„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 17. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

11. Denkformen und Gegebenheitsweisen
12. Lebenswelt, Gabe und Entzug

In dem Kapitel, das in den folgenden zwei Posts zur Besprechung ansteht, schließt Engster die Diskussion zur Rezeption von Marxens Kritik der politischen Ökonomie ab. Er verweist auf zwei Pole innerhalb der „an Marx orientierten Theorien des Werts“: „Auf dem einen Pol stehen an Warentausch, Zirkulation und Markt ausgerichtete Theorien des Werts“, so Engster, die vor allem die Wertform, also die Waren ins Zentrum ihrer Analysen stellen. Zu diesen Theorien zählt Engster vor allem die Kritische Theorie (Adorno) und Sohn-Rethel. Den anderen Pol, der sich vor allem auf die Wertsubstanz, also auf die Arbeit konzentriert, bilden der traditionelle Marxismus, die Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, Marxismus-Leninismus, I. und II. Internationale und Realsozialismus. (Vgl. Engster 2014, S.549) Auch der junge Lukács müßte wohl diesem zweiten Pol zugeordnet werden, wenngleich er nicht direkt die Arbeit selbst, sondern die Ware Arbeitskraft, in der sich Wertform und Wertsubstanz verschränken, ins Zentrum seiner Theorie stellt.

An Sohn-Rethel interessiert Engster vor allem dessen Versuch, an Kant anzuschließen und dessen reine Verstandes- und Anschauungsformen aus einem gesellschaftlichen Grundverhältnis abzuleiten, das Sohn-Rethel zufolge alle vergesellschafteten Individuen miteinander teilen: aus der „Tauschhandlung“ (vgl.u.a. Engster 2014, S.526). In der Tauschhandlung vollziehen wir eine, wie Sohn-Rethel es nennt, „Realabstraktion“; d.h. wir abstrahieren „von der stofflichen Beschaffenheit der Dinge“ und ihrem Gebrauchswert. (Vgl. Engster 2014, S.523) So abstrahieren wir also schon auf der empirischen, „prämonetären Ebene des Warentauschs“ (Engster 2014, S.560) von den Besonderheiten der Dinge und verwandeln sie in gegenseitig austauschbare, im Tauschwert identische Wertäquivalente: in Waren. Und es ist genau diese Warenform, also die Identität dieser ‚Gesellschaftsdinge‘, die Sohn-Rethel zufolge als „Einheit von Denkform und Warenform“ (vgl.u.a. Engster 2014, S.526) auch schon den Verstandes- und Anschauungsformen von Kant zugrundeliegt. Denn letztlich dienen auch die Kantischen Kategorien dazu, die sinnliche Erscheinungsvielfalt zu ordnen und auf einige wenige Denkformen zurückzuführen.

Auch Kants Ding-an-sich führt Sohn-Rethel auf diese Transformation von Naturdingen in Gesellschaftsdinge zurück. Und zwar in zweifacher Weise: einmal als im Tauschwert verschwindende Erscheinungsvielfalt der Gebrauchgegenstände. Für die Warenbesitzer ‚zählt‘ nur der Tauschwert. Die ‚Dinge‘ bzw. Gebrauchsgegenstände an-sich interessieren sie nicht mehr. Zum anderen verschwindet die Verschmelzung von Warenform und Denkform in einem warenförmigen Denken derart, daß es sich seiner eigenen Herkunft aus einer Tauschhandlung nicht mehr bewußt ist. Die Warenform wird zu einem Apriori, so wie auch Kant die Verstandes- und Anschauungsformen als Apriori versteht. Es ist also die „gesellschaftliche Genesis“ der Denkformen selbst, die zu einem Ding-an-sich wird. (Vgl. Engster 2014, S.527)

Dabei funktioniert das Ding-an-sich wie eine Negation: der „identitäre() Daseinsmodus“ der Waren ‚negiert‘ deren stoffliche Besonderheiten und ihren Gebrauchswert; wobei ‚negieren‘ bedeutet, daß er die dingliche Erscheinungsvielfalt vergessen macht. Die „produktive Praxis“, also die Vergesellschaftung der Dinge (und Individuen), beinhaltet, wie Engster schreibt, einen „affirmativen Negationsmodus“. (Vgl. Engster, S.529) Mit anderen Worten: wir werden ‚negiert‘ als Naturdinge, und wir werden ‚affirmiert‘ als Gesellschaftdinge. – Ich schreibe hier ausdrücklich ‚wir‘, weil es mit den ‚Dingen‘ auch um unseren eigenen natürlichen und/oder gesellschaftlichen Status geht.

Sohn-Rethel zufolge spiegelt also der Kantische Dualismus aus dem Verstand zugänglichen Erscheinungen und erkenntnisjenseitigen Dingen-an-sich die gesellschaftliche Spaltung zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten wider. Während aber Kant diese Spaltung auf Dauer stellt und er keine Genesis der Herkunft der Verstandesformen für möglich hält, setzt Sohn-Rethel sich genau für so eine Genesis ein, und er will zugleich mit der Rückführung der Denkform auf die Warenform die Möglichkeit von sowohl naturwissenschaftlicher wie auch gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis begründen. (Vgl. Engster 2014, S.524f.) Naturwissenschaftliche und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis haben nämlich beide mit der kapitalistischen Gesellschaft gemeinsam, ihre ‚Gegenstände‘ zu identifizieren und identisch zu halten: „In diesem Absehen von aller Subjektivität und Sinnlichkeit konstituiert eine rein gesellschaftliche Tauschabstraktion einen identischen Geltungsraum, der gleich der naturwissenschaftlichen Anschauung funktioniert, in der ebenfalls die Objekte durch bloße Werte entsubjektiviert und entsinnlicht gemäß ihres Selbstverhältnisses erscheinen können. Die reale Abstraktion der gesellschaftlichen Tauschhandlung behandelt somit die Dinge gleich den exakten Naturwissenschaften, nämlich als in der Zeit und im Raum mit sich identische Objekte.“ (Engster 2014, S.528) – Engster spricht davon, daß die gesellschaftlichen Tauschhandlungen eine „Physikalität“ konstituieren, die den „Gegenstände(n) gemäß der naturwissenschaftlichen Anschauung“ entspricht. (Vgl. ebenda)

Indem Kant an einer Trennung zwischen Ding-an-sich und Erscheinung festhält, nimmt er zwei getrennte Quellen für die Erkenntnis in Anspruch: den Verstand und die Anschauung. (Vgl. Engster 2014, S.533 und 573) Und der Ort dieser Trennung ist der individuelle Verstand, dem er wiederum eine transzendentales Subjektivität zur Seite stellt, der es obliegt, beide Quellen der Erkenntnis zusammenzuhalten. (Vgl. Engster 2014, S.555) Wie wir schon gesehen haben, hält Engster das für ‚naiv‘. (Vgl. meinen Post vom 22.02.2014)

Aber während alle an Hegel und Marx geschulten Denker offensichtlich immer die Gesellschaftlichkeit der Vermittlungsweisen von Mensch und Mensch und von Mensch und Welt in den Vordergrund stellen, haben wir es bei Kant eben nicht mit gesellschaftlichen Dingen zu tun, sondern mit Naturdingen. Zu diesen Naturdingen gehört aber denknotwendigerweise die in ihrer sinnlichen Erscheinungsweise liegende Differenz zu dem, was wir über sie wissen können. An dieser Denknotwendigkeit einer die Erscheinungen durchziehenden Differenz hält Kant fest. Darin besteht sein Dualismus. Und zu diesem Dualismus gehört auch, daß dieser seinen unhintergehbaren Ort im je individuellen Verstand hat, weil Sinnlichkeit nunmal nirgendwo anders vorkommt als am Individuum selbst. Insofern ist Kants transzendentale Subjektivität nur ein anderes Wort für das, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet und am Körperleib festmacht.

Gehen wir hingegen von vornherein nur von Gesellschaftsdingen aus, so sieht die Sache ganz anders aus. Befreit von den sinnlichen und empirischen Rücksichten auf das Wahrnehmen und Handeln von Individuen geht es jetzt nur noch darum, die Strukturen offenzulegen, mittels derer sie miteinander ins Verhältnis treten. Der individuelle Verstand ist nicht mehr von Interesse. Kant hingegen mag zwar die gesellschaftlichen Bedingungen des Personen- und Warenverkehrs ignorieren. Aber mit der Differenz in der Erscheinungsweise von Naturdingen (Anschauung/Verstand, Schein/Wissen) befaßt er sich immerhin auch mit dem individuellen Urteilsvermögen und setzt es als unhintergehbar.

Die an Hegel und Marx orientierten Gesellschaftstheoretiker ignorieren von den drei Entwicklungslinien, der Biologie, Kultur und der Individualität (vgl.u.a. meinen Post vom 21.04.2010), mit den Naturdingen auch die biologische Herkunft der Individuen. Anstatt also das Individuum als den Ort auszuzeichnen, in dem sich die anderen beiden Entwicklungslinien brechen, so wie bei Kant der individuelle Verstand der Ort ist, in dem sich die Erscheinungsvielfalt der Naturwelt bricht, ignoriert die Gesellschaftstheorie die biologische Entwicklungslinie und verortet das Individuum ausschließlich in der Gesellschaft. In dieser ausschließlichen Vergesellschaftung ist es aber nicht mehr der Ort eines Bruchs, sondern einer Identifikation, die sich nicht durch das Individuum selbst, sondern, Engster zufolge, durch das Geld vermittelt.

Das ist auch Engsters Hauptkritik an Sohn-Rethel. Dieser verbleibt auf der empirischen Ebene des Tauschhandels und „begreift nicht“, so Engster, „dass die Wertformanalyse diejenige ausgeschlossene Geldware einholt, die für eine maßgebliche Einheit stehen muss, damit alle Waren, und mit ihnen das empirische Dasein, ein und dieselbe ideelle Werteinheit auf quantitative Weise teilen und darum ein empirisches Verhältnis eingehen.“ (Vgl. Engster 2014, S.543) – Anstatt sich also auf den Standpunkt des Geldes zu stellen, „das die Arbeit und die Ware ins Verhältnis setzt und sie dadurch Substanz und Form ein und desselben, rein gesellschaftlichen Verhältnisses sein lässt“ (vgl. Engster 2014, S.550), bildet das Geld bei Sohn-Rethel „lediglich die nachträgliche Verdopplung eines unmittelbaren Austauschs und einer realen Abstraktion von der Arbeit, wie sie vor und sogar ohne das Geld stattfinden“ (vgl. Engster 2014, S.558).

Aber ungeachtet dieser Kritik findet Sohn-Rethels Versuch einer Darstellung der „materialistische(n) Vergesellschaftung des Transzendentalsubjekts“ Engsters volle Zustimmung (vgl. Engster 2014, S.577); und er skizziert auch gleich, wie er sich im Unterschied zu Sohn-Rethel ein entsprechendes Vorgehen vorstellt: „Erstens sind die Fragen der Erkenntnis und der Logik, der objektiven Geltung und der Vernunft nicht auf das (individuelle – DZ) Verstandesdenken zu beschränken, sondern diese verstandesmäßige Beschränkung ist von einer überindividuellen Vernunft her zu begreifen; und zweitens ist für diese übergreifende Vernunft nicht auf die Warenform und nicht auf Kants transzendentale Logik zurückzugreifen, sondern auf die Kapitalform des Geldes, und diese ist an Hegels Dialektik zu orientieren.“ (Engster 2014, S.578)

Engsters Stoßrichtung geht also insgesamt gegen die Möglichkeit einer individuellen Urteilskraft. An deren Stelle setzt er das Geld, bei dem, so Engster, „alles darauf an(kommt)“, daß es „wie ein Subjekt funktioniert“; denn: „dann ‚denkt‘ das Geld für die Warenbesitzer insofern, als es ihnen das Vergleichen und Bestimmen der für die Waren verausgabten Arbeiten erspart. Es erspart ihnen mithin, das gemeinsame Verhältnis und den inneren Zusammenhang aller Arbeiten und Kapitale sowie all ihrer Resultate denken und im Denken ausrechnen zu müssen.“ (Engster 2014, S.579)

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