„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 12. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie und Kasuistik

Ich habe schon in meinem Post vom 09.02.2014 darauf hingewiesen, daß der Werkzeuge gebrauchende Mensch seine eigene Phänomenologie hat, bei der er sich nicht damit begnügt, die Dinge einfach nur vor seine Augen zu halten und hin und her zu drehen. Dennoch hat diese Phänomenologie aber mit der von Husserl gemeinsam, daß es zu ihr einer inneren „Einstellung“ bedarf (vgl. Crawford 2010, S.100f.), die vor allem passiv und meditativ ist. Crawford spricht von einer „Metakognition“, mit der sich der Mechaniker nicht frontal einem einzelnen, konkreten Problem zuwendet, sondern die Situation als Ganzes, zu der auch die eigene „Denkweise“ gehört, in den Blick zu bekommen versucht:
„In der Kognitionspsychologie gibt es den Begriff der ‚Metakognition‘, der den Versuch beschreibt, einen Schritt zurückzutreten und über die eigene Denkweise nachzudenken. ... Im Gegensatz zur Einschätzung der Kognitionspsychologen ... scheint diese kognitive Kompetenz einer moralischen Eigenschaft zu entspringen. Weder die psychometrischen Intelligenztests noch die beschränkte Beschreibung der Intelligenz als ‚Verarbeitungsfähigkeit‘ – die auf der Annahme beruht, unser Verstand könne die aufgenommenen Erfahrungsdaten einfach wie ein Computer verarbeiten – werden ihr gerecht.“ (Crawford 2010, S.131f.)
Crawford beschreibt diese Metakognition in der folgenden Geschichte als einen zen-artigen Bewußtseinszustand. Er hat gerade viele vergebliche Versuche hinter sich, eine Ventilabdeckung von der Zylinderbank eines Motorrades zu lösen: „Ich steuerte auf einen vertrauten Punkt zu, an dem, nachdem ich alle Niederungen der Raserei und Verzweiflung durchschritten hatte, eine sonderbare Ruhe Besitz von mir ergreifen würde. Meine Tätigkeit war mittlerweile auf eine autistische Wiederholung von Handgriffen reduziert, die sich schon vor langer Zeit als nutzlos erwiesen hatten. Dann plötzlich fiel die Ventilabdeckung aus der Halterung. Das ist eine Erfahrung, die mir durchaus vertraut ist, und um bei der Montage und Demontage von Dingen mit einer unergründlichen fernöstlichen Aura Zeit zu sparen, habe ich mir angewöhnt, mich in einen Zenartigen Zustand der Resignation zu vertiefen, bevor ich mich an die Arbeit mache.“ (Crawford 2010, S.158)

Crawfords Hinweis auf die „Montage und Demontage von Dingen mit einer unergründlichen fernöstlichen Aura“ bezieht sich möglicherweise nicht nur auf die japanische Herkunft dieser speziellen Motorradmarke, einer „83er Honda Magna V45“ (Vgl. Crawford, S.152), sondern ist vielleicht auch ein versteckter Hinweis auf Robert Pirsigs „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ (1976). Dort gibt es eine Stelle in der Pirsig, der eine Zeitlang als Autor von Bedienungsanleitungen arbeitet, schreibt – ich zitiere aus dem Gedächtnis – : „Zum Zusammenbauen eines japanischen Fahrrades bedarf es großer innerer Gelassenheit!“

Wir haben es also in Crawfords Phänomenologie mit einer Form der „disziplinierte(n) Beobachtung“ (Crawford 2010, S.34) zu tun, wie sie der Husserlschen Meditation entspricht. Wie schwierig so eine disziplinierte und genaue Beobachtung und Wahrnehmung tatsächlich ist, zeigt Crawford, wenn er beschreibt, wie er ein menschliches Skelett möglichst realitätsgetreu nachzuzeichnen versucht. Statt das Skelett zu zeichnen, zeichnet er nur Variationen jener Halloweenfiguren, wie er sie von Hollywood und aus Comics kennt:
„Seit meiner Kindheit war ich mit Abbildungen des menschlichen Skeletts vertraut, doch sosehr ich mich auch bemühte, das Knochengerüst zu zeichnen, das dort vor mir stand, brachte ich statt des Objekts lediglich ein Symbol des Objekts zu Papier. ... Offensichtlich muss man dazu die normale Wahrnehmung, die sich weniger auf die konkreten Informationen als auf vorhandene Konzepte stützt, ausschalten. Wir haben eine Vorstellung von einem Ding, die in gewisser Weise unsere sinnliche Wahrnehmung des eigentlichen Dings vorwegnimmt.“ (Crawford 2010, S.123f.)
Um die Phänomene selbst so wahrzunehmen, wie sie sich uns geben, und nicht wie wir sie uns denken, müssen wir also innerlich ‚leer‘ werden und alle unsere Vorurteile und festen Absichten, die uns in eine bestimmte Richtung lenken, aufgeben, und jenen Zustand der inneren Resignation erreichen, den Crawford als zen-artig beschreibt.

Dieser Zustand ist beim Mechaniker und Handwerker das Ergebnis einer langen Erfahrung und Übung. Alle konkreten Erwartungen aufzugeben und sich ganz dem Phänomen zu überlassen, bedeutet für den Mechaniker nämlich, daß er sich einem intuitiven Prozeß überläßt, der ein ganz besonderes ‚Wissen‘ in ihm aktiviert. Crawford spricht hier vom „intuitive(n) Urteil der praktisch Tätigen“, das an die Stelle von „Regeln“ und „abstrakten Symbolen“ tritt. (Vgl. Crawford 2010, S.217) Wir haben es also immer noch mit ‚Wahrnehmung‘ zu tun, aber eben nicht mit der ‚normalen‘, die Symbole an die Stelle der Phänomene setzt, also Halloweenfiguren statt wirkliche Skelette, sondern eben mit der „sinnliche(n) Wahrnehmung des eigentlichen Dings“. Statt sich auf bloße Symbole, nämlich auf Regeln und formale Abstraktionen zu konzentrieren, versucht der Mechaniker am defekten Motorrad die typischen Muster zu erkennen, die ihm Hinweise auf die Ursache des Defekts geben können. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Wir haben es hier mit einer ganz besonderen Form der Gestaltwahrnehmung zu tun. Zur ‚Gestalt‘ des Motorrades gehört nämlich nicht nur das Motorrad selbst, auf das sich der Mechaniker ‚einstellt‘, sondern auch die in Frage kommende Situation, in der der vorliegende Defekt auftreten konnte. Zur Meditation bzw. Metakognition des Mechanikers gehört es also, daß er sich komplexen und gleichzeitig typischen Situationen zuwendet, wobei die Typik dieser Situationen nicht auf Regeln zurückführbar ist, sondern nur auf die durch Erfahrung erworbene „Kenntnis von Mustern und Ursachen“. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Der Mechaniker ist also „mit typischen Situationen vertraut, von denen er eine implizite , unbewusste Kenntnis hat“, und dieses „implizite Wissen“ ermöglicht ihm eine „Mustererkennung“ (vgl. Crawford 2010, S.210), mit deren Hilfe er „jene Bestandteile einer Situation“ identifizieren kann, die „wir außer Acht lassen können“: „Was Bestandteil der Situation ist, kann nicht durch die Anwendung von Regeln festgestellt werden, sondern erfordert jene Art von Urteilsvermögen, das sich auf Erfahrung stützt.“ (Crawford 2010 ,S.53)

Wenn ein Mechaniker etwa das Zündungsproblem eines älteren Autos zu beheben versucht, wird er, wenn er selbst gerade „in einer jener regnerischen Wochen ... ständig den Schlamm von seinen Stiefeln wischen und immer wieder das klamme Hemd wechseln muss“, nach einem Zerstäuber greifen, mit dem er die Kontaktstellen von Feuchtigkeit befreien kann. Rieselt ihm jedoch der Sand „aus den Fugen eines Geländewagens auf der Hebebühne“ ins Haar, so „wird er wahrscheinlich vermuten, dass der Fahrer in den nahe gelegenen Dünen unterwegs gewesen ist, weshalb er stattdessen nach seinem Druckluftkompressor greifen wird, um den Verteiler zu reinigen.“ (Vgl. Crawford 2010, S.215f.)

Die „Situationsbedingtheit“ des Denkens, das der Mechaniker an den Tag legt (vgl. Crawford 2010, S.217), zeigt, daß seine Phänomenologie in einer subtilen Kasuistik besteht, wie ich es in diesem Blog als spezifisch pädagogische Denkform diskutiert habe. (Vgl. meine Posts vom 07.09. bis 10.09.2013) Es gibt also nicht nur zwischen Handwerk und Medizin Analogien (vgl. Crawford 2010, S.111), sondern auch zwischen Handwerk und Pädagogik.

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