen ein Zuwenig an Wissen, das über Krieg oder Frieden, Eskalation oder Begrenzung entschied.“ (Münkler 2013, S.16)

Individuelles Wissen oder Nicht-Wissen und seine subjektive Bewertung machen also einen Großteil der Kontingenz aus, mit der historische Großereignisse wie der Erste Weltkrieg ihren Anfang nehmen, und sie bestimmen auch die Richtung, in die sie verlaufen. Alles in allem: das ist doch sehr ernüchternd.

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