„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

4. Die subjektive Zutat
5. Der Standpunkt des Geldes
6. Mehrwert

Es fällt schwer, eine Rezension zu einem Buch zu schreiben, das über weite Teile hinweg in einem Jargon geschrieben ist, mit dessen Darstellungsform Hegel und Marx einen besonderen Anspruch erheben: „Hegel“, so Engster, „wollte nichts weniger als das Absolute zur Darstellung treiben, und zur Darstellung treiben hieß für Hegel, dem Absoluten durch die Methode und Systematik seiner – des Absoluten – Darstellung adäquat zu werden.“ (Engster 2014, S.96) – Auch Marx verband seine Kapitalismuskritik mit dieser spezifischen Darstellungsform (vgl. Engster 2014, S.103), die in subtilen dialektischen Wendungen von einem als absolut gesetzten Standpunkt her dem kritisierten Gegenstand, eben dem Kapital, in seinen Bewegungsformen entsprechen sollte.

Dem Rezensenten fällt sein Rezensieren deshalb schwer, weil er, wenn er dem Anspruch dieses Buches gerecht werden will – und das will er –, nun ebenfalls in diesen Jargon verfallen müßte, was letztlich hieße, daß er dieses Buch, anstatt es zu kommentieren, einfach abschreiben müßte. Er steht also vor der Entscheidung, sich auf den Standpunkt des Buches zu stellen, der in diesem Fall der Standpunkt des Geldes ist, und so seiner eigenen Meinungsfreiheit zu entsagen, oder seine Freiheit als Rezensent zu behaupten und einen anderen Standpunkt einzunehmen, – damit aber notwendig dem Buch gegenüber ‚ungerecht‘ zu werden. Nun bietet das aktuelle Kapitel zu Georg Lukács (vgl. Engster 2014, S.149-324), das hier in drei Folgen besprochen werden soll, aber einige narrative Ansätze, an denen angeknüpft werden kann. Ich will also diese narrativen Fäden aufgreifen und fortspinnen, um so wenigstens den Anschein aufrechtzuerhalten, meine Rezension könnte dem Buch tatsächlich entsprechen.

Deshalb sei gleich im ersten Post auf die „subjektive Zutat“ verwiesen, mit der Georg Lukács Engster zufolge die Kapitalismuskritik seiner Zeit bereicherte. In der Marxrezeption unmittelbar nach dem Erscheinen des Kapitals und dann über viele Generationen hinweg bis zum Marxismus-Leninismus dominierte die Auffassung, daß die zentralen kapitalistischen Kategorien der Arbeit und der Ware zugleich auch historische Gesetzmäßigkeiten darstellten, die zwangsläufig zu einer den Kapitalismus überwindenden Revolution führen müßten, die dann in einen Kommunismus münden würde. (Vgl. Engster 2014, S.151f.)

Eine solche geschichtsdeterministische Einstellung vertraten in einer ersten Rezeptionsphase die Sozialdemokratie und die sozialistische Bewegung. In einer zweiten Rezeptionsphase, die des Marxismus-Leninismus, zog Lenin aus der geschichtlichen Erfahrung, daß der Arbeiterklasse das historische Bewußtsein fehlte, ihrem revolutionären Auftrag nachzukommen (vgl. Engster 2014, S.155f.), die Konsequenz, daß es einer historischen ‚Zutat‘ bedürfe, die stellvertretend für die Arbeiterklasse agiert: „Ihm (Lenin) zufolge bleibt das Bewusstsein der Arbeiterklasse den kapitalistischen Verhältnissen ohne eine äußere Zutat letztlich immanent. Diese Immanenz will Lenin überwinden durch die Organisierung des Bewusstseins und der Kraft der Massen, genauer durch die Organisierung des Klassenkampfs und durch die Führung des Proletariats. Diese organisierte Kraft ist die Partei.()“ (Engster 2014, S.156)

Schon diese ‚Zutat‘ ist Engster zufolge ‚subjektiv‘, weil sie zu den objektiven historischen Bedingungen, die eigentlich ‚von sich aus‘ zu einer Überwindung des Kapitalismus führen müßten, hinzukommen muß, indem sie das historische Subjekt, die Arbeiterklasse, entsprechend ‚motiviert‘: „... welches Ende Lenin für die Partei auch immer vorgesehen hat, entscheidend bleibt, dass Lenin für die Notwendigkeit eines subjektiven Faktors steht. Die kommunistische Revolutionierung des Kapitalismus tritt nicht ohne ein revolutionäres Bewusstsein ein, und es ist die Revolutionierung dieses in der kapitalistischen Unmittelbarkeit befangenen Bewusstseins, für das sich die Partei einsetzen muss.“ (Engster 2014, S.159)

Wie auch immer ‚subjektiv‘ die historische Zutat der Partei bei Lenin auch gemeint sein mag: letztlich bleibt auch der Marxismus-Leninismus in seiner Geschichtsauffassung deterministisch. Hier kommt nun der ‚junge‘ Lukács ins Spiel, auf den sich Engster hauptsächlich bezieht, nämlich auf dessen in der Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) erschienenen Aufsatz „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“. Der junge Lukács möchte wieder die Arbeiterklasse selbst für ihre historische Mission eintreten lassen, ohne Umweg über und ohne Stellvertretung durch eine Partei. Zu diesem Zweck setzt er an der „Ware Arbeitskraft“ an, die im Vergleich mit den anderen ‚Waren‘ eine ganz besondere Ware ist.

Die Besonderheit der Ware Arbeitskraft ergibt sich nicht einfach nur daraus, daß sie „Mehrwert“ schafft (vgl. Engster 2014, S.195) – darauf wird noch in einem der folgenden Posts zurückzukommen sein –, sondern eben auch daraus, daß in ihr die Warenfunktion mit der Existenz von Personen verschränkt ist. (Vgl. Engster 2014, S.223) Die Warenform gilt Lukács als wesentliche Vermittlungsform der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Vermittlung geschieht dieser Gesellschaft wie auch den einzelnen Akteuren, den Arbeitern, ‚hinterrücks‘ bzw. ‚blind-naturwüchsig‘ oder auch ‚unmittelbar‘.

Die Verschränkung von Warenfunktion und Personhaftigkeit des Arbeiters eröffnet nun eine faszinierende historische Perspektive: Die Gleichzeitigkeit von Objekthaftigkeit und Subjekthaftigkeit macht den Arbeiter bzw. die Arbeiterklasse zum Kandidaten eines „identischen Subjekt-Objekts der Geschichte“:
„Indem das Proletariat zu dem Bewusstsein gelangt, dass sein Vermögen zur produktiven Entäußerung und Selbstobjektivierung nur Objekt für das Kapital ist, hat es im Begreifen dieser Verdinglichung und Entfremdung seines Vermögens sich gleichsam schon selbst am Schopf gepackt und seinen Erkenntnisstandpunkt als Praxis erkannt, als einen produktiven Standpunkt, der seinen Ort nur in jener Entäußerung und Selbstobjektivierung hat, d.h. im Werden der Gesellschaft und Geschichte. Es kommt zu sich im paradoxen Zustand der Gleichzeitigkeit von entfremdeter Geschichtsmächtigkeit und dem Bewusstsein derselben, und in diesem Ausnahmezustand kann es durch die eigene Praxis die existenzielle Entscheidung treffen, zum identischen Subjekt-Objekt der Geschichte zu werden.“ (Engster 2014, S.178).
An die Stelle einer deterministischen Geschichtsauffassung tritt also ein Geschichtssubjekt, das zu einem spontanen Sprung in der Lage ist, qua Entscheidung (vgl. Engster 2014, S.171), die unabhängig vom historischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist: „Es (das Proletariat) kann durch sein Selbstbewusstsein Anlauf nehmen zu einem Sprung, der in der Erkenntnis gründet, dass das Vermögen der Objektivierung und das Vermögen der Produktion des geschichtlichen Werdens entfremdet sind, und durch diese scheinbar bloß theoretische Erkenntnis kann das Proletariat auch in die praktische Verwirklichung seines Vermögens überspringen, ganz so als ob das Proletariat durch die erkenntnismäßig-theoretische Reflexion auf sein eigenes Vermögen bereits unmittelbar in die eigene Praxis und in die eigene Geschichte einträte.()“ (Engster 2014, S.170)

Abgesehen davon, daß wir es bei Lukács letztlich doch nicht mit einem Existentialismus von Personen, sondern von Kollektiven zu tun haben, kritisiert Engster an Lukács vor allem, daß er mit seiner Fixierung auf die Warenform die Funktion des Geldes übersieht. Alle die Fähigkeiten, die Lukács der Ware Arbeitskraft zuspricht, erfüllt immer schon das Geld, und zwar auf seine blind-naturwüchsige Weise besser, als es jedes Bewußtsein, sei es nun ein wissenschaftliches oder ein kollektives, überhaupt könnte:
„Wenn Lukács also fordert, den inneren Zusammenhang all der Waren zu identifizieren und dadurch die gesellschaftliche Bestimmung der Arbeit zu realisieren, so sieht er nicht, dass dies in der kapitalistischen Gesellschaft bereits geschieht; aber das Mittel dazu braucht nicht das Selbstbewusstsein der besonderen Ware Arbeitskraft zu sein, weil das Selbstbewusstsein aller Waren bereits in der ideellen Werteinheit existiert, für die das Geld steht. Entsprechend wird Lukács’ Kritik der Unmittelbarkeit, in der sich ihm zufolge die warenförmige Praxis und das dieser Praxis entsprechende Bewusstsein befinden, bereits in der kapitalistischen Gesellschaft durch das Geld und seine Maß- und Tauschmittelfunktion in gewisser Weise ‚erledigt‘.“ (Engster 2014, S.193)
Ein kollektives Bewußtsein, das wie das „Proletariat“ Engster zufolge nach der Revolution als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte „permanent an der Schwelle des Eintretens in ein selbstbestimmtes geschichtliches Werden“ stehen würde (vgl. Engster 2014, S.176), müßte, wie es das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft schon längst tut, alle seine gesellschaftlichen Prozesse überblicken und steuern können, und zwar als Bewußtsein. Diese Prozesse dürften es nicht mehr hinterrücks und unmittelbar bestimmen, denn dann hätte es sich noch nicht wirklich als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte erwiesen:
„Es lässt sich zum Abschluss nun genau ange()ben, worin das spezifisch Kapitalistische in Lukács’ Idee des Kommunismus liegt, nämlich darin, dass seine Idee eines identischen Subjekt-Objekts der Geschichte auf das kapitalistische Wesen des Geldes als Maß des Werts, Mittel seiner Realisierung und Form seiner Verwertung zurückgeht. Vereinfacht gesagt, müsste im Kommunismus nicht mehr dem Geld eine ideell-übersinnliche, universelle Werteinheit und deren Verwertung zugerechnet werden, statt des Geldes würde das Proletariat mit der Identität der Gesellschaft rechnen. Die Gesellschaft würde dann nicht mehr durch die maßgebliche Werteinheit, für die das Geld steht und die es durch seine drei Funktionen praktisch durchführt, auf blind-naturwüchsige Weise sich selbst angemessen werden, angemessen, indem die ermittelten Werte der Produktivkraft und dem zeitlichen Selbstverhältnis der Gesellschaft entsprechen. Die Gesellschaft müsste stattdessen unmittelbar durch Bewusstsein und Praxis des Proletariats sich selbst angemessen werden. ... Es müsste seiner produktiven Kraft unmittelbar gegenwärtig sein und zugleich von ihrer zukünftigen Realität her auf sie zurückkommen, denn es müsste ja gleich im Arbeits- und Produktionsprozess dessen zukünftige gesellschaftliche Bedeutung verinnerlichen und durch diesen Vorlauf auf die zukünftige Vergangenheit die eigene Allgegenwart erfahren. Es müsste die gesellschaftliche Totalität so übergreifen, als ob es in all ihren Einzelerscheinungen und Gestalten mit dem eigenen Wesen rechnete und logischer und geschichtlicher Prozess, gleich einem Naturprozess, eins wären.“ (Engster 2014, S.322)
Vielleicht läßt sich die Funktion des Geldes als Vermittlungs- und Steuerungsmedium der kapitalistischen Gesellschaft in Begriffen der Komplexitätsforschung beschreiben. Das würde die blinde Naturwüchsigkeit seiner Funktionen besser auf den Punkt bringen. Demnach wäre die gesellschaftliche Totalität, die das Geld Engster zufolge ‚übergreift‘, analog zu einem ‚Schwarm‘, und das Geld funktionierte dann wie ‚Boids‘, mit deren Hilfe komplexe Prozesse sichtbar gemacht werden können, die der bewußten Wahrnehmung nicht zugänglich sind. (vgl. meinen Post vom 13.08.2011) Ganz ähnlich berechnen ja auch Computerprogramme an der Börse komplexe Geldbewegungen. Das ‚Geld‘ wäre in diesem Sinne – und Engster selbst spricht ja ständig von Rechenprozessen – ein Computerprogramm, das komplexe Prozesse sichtbar macht, die ohne dieses Programm nicht verfügbar sind.

Wenn Engster also davon spricht, daß „(d)urch das Geld das gesellschaftliche Verhältnis aller Arbeiten und Waren in einem starken Sinne gegeben werden (muss), aber so, dass es nur mehr durch rein quantitative Größen zur Verfügung steht“ (vgl. Engster 2014, S.233), so haben wir es hier mit einer ‚Gabe‘ zu tun, die auf blinde, rational nicht verfügbare Weise ‚emergiert‘. Wenn wir uns auf den Standpunkt des Geldes stellen, stellen wir uns also auf den ‚Standpunkt‘ eines ‚Schwarms‘, wobei wir hier Worte gebrauchen, die in dieser Zusammenstellung ein Oxymoron bilden.

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