„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Matthew B. Crawford spricht von der Notwendigkeit einer „neuartige(n) Anthropologie“, die sich der Frage zuwendet, „wie das menschliche Dasein durch die Interaktion des Menschen mit seiner Welt mittels seiner Hände bereichert“ wird. (Vgl. Crawford 2010, S.89) Eine solche Anthropologie gibt es aber schon: nämlich die von André Leroi-Gourhan. (Vgl. meine Posts vom 01.03. bis zum 24.03.2013) Crawford fragt: „... was wäre, wenn wir von Geburt an instrumentell, das heißt pragmatisch ausgerichtet wären und wenn der Einsatz von Werkzeugen tatsächlich grundlegend dafür wäre, wie der Mensch in der Welt lebt? ... Der frühe Heidegger betrachtete die ‚Handlichkeit‘ als den Modus, in dem sich uns die Dinge der Welt in ihrer ursprünglichsten Form zeigen.“ (Crawford 2010, S.95)

Der Werkzeuge gebrauchende Mensch hat offensichtlich seine eigene Phänomenologie. Ihm „zeigen“ sich die Dinge nicht einfach dadurch „in ihrer ursprünglichsten Form“, daß wir sie in die Hand nehmen und vor unseren Augen hin und her drehen, wie es der meditierende Husserl tun würde. Schon hier liegt in den Dingen eine ‚Transgredienz‘, wie Plessner sich ausdrückt: sie widersetzen sich dem geradehin auf sie gerichteten Blick, indem sie ihm ihre Rückseiten verbergen. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Wir müssen sie drehen und wenden, um diese Rückseiten in den Blick zu bekommen.

Das ist Crawford noch zu ‚oberflächlich‘. Das Drehen und Wenden des Gegenstandes vor unseren Augen geht ihm noch zu leicht ‚von der Hand‘. Sein eigentliches ‚Wesen‘ offenbart sich erst, wenn wir es unserem Gebrauch zuführen wollen, – wenn es uns dienstbar sein soll. Erst wenn wir es mit Werkzeugen bearbeiten, zeigt es sich in seiner Widerspenstigkeit als etwas, das wir nicht ‚konstruiert‘ haben.

‚Konstruiert‘ meint in diesem Fall etwas ganz Schlichtes und Einfaches: es meint, daß wir den Gegenstand, mit dem wir uns auseinandersetzen, nicht selbst hergestellt haben. Das gilt so auch für alte, gebrauchte VW-Motoren: „Ich entsinne mich, dass mich mein Freund John, der sich selbst mit amerikanischen Muskelautos herumschlug, einmal nach dem Konstruktionsplan des VW-Käfers fragte. Es war wohl ein besonders frustrierender Tag, denn ich zischte nur: ‚Konstruktion? Niemand hat dieses Auto konstruiert.‘“ (Crawford 2010, S.108)

Zwar hat irgendwann jemand zweifellos „dieses Auto“ konstruiert. Aber durch den jahrzehntelangen Gebrauch hat es sich verändert. Es wurde gefahren, es trat Verschleiß auf und es ist an ihm herumgebastelt worden; es wurden nicht standardgemäße Ersatzteile eingebaut, ursprünglich eingebaute Teile wurden ‚repariert‘, also bearbeitet und neu eingestellt, etc. Nichts davon steht im Konstruktionsplan. Der Mechaniker ist gezwungen, der unbekannten Geschichte dieses VW-Käfers mit Intuition und Einfallsreichtum zu begegnen.

Crawford vergleicht die Tätigkeit des Mechanikers mit der eines Arztes. Beide haben das, „was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt ..., weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können. Die Erfahrung des Scheiterns wirkt mäßigend auf die Illusion völliger Beherrschbarkeit: Der Arzt und der Mechaniker lernen die Welt täglich als etwas von ihnen Unabhängiges kennen und sind sich daher des Unterschieds zwischen Selbst und Nicht-Selbst deutlich bewusst.“ (Crawford 2010, S.111)

Der KFZ-Mechaniker scheitert beim Reparieren alter Fahrzeuge immer wieder an der Komplexität ihrer ‚Lebensgeschichte‘. Und es ist genau dieses ‚Scheitern‘, das ihn von seiner Selbstbezogenheit und Selbsteingenommenheit befreit und ihn wirklichkeitsfähig macht. Wenn wir beim Reparieren eines alten VW-Motors scheitern, tut „sich zwischen den Absichten des Benutzers und ihrer Umsetzung eine Kluft“ auf, „die uns vor Augen führt, dass die Wirklichkeit von uns unabhängig ist“: „Wenn alles funktioniert, wird sich der Benutzer seiner Abhängigkeit ... nicht bewusst.“ (Vgl. Crawford 2010, S.85) – Diese Kluft entspricht dem Plessnerschen „Hiatus“, der von einer Brechung des Intentionsstrahls spricht, wenn unsere Bedürfnisse nicht unmittelbar zur Befriedigung führen. (Vgl. meine Posts vom 24.10. und vom 29.10.2010) Erst in diesem ‚Scheitern‘ unserer Intentionen an der Wirklichkeit, werden wir uns unserer selbst bewußt.

Crawford zufolge hängt das Gefühl von ‚Autonomie‘ bzw. von Eigenständigkeit, Eigenwilligkeit und Stolz von der durch den Gebrauch der eigenen Hände ermöglichten „Gestaltungsfähigkeit“ des Menschen ab. (Vgl.u.a. Crawford 2010, S.17) Paradoxerweise werden wir uns aber unserer Gestaltungsfähigkeit erst durch die Widerspenstigkeit der Materialien bewußt, die wir bearbeiten, also durch unsere Abhängigkeit von ihnen. Damit vertritt Crawford einen an Jean-Jacques Rousseau erinnernden Standpunkt, der ebenfalls von der „Erziehung durch die Dinge“ spricht, die die Grundlage für die künftige Autonomie des Erwachsenen legt. (Vgl. meinen Post vom 04.09.2013) Gerade weil die Dinge ‚stumm‘ sind und dem Kind, das sich mit ihnen auseinandersetzt, keine Auskunft geben, d.h. sich ihm widersetzen, ist es gezwungen seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, während es im Umgang mit Erwachsenen ständig mit ‚Belehrungen‘ bombardiert wird und kaum Gelegenheit bekommt, selber zu denken.

Genau in diesem Sinne schreibt auch Crawford: „Da die Maßstäbe handwerklichen Könnens nicht der Überzeugungskunst, sondern der Logik der Dinge gehorchen, verleiht die Unterwerfung unter diese Maßstäbe dem Handwerker möglicherweise eine gewisse seelische Robustheit, die ihn unempfänglicher macht für die von geschäftlichen und politischen Demagogen geweckten phantastischen Hoffnungen.“ (Crawford 2010, S.30f.)

Das ist der Grund, warum Rousseau es für sinnvoll hält, schon in der späten Kindheit, also noch vor der Pubertät, mit einer Handwerksausbildung zu beginnen. Der ursprüngliche Titel von Crawfords Buch lautet deshalb auch „Shop Class for Soulcraft“ (2009). „Shop Class“ steht für Handwerksunterricht an der Schule, und „Soulcraft“ läßt sich eigentlich nicht übersetzen. Es läuft auf eine Art Zen-Bewußtsein hinaus, wie es von Robert Pirsig in „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ (1976) beschrieben wird.

Wir leben allerdings in einer Welt, für die Virtualität einen hohen Stellenwert hat. (Vgl. Crawford 2010, S.11) Die technischen Produkte, mit denen wir täglich Umgang haben, verbergen ihren inneren Mechanismus vor uns. Gewährleistungsansprüche sind daran gebunden, daß die Nutzer ihre Geräte nicht öffnen, um sich an der Mechanik zu vergehen: „Die Befestigungen, die kleine Haushaltsgeräte zusammenhalten, sind mittlerweile oft nur noch mit geheimnisvollen Schraubenziehern zu lösen, die nicht überall erhältlich sind – offenbar sollen die Neugierigen und die Zornigen daran gehindert werden, das Innenleben dieser Maschinen zu erkunden.“ (Crawford 2010, S.10)

Auf den fehlenden Ölmeßstab in neueren Mercedesmodellen habe ich schon in meinem letzten Post hingewiesen. Man denke auch an unsere Computerfestplatten, die vor unserem Zugriff durch Verschlüsselungscodes geschützt sind. (Vgl. meinen Post vom 29.11.2013) Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die Dinge, mit denen wir Umgang haben, uns tatsächlich gehören, und Crawford fragt: „Was ist verlockend daran, von der Beschäftigung mit unseren eigenen Dingen befreit zu werden?“ (Crawford 2010, S.16)

Die Antwort ist einfach: indem die fürsorglichen Unternehmen den Nutzer daran hindern, sich an ihren Geräten zu ‚vergreifen‘, vermitteln sie ihm eine Autonomieillusion. Denn insofern der Nutzer daran gehindert wird, an der Reparatur seiner Geräte zu scheitern, und ihm ‚garantiert‘ wird, daß der Hersteller für Reparatur und Ersatz der Geräte aufkommt, bleibt sein am Konsum gewöhnter Narzißmus unbeschädigt. Mit dieser Autonomieillusion geben wir uns zufrieden, wie Crawford schreibt, weil wir – „paradoxerweise“ – zwar „narzisstisch genug“ sind, „aber nicht stolz genug“. (Vgl. Crawford 2010, S.98)

Crawfords Fazit, mit dem ich diesen Post beenden will, lautet deshalb: „Das Problem besteht ... darin, dass wir mittlerweile in einer Welt leben, die unsere ursprüngliche Instrumentalität eben nicht hervorruft. Aufgrund der Vorherbestimmung der Dinge aus der Ferne haben wir zu selten Gelegenheit, etwas zu tun.“ (Crawford 2010, S.95f.) – Es ist eine Welt, die unsere Anthropologie, unsere „ursprüngliche Instrumentalität“, ständig mißachtet, gerade weil sie uns systematisch daran hindert, an ihr zu scheitern.

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