„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 21. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

2. Übergänge
3. Technik des Maßes

Ich werde das beeindruckende, 790 Seiten umfassende Werk von Frank Engster nicht in einem Rutsch lesen und anschließend besprechen, sondern so, wie ich es abschnittsweise lesen und exzerpieren werde, werde ich es auch abschnittsweise besprechen. Im Grunde besteht das Buch aus fünf Büchern, die jeweils Hegel und Marx, Lukács, Adorno und Sohn-Rethel und der Auflösung der Ökonomie in Zeit gewidmet sind. Daran werde ich auch meine folgenden Kommentare orientieren.

In seinem Vorwort leitet Engster sein Buch mit der Bemerkung ein, daß es endlich „wieder ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik“ gebe. (Vgl. Engster 2014, S.13) Aber gibt es deshalb auch wieder ein Bedürfnis nach einem an Hegel und Marx orientierten Jargon, der die Hegelschen und Marxschen Formeln als ‚identisch gehaltene‘ Phrasen zu komplex verschachtelten Mammutsätzen zusammenfügt? Vielleicht ja. Denn Engster läßt keinen Zweifel daran, daß es bei einem sich auf diese Weise artikulierenden Denken um die adäquate „Darstellung der Selbstbewegung des Kapitals“ geht (vgl. Engster 2014, S.102) bzw. daß es in diesem Jargon darum geht, „das Absolute zur Darstellung (zu) treiben“ (vgl. Engster 2014, S.96).

In aller Offenheit setzt Engster dieses Denken und den damit verbundenen Jargon mit einem Rechenakt gleich (vgl. Engster 2014, S.107ff.), wie ja auch in den entsprechenden Bereichen der Ökonomie, der Naturwissenschaft, der Mathematik ebenfalls hauptsächlich gerechnet wird, nämlich mit vorgegebenen Maßen wie Geld, Metern und Sekunden oder einfach nur mit Buchstaben und Zahlen. Insofern sich das Denken selbst begründet und deshalb „im begrifflichen Denken Objektivität und Subjektivität einander entsprechen“ (vgl. Engster 2014, S.96), also identisch sind, ist das Denken nichts anderes als ein Rechenakt, an dessen Stelle dann z.B. in der Ökonomie das Geld tritt, das für das Denken das Rechnen übernimmt. (Vgl. Engster 2014, S.97)

Insofern kann man Engsters Bemerkung, daß es wieder ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik gebe, auch so verstehen, daß wir in einer Zeit leben, in der das allgemeine verbreitete ‚Rechnen‘ mittels ‚Computern‘ unsere alltägliche Lebenswelt – als technologische Kommunikationsform – so sehr kolonialisiert hat, daß wir in unserer inneren Wüste nach Erlösung lechzen.

Aber müssen wir dem allgemeinen Rechnen wiederum mit Rechnen begegnen? Sollten wir nicht vielmehr das aufs Rechnen reduzierte Denken durch Nicht-Rechnen zu überwinden versuchen? Sollten wir nicht wieder ein Denken zulassen, dem sich etwas zu denken ‚gibt‘, anstatt sich durchs Denken selbst zu begründen?

Damit aber erstmal genug der Rückfragen an den Autor. Für jetzt will ich auf seine zentrale These eingehen. Diese besteht darin, daß Engster zufolge alle bisherige Kapitalismuskritik sich immer nur auf die Arbeit und die Ware bezogen und dabei die Rolle des Geldes nicht berücksichtigt habe. (Vgl. Engster 2014, S.35ff.u.ö.) Insbesondere der Ökonomie wirft Engster vor, daß sie sich ihres eigenen Gegenstandes, des Geldes, nicht habe vergewissern können. Die eigentlichen produktiven Anregungen zur Lösung des „Geldrätsels“ seien niemals aus der Ökonomie, sondern aus der „Soziologie und der Kommunikations- und Medientheorie“ gekommen. (Vgl. Engster 2014, S.82f., Anm.46) Ich selbst habe zu diesem Thema das von der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun geschriebene Buch „Der Preis des Geldes“ (2/2012) besprochen. (Vgl. meine Posts vom 09.11. bis 22.12.2012)

Engster sieht seinen eigenen Beitrag zur Kapitalismuskritik deshalb darin, „sich auf die Entwicklung der ersten, vorrangigen und zugleich herausgesetzten Bestimmung des Geldes als Maß des Werts“ zu konzentrieren, „aber so, dass die zwei weiteren“ – also seine Bestimmungen als Mittel und Methode – „wie gefordert, immanent so daraus hervorgehen, dass sie dadurch die Maßbestimmung erst, gleichsam im Nachhinein, einlösen.“ (Vgl. Engster 2014, S.91) Schon im Titel seines Buches sind diese drei Bestimmungen, die Geldfunktionen, aufgeführt, die das Geld Engster zufolge für die kapitalistische Gesellschaft hat: Maß, Mittel und Methode. Mit ‚Maß‘ ist das ‚Ideal‘ gemeint, im Sinne eines sich durch sich selbst begründenden Selbstverhältnisses. Engster spricht in diesem Zusammenhang auch passenderweise von einer „Tautologie“. (Vgl. Engster 2014, S.110, 118f.) Ich komme darauf im nächsten Post zurück.

Mit ‚Mittel‘ ist gemeint, daß der Austausch und die Zirkulation der Waren nur mithilfe des Geldes funktionieren: „Indes setzt die Realisierung des gesellschaftlichen Verhältnisses ein, indem das Maß zum Tauschmittel wird und die Arbeiten in Form des Austausches und Zirkulierens ihrer Resultate, der Waren, auf praktische Weise ins Verhältnis setzt und vermittelt.“ (Engster 2014, S.28) Das Geld ist also gleichermaßen ein Ideal bzw. eine ideelle Einheit (vgl. Engster 2014, S.88, 93) wie ein reales Tauschmittel.

Schließlich ist das Geld auch eine Methode, womit Engster meint, daß das Geld sich selbst produziert: „Geld als Geld“ bzw. „Kapital“ (vgl. Engster 2014, S.93). In den Waren und ihrer Produktion geht es demnach nur scheinbar um diese Waren selbst; tatsächlich aber bilden deren Austausch und die Zirkulation nur eine „Produktionsweise“ des Geldes: es geht also um mehr Geld, um Profit. (Vgl. Engster 2014, S.94) ‚Methode‘ nennt Engster diese Geldfunktion, wie ich vermute, weil die griechische Wortbedeutung, ‚Weg‘, auf den Zeitcharakter des Produktionsprozesses verweist. Im Produktionsprozeß wird wie beim Zurücklegen eines Weges Zeit verbraucht, und mit dieser Zeit ‚rechnet‘ das Geld: „Der Zusammenhang zwischen Maß, Messung und gemessener Qualität ist zeitlich, er begründet eine ‚Ökonomie der Zeit‘.“ (Engster 2014, S.148)

Die wichtigste Funktion, mit der alles beginnt, auch die Philosophien von Hegel und Marx selbst, ist Engster zufolge das Maß, das bei Hegel mal das Bewußtsein („Phänomenologie des Geistes“), mal das Sein bzw. die Objektivität („Wissenschaft der Logik“) und bei Marx das Geld ist. Was das bedeutet, erschließt sich am besten am Beispiel der Naturwissenschaft, deren Maße alle der ‚Natur‘ entnommen sind, so daß diese Natur mit sich selbst gemessen wird, so wie Hegel sich das Bewußtsein durch sich selbst begründen läßt, oder wie bei Marx, wo der Gesamtheit der Waren eine bestimmte Ware entnommen wird, die Geldware, um die Waren so sich selbst bewerten zu lassen: „Die Eigentümlichkeit des Anfangs besteht somit darin, dass auch im Kapital das Geld am Anfang steht und gewissermaßen den Standpunkt der Kritik markiert ...“ (Engster 2014, S.86)

Einen solchen „reinen, voraussetzungslosen Anfang“ (Engster 2014, S.112) nimmt auch die Naturwissenschaft, wenn sie ihre Maße der Natur entnimmt und im Meter als dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs die Erde sich selbst messen läßt. Das Maß ist, so Engster, der „blinde Fleck der Naturwissenschaft“, das „ihr Objekt, die Natur“ konstituiert, „indem sie“, also die Natur, „so an sich selbst gehalten ist, dass sie zur Natur erst wird, nämlich indem sie ihrem eigenen Verhältnis ausgesetzt ist.“ (Vgl. Engster 2014, S.118)

Mit dem Maß fängt also alles an. Und für das Geld bedeutet diese Heraussetzung als Maß und seine Gegenüberstellung zunächst den Waren gegenüber, dann sich selbst gegenüber, daß es im Austausch und der Zirkulation der Waren „identisch gehalten“ wird, (vgl. Engster 2014, S.122, 147), so daß es am Ende dieses Produktionsprozesses zu sich selbst zurückkehren kann (vgl. Engster 2104, S.111).

Die drei Geldfunktionen sind also durch zwei Übergänge miteinander verbunden. (Vgl. Engster 2014, S.89f.) Der erste Übergang, von der ersten zur zweiten Funktion, ist der von der Idealität als Geld zur Realität als Ware, der zweite Übergang besteht in der Rückkehr des Geldes zu sich selbst, was Engster mit der Formel G-W-G' wiedergibt: „Geld-Ware-Geld+Profit“. (Vgl. Engster 2014, S.111) Im letzten Übergang, also in der Rückkehr des Geldes zu sich selbst, erweist sich die Realität des Warenverkehrs, die Engster in der Formel W-G-W (vgl. Engster 2014, S.92) zusammenfaßt, als Schein:
„Dadurch werden zudem die realisierten Warenwerte zu einem Schein herabgesetzt, denn durch die Realisierung der Warenwerte wird die produktive Kraft ihrer Produktion ermittelt und ins Verhältnis gesetzt. Genauer gesagt, ermittelt das Geld auf blinde Weise in den Waren die produktive Kraft der Verwertung von Arbeit und Kapital, und in diese Verwertung war das Geld selbst ausgelegt. Die Realisierung des Wertverhältnisses der Waren ist also gleich in dreifacher Hinsicht ein notwendiger Schein: Erstens, weil die Zirkulation der Waren ihre Produktion realisiert; zweitens, weil die Verwandlung der Waren in Werte bereits die Zurückverwandlung des Geldes aus seiner Entäußerung und Auslegung in die Produktion ist und das Geld seinen Selbstbezug als Kapital (er-)schließt; und drittens, weil das Geld in der Realisierung der Warenwerte und in seiner Rückkehr aus der Entäußerung in die Produktion die produktive Kraft der Verwertung ermittelt.“ (Engster 2014, S.89)
Die „Produktion“ ist übrigens selbst Teil des Warentausches, insofern die Arbeitskraft als Ware in den Produktionsprozeß eingeht und überhaupt der ganze Produktionsprozeß im Warentausch ‚resultiert‘, wobei sich eben im zweiten Übergang erweist, daß der eigentliche Produktionsprozeß in der Selbstverwertung des Geldes besteht.

Dabei allerdings wird die Selbstverwertung des Geldes nur möglich über die vorangegangene Aus-einander-legung in Arbeit als Substanz des gesellschaftlichen Verhältnisses und in Ware als Form des gesellschaftlichen Verhältnisses, eines Verhältnisses also, das wiederum das Geld selbst ist. (Vgl. Engster 2014, S.82, 97, 110 u.ö.) Das Geld wird also in den Produktionsprozeß in des Wortes zweifacher Bedeutung ‚ausgelegt‘: ‚vorgestreckt‘ im Sinne eines Kredits und ‚auseinandergelegt‘ als Produktionsprozeß, damit es sich anschließend mit einem mysteriösen Mehrwert zurückgewinnen kann. – „Und doch verwirklichen sich der kapitalistische Selbstbezug des Geldes und die Verwertung des Werts nur durch jenen Schein; die Realisierung des Tauschwerts im Austausch der Waren und das Wesen des Maßes als Mittel dieses Austauschs ist für die Vermittlung wesentlich.“ (Engster 2014, S.94)

Diese Notwendigkeit, daß sich das Geld ‚auslegen‘ muß, macht den ‚Schein‘ des Warentausches, also die zweite Geldfunktion, zu einem notwendigen Schein. Hier passiert etwas Merkwürdiges, was mit der Ökonomie der Zeit und ihrer Identität zusammenhängt. Im Übergang zum Tauschwert wird das Geld als Mittel des Austauschs zum „Wesen des Maßes“. Diese Aussage läßt sich nur verstehen, wenn man auf die Etymologie des Wortes ‚Wesen‘ achtet: es leitet sich von der Vergangenheitsform ‚ge-wesen‘ ab. Das ‚Maß‘ bleibt also als vergangenes bzw. gewesenes Ideal in der Realisierung bzw. ‚Vermittlung‘ (Mittel), also in seiner Spezifizierung zum „Preis“ (vgl. Engster 2014, S.144), erhalten bzw. es wird, wie Engster sich ausdrückt, ‚identisch gehalten‘. Wir haben also im Selbstverwertungsprozeß des Kapitals einen ständigen Vergangenheits- und Zukunftsbezug, der einen Kreislauf gewährleistet, eine „Ökonomie der Zeit“.

Auch Engsters Hinweis auf das Kapital als „tote() Arbeitszeit“ (Engster 2014, S.66) gibt dem ‚Wesen‘, das im Austausch und in der Zirkulation der Waren umtreibt und als „Wert zurückkehren und verwertet sein wird“ (Engster 2014, S.111), eine spekulative Note, der allerdings durch die grammatische Konstruktion (Futurum II) jedes Risikobewußtsein ausgetrieben worden ist.

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