„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

13. Prolog: Das Geburtstagsgeschenk
14. Schwarze Löcher, Vakuum
15. Noch einmal: Mehrwert
16. Eine ‚kritische‘ Bilanz

In der Geschichte vom Geburtstagsgeschenk wird gezeigt, wie das Geldgeschenk, das mein Neffe erhielt, ein wunderschön gestalteter Geldschein, hinter einem Banktresen verschwindet. Was mein Neffe staunend in der Hand gehalten hatte und vielleicht gerne in einer verborgenen, nur für ihn zugänglichen Mappe aufbewahrt oder – für alle sichtbar – hinter Glas gerahmt an die Wand gehängt hätte, war plötzlich nicht mehr da. Dort hinterm Glas, dem Licht ausgesetzt, wäre der Geldschein vielleicht mit der Zeit gealtert. Oder mein Neffe hätte ihn beim häufigen Herausnehmen aus der Mappe, um ihn zu betrachten, irgendwann geknickt und zerknittert. Irgendwann wäre der Geldschein, wohl noch nicht zu Lebzeiten meines Neffen, aber doch irgendeiner Enkelgeneration, verloren gegangen. Er wäre den Weg aller Dinge gegangen, die sich irgendwann verbrauchen und vergehen.

Das war aber nicht das Schicksal dieses Geldscheins gewesen. Wie von den Großeltern vorgesehen, wurde er auf das neu eröffnete Konto meines Neffen eingezahlt. Geldscheine altern nicht. Alte und unbrauchbar gewordene Geldscheine – wie z.B. beim Waschen versehentlich in die Wäsche geratene Scheine – werden sogar umstandslos von der Bank gegen neue, frisch gedruckte Geldscheine ausgetauscht. Man stelle sich nur mal vor, jemand wollte versuchen, seinen alten klapprigen Gebrauchtwagen gegen ein schnittiges, niegelnagelneues Fabrikmodell einzutauschen!

Man sieht gleich, wo der Unterschied ist. Gebrauchsgegenstände verlieren an Wert. Geld hingegen nicht! Natürlich gibt es so etwas wie Inflation. Das kennen ‚wir‘ Deutschen besonders gut. Die Inflation ist aber nur eine Art Regulierungsmechanismus, damit sich der Wert des Geldes nicht allzu weit von den Tauschwerten der Waren wegentwickelt. Zu so einer inflationären Entwicklung kann es aber nur kommen, weil das Geld den Wert der Waren, für die es eingetauscht wurde, tatsächlich bewahrt, während die Waren selbst im ‚Konsum‘ – wie z.B. beim Betrachten eines Bildes (und bestünde dieses auch nur aus einem Geldschein) – verbraucht werden und verschwinden: „Es ist geradezu die Bestimmung der gewöhnlichen Waren, einerseits im Herausfallen aus der Zirkulation und im Verschwinden im Konsum auch aus der Zeit zu fallen und zu vergehen, aber andererseits als Tauschwerte durch die Geldware in der Zeit zu bleiben und gegenwärtig zu sein ...“ (Engster 2014, S.657)

Wie kann das sein? Wie kann etwas einerseits verschwinden und „aus der Zeit fallen“, aber andererseits in der Zeit bleiben und gegenwärtig sein? – Indem es gezählt wird! Wenn ich etwas zähle, verwandle ich Qualität in Quantität. Das Prinzip dieses Zählens bzw. ‚Rechnens‘, wie es Engster lieber nennt, habe ich schon in meinem Post zum Satz vom Sein (vom 12.03.2014) diskutiert.

Es ist ganz simpel: indem ich die empirische Erscheinungsvielfalt der Phänomene auf ihre Zählbarkeit reduziere – indem ich sozusagen von einer Vielheit von Eins ausgehe –, mache ich sie nicht nur vergleichbar, sondern auch austauschbar. Normalerweise schränkt man im alltäglichen Leben solche Vergleichbarkeiten ein, wie sich z.B. in der Redewendung, daß man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen könne, zeigt. Das Geld aber macht solche feinen Unterschiede nicht. Es konstituiert eine (ökonomische) Wirklichkeit, die der stofflichen Erscheinungsvielfalt der Waren gegenüber gleichgültig ist. Eine Wirklichkeit, die alles auf diese Zählbarkeit reduziert, beschreibt auch der Hegelsche Satz vom Sein, demzufolge Sein und Nichts dasselbe sind. (Vgl. Engster 2014, S.377, 655)

Dabei haben wir es aber mit einem Sein zu tun – und das Geld ist von dieser Art –, das, gerade weil es völlig unbestimmt ist, nach Bestimmung regelrecht giert. Es verhält sich wie ein Vakuum oder wie ein schwarzes Loch, das die Materie bzw. die ‚Bestimmungen‘ der stofflichen Erscheinungsvielfalt in sich aufsaugt und ständig nach neuer Materie und nach neuer Bestimmung verlangt, – einzig und allein, um es zählen zu können und so zu suggerieren, die verschwundene Materie würde auf diese Weise ‚bewahrt‘. Das Geld ist also ein Nichts, das bedürftig ist nach Bestimmung, ein Vakuum, das nach Füllung verlangt!

Die geschichtliche und zeitliche Dynamik des Geldes, die es in Form eines gesellschaftlichen Fortschritts aus sich heraustreibt (vgl. Engster 2014, S.651, 688, 719), besteht also in dieser Unbestimmtheit, die es als spezifisch gesellschaftliches Maß auszeichnet. Naturwissenschaftliche Maße versuchen, ihr jeweiliges Maß möglichst genau zu fixieren. Sekunde und Meter sind nicht variabel. Die einzigen Veränderungen in der Maßbestimmung bestehen darin, daß man sie noch exakter zu fixieren versucht, als es bislang gelungen ist: „Durch die qua Messung herausgeforderten Werte lassen sich die Eigenschaften der Natur dann nicht nur identifizieren, diese Eigenschaften können auch formalisiert und durch Gesetze zeitlich gehalten oder in der Zeit identisch gehalten werden; d.h. die einmal identifizierten Natureigenschaften sind nach ihrer Formalisierung jederzeit identifizierbar und theoretisch reproduzierbar.“ (Engster 2014, S.648f.)

Die gesellschaftliche ‚Natur‘ besteht hingegen darin, daß sie durch ihr Maß, dem Geld, immer wieder neu bestimmt werden muß: „Die Geldware (steht) für eine noch unbestimmte Werteinheit, und die Werteinheit wird überhaupt nur zu einem bestimmten Quantum durch die Identifikation mit dem gemessenen Verhältnis der Waren.“ (Engster 2014, S.651)

An die Stelle exakter und dauerhaft fixierter Werte treten zwar ebenfalls exakt berechenbare Werte, die aber nur „Durchschnittswerte“ bilden und deshalb keineswegs dauerhaft sind, sondern im Gegenteil mit jedem Kaufakt neu ermittelt werden müssen. Wir haben es mit einem in der Zeit veränderlichen Wert zu tun, der allerdings den gesamten zeitlichen Veränderungsprozeß zu jeweiligen bestimmten Zeitpunkten, in denen Kaufakte stattfinden, mittels der Festlegung von Durchschnittswerten in Form von Preisen erfaßt: „... die Zeit wird also gerade identisch gehalten durch ihre beständige Quantifizierung. Das Geld gibt Zeit im Sinne einer Gabe, aber es gibt die Zeit nur und immer schon durch die endlichen Werte, die es aufseiten der Waren realisiert.“ (S.653)

Wieder einmal spricht Engster also von einer ‚Gabe‘. (Vgl. Engster 2014, S.14, 233, 437, 653, 698) Aber es ist eine Gabe, die die Erscheinungsvielfalt der Waren in endliche Werte, in Durchschnittswerte, auflöst und als solche in der Zeit bewahrt. Es ist eine Gabe, die einen Entzug beinhaltet (vgl. meinen Post vom 18.03.2014), ein saugendes Nichts, ein schwarzes Loch.

Was das Geld, derweil die Waren aus der Zeit fallen, als ‚Wert‘ bewahrt, ist ‚tot‘ bzw., wie Engster sich ausdrückt, „untot“ (Engster 2014, S.662), erfüllt von dem verzehrenden Verlangen noch untoter zu werden, sprich: Mehrwert zu produzieren. Dazu mehr im folgenden Post.

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