„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

2. Übergänge
3. Technik des Maßes

Was mit dem Begriff ‚Methode‘, im Unterschied zum ‚Mittel‘,  gemeint ist, habe ich mir aus der griechischen Wortbedeutung erschlossen. (Vgl. meinen letzten Post) Engster liefert zum gemeinsamen Wortfeld von Mittel und Methode keine weitere Erläuterung. In seinem Gebrauch dieser Begriffe scheint aber das Spezifikum des Wortes ‚Methode‘ eben darin zu liegen, daß im Selbstverwertungsprozeß des Kapitals notwendigerweise Zeit zurückgelegt werden muß, mit ‚Methode‘ also die Zeitlichkeit des Produktionsprozesses, im Sinne einer „Ökonomie der Zeit“ gemeint ist. Engster verwendet einen weiteren Begriff, den der ‚Technik‘, der wiederum genau zu den industriellen Bedingungen des Produktionsprozesses paßt, der ja nun eigentlich mit dem Begriff der Methode belegt ist. Worin liegt also nun die spezifische Bedeutung des Wortes ‚Technik‘ im Unterschied zu ‚Mittel‘ und ‚Methode‘?

Auch hier muß man sich mangels eigener Erläuterungen des Autors zum gemeinsamen Wortfeld seiner Begriffe diese spezifische Bedeutung aus dem Gebrauch erschließen. Von ‚Technik‘ ist bei Engster immer dann die Rede, wenn ‚gerechnet‘ wird. Außerdem spricht Engster in einem ganz spezifischen Sinne von der „Technik des Maßes“ (vgl. Engster 2014, S.118, 120f.), also von Technik im Sinne der ersten Geldfunktion, während die Methode zur dritten Geldfunktion gehört und auf die Zeitlichkeit des ökonomischen Prozesses verweist. Die Technik des Maßes liegt im Unterschied zu dieser ‚methodischen‘ Zeitlichkeit außerhalb der Zeit, eben am „reinen, voraussetzungslosen Anfang“, der vor der „radikalen Trennung“ in Objektivität und Subjektivität liegt, die der Produktionsprozeß mit sich bringt. (Vgl. Engster 2014, S.112). Mit Bezug auf die Naturwissenschaften schreibt Engster: „‚Vor‘ heißt, die Herausforderung der Naturwissenschaften durch die Technik des Maßes und die Messung ist bereits für die Theorie und die Wissenschaft, was dann in der eigentlichen Technik der Maschinen und Produktionsmittel, der Werkzeuge und Instrumente zur Technik einer praktischen Herausforderung der Natur werden muss.“ (Engster 2014, S.121)

Das Maß beinhaltet also auf theoretischer Ebene eine ‚Technik‘, die die Technizität des industriellen Produktionsprozesses vorwegnimmt. Vielleicht könnte man hier auch besser von ‚Technologie‘ sprechen, um die Wissenschaftlichkeit dieser Ebene hervorzuheben. Bevor also im praktischen Produktionsprozeß mit der Trennung von Objektivität und Subjektivität und ihrer wechselseitigen Entsprechung, ihrer Identität, überhaupt gerechnet werden kann, leistet die Technik des Maßes vor allem eines: sie konstituiert die Objektivität als solche (vgl. Engster 2014, S.113, 118), und zwar noch vor ihrer Trennung in Subjektivität und Objektivität. Am Anfang steht also nicht eine transzendentale Subjektivität wie bei Kant, sondern die Objektivität „überhaupt“, „voraussetzungslos allein durch sie selbst bestimmt“. (Vgl. Engster 2014, S.118)

Die „Technik“, die diese Objektivität ermöglicht, besteht im „Heraussetzen und Identisch-Halten des Maßes“: „Die Technik des Maßes ist die Identifizierung der Natur qua Messung.“ (Engster 2014, S.120) – Indem das Bewußtsein bei Hegel in seinen Vorstellungen und Wahrnehmungen ‚identisch gehalten‘ wird, wird ein Weltverhältnis – „Gegenständlichkeit“, wie Engster schreibt (vgl. Engster 2014, S.57) – erst möglich. Wird diese Technik in der „Phänomenologie des Geistes“ noch durch das Selbstbewußtsein ermöglicht, tritt an dessen Stelle in der „Wissenschaft der Logik“ die Objektivität als solche. Auch hier geht es um einen Identifizierungsakt, der sich in allen folgenden Begriffsbestimmungen durchhält bzw. ‚identisch hält‘. Bei Marx wird diese ‚Technik‘ durch das Geld als „ideeller Werteinheit“ geleistet. (Vgl.u.a. Engster 2014, S.110)

Gemeinsam ist allen diesen verschiedenen Versuchen, ein Maß herauszusetzen, über das identifizierende Messen ein Selbstverhältnis zu schaffen, das sich an seinem eigenen Maß bricht (vgl. Engster 2014, S.120). Dieses Selbstverhältnis, sei es nun das Bewußtsein, die Gesellschaft oder die Natur, wird nun durch die vermittels des Brechungsaktes (Reflexion) „ermittelten Werte“, also durch sich selbst, ‚wiedergegeben‘, wie Engster schreibt: „Diese – im Wortsinn – Herausforderung ist die Technik der Naturwissenschaft schlechthin.“ (Engster 2014, S.120) – Die Heraus-Setzung eines Maßes bildet also eine ‚Technik‘ der ‚Herausforderung‘, die die ansonsten stumme Natur zum Sprechen bringt.

In diesem ersten und voraussetzungslosen Setzen einer Objektivität bzw. Gegenständlichkeit, die überhaupt erst ein ‚Rechnen‘ mit solchen ungewissen oder dunklen Phänomenen wie ‚Gesellschaft‘ oder ‚Natur‘ ermöglicht (vgl. Engster 2014, S.107ff.), sieht Engster die kritische Überlegenheit von Hegel und Marx gegenüber einem Kant, der in diesem Vergleich bei Engster nicht so gut wegkommt und dem er immer wieder Naivität vorwirft, weil er noch „unkritisch“ zwischen „eine(r) chaotische(n) Mannigfaltigkeit aufseiten der Dinge, der Natur oder der Materie“ und einem „transzendentalen Vermögen“, eben der transzendentalen Subjektivität, trennt. (Vgl. Engster 2014, S.117) Nicht „unkritisch“ ist hingegen offensichtlich Hegels „spekulative Identität“, die der „Trennung in Objekt und Subjekt“ vorausgeht. (Vgl. ebenda)

Während Kant von einer transzendentalen Subjektivität ausgeht, die der chaotischen Natur, dem Ding-an-sich der subjektiven Erscheinungen, ihre Ordnung hinzufügt, soll bei Hegel, so Engster, die Objektivität als solche mit Hilfe der Technik des Maßes durch sich selbst ‚herausgefordert‘ werden: Die „subjektive Zutat“ besteht dann Engster zufolge darin, „buchstäblich nichts dazuzutun“. (Vgl. engster 2014, S.122) – Das klingt schon fast nach Husserl und seinen Meditationen, in denen sich die Phänomene selbst geben sollen. Hier geht es aber nicht um bestimmte Phänomene, sondern eben um die Gegenständlichkeit als solche, vor ihren phänomenalen Verbesonderungen, also in einem erkenntnismäßigen, vorsinnlichen Nichts.

Bei Husserl ‚geben‘ sich die Phänomene in ihrer Perspektivenvielfalt. Dazu bedarf es der Subjekte. Bei Hegel hingegen ‚gibt‘ sich Engster zufolge das Maß ohne solche „subjektive Zutat“, und dieses subjektlose Maß kennt nur eine Perspektive: die Identität mit sich selbst. Husserl beklagt diesen Verlust der Perspektive „im Reiche reiner Limesgestalten“, wie er mit der durchgehenden Mathematisierung der Naturwissenschaften eingesetzt hatte. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013) Dennoch spricht Engster in diesem Zusammenhang von einer „Gabe“, und zwar „im starken Sinne“. (Vgl. Engster 2014, S.14) Es ist aber wohl eine Gabe, die eher nimmt, als gibt.

Zurück zu Kant: seine Naivität, so Engster, entspricht der Naivität der Naturwissenschaft mit ihrem blinden Fleck: beide gehen von einem „erkenntnisjenseitigen Ding an sich“ aus. (Vgl. Engster, 2104, S.116) Genau das ist aber auch der Standpunkt der Lebenswelt, aus der letztlich alle Philosophie und die Naturwissenschaft selbst hervorgegangen sind. Die Erkenntnis beginnt niemals mit sich selbst, rein und voraussetzungslos. Das zu wissen ist geradezu das Wesen jeder Kritik. Versucht sich die Kritik gegen diese Voraussetzung zu wenden und sich selbst in einer reinen Voraussetzungslosigkeit durch sich selbst zu begründen, als voraussetzungslose Objektivität eines Selbstverhältnisses, erhöht sich nicht etwa ihr kritisches Potential, sondern sie wird erst recht sich selbst gegenüber naiv.

Kant ist gerade darin kritisch, daß er seine Kritik an der Naivität begrenzt. Er schreibt nicht umsonst drei Kritiken: zur reinen Vernunft, zur praktischen Vernunft und zur Urteilskraft. Hegel und Marx hätten versucht, alle drei Kritiken auf eine zurückzuführen und sie in einem System zusammenzufassen. Kant hingegen ist redlich genug, sich seinen Gegenstand ‚geben‘ zu lassen: das Wahre, das Gute, das Schöne, und er arbeitet an ihnen die Differenzen heraus, anstatt sie aufeinander zurückzuführen bzw. in ein System zu überführen. Was ist an diesem Vorgehen „unkritisch“? Es ist im Gegenteil kritisch und naiv zugleich, und deshalb ist es philosophisch.

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Freitag, 21. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

2. Übergänge
3. Technik des Maßes

Ich werde das beeindruckende, 790 Seiten umfassende Werk von Frank Engster nicht in einem Rutsch lesen und anschließend besprechen, sondern so, wie ich es abschnittsweise lesen und exzerpieren werde, werde ich es auch abschnittsweise besprechen. Im Grunde besteht das Buch aus fünf Büchern, die jeweils Hegel und Marx, Lukács, Adorno und Sohn-Rethel und der Auflösung der Ökonomie in Zeit gewidmet sind. Daran werde ich auch meine folgenden Kommentare orientieren.

In seinem Vorwort leitet Engster sein Buch mit der Bemerkung ein, daß es endlich „wieder ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik“ gebe. (Vgl. Engster 2014, S.13) Aber gibt es deshalb auch wieder ein Bedürfnis nach einem an Hegel und Marx orientierten Jargon, der die Hegelschen und Marxschen Formeln als ‚identisch gehaltene‘ Phrasen zu komplex verschachtelten Mammutsätzen zusammenfügt? Vielleicht ja. Denn Engster läßt keinen Zweifel daran, daß es bei einem sich auf diese Weise artikulierenden Denken um die adäquate „Darstellung der Selbstbewegung des Kapitals“ geht (vgl. Engster 2014, S.102) bzw. daß es in diesem Jargon darum geht, „das Absolute zur Darstellung (zu) treiben“ (vgl. Engster 2014, S.96).

In aller Offenheit setzt Engster dieses Denken und den damit verbundenen Jargon mit einem Rechenakt gleich (vgl. Engster 2014, S.107ff.), wie ja auch in den entsprechenden Bereichen der Ökonomie, der Naturwissenschaft, der Mathematik ebenfalls hauptsächlich gerechnet wird, nämlich mit vorgegebenen Maßen wie Geld, Metern und Sekunden oder einfach nur mit Buchstaben und Zahlen. Insofern sich das Denken selbst begründet und deshalb „im begrifflichen Denken Objektivität und Subjektivität einander entsprechen“ (vgl. Engster 2014, S.96), also identisch sind, ist das Denken nichts anderes als ein Rechenakt, an dessen Stelle dann z.B. in der Ökonomie das Geld tritt, das für das Denken das Rechnen übernimmt. (Vgl. Engster 2014, S.97)

Insofern kann man Engsters Bemerkung, daß es wieder ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik gebe, auch so verstehen, daß wir in einer Zeit leben, in der das allgemeine verbreitete ‚Rechnen‘ mittels ‚Computern‘ unsere alltägliche Lebenswelt – als technologische Kommunikationsform – so sehr kolonialisiert hat, daß wir in unserer inneren Wüste nach Erlösung lechzen.

Aber müssen wir dem allgemeinen Rechnen wiederum mit Rechnen begegnen? Sollten wir nicht vielmehr das aufs Rechnen reduzierte Denken durch Nicht-Rechnen zu überwinden versuchen? Sollten wir nicht wieder ein Denken zulassen, dem sich etwas zu denken ‚gibt‘, anstatt sich durchs Denken selbst zu begründen?

Damit aber erstmal genug der Rückfragen an den Autor. Für jetzt will ich auf seine zentrale These eingehen. Diese besteht darin, daß Engster zufolge alle bisherige Kapitalismuskritik sich immer nur auf die Arbeit und die Ware bezogen und dabei die Rolle des Geldes nicht berücksichtigt habe. (Vgl. Engster 2014, S.35ff.u.ö.) Insbesondere der Ökonomie wirft Engster vor, daß sie sich ihres eigenen Gegenstandes, des Geldes, nicht habe vergewissern können. Die eigentlichen produktiven Anregungen zur Lösung des „Geldrätsels“ seien niemals aus der Ökonomie, sondern aus der „Soziologie und der Kommunikations- und Medientheorie“ gekommen. (Vgl. Engster 2014, S.82f., Anm.46) Ich selbst habe zu diesem Thema das von der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun geschriebene Buch „Der Preis des Geldes“ (2/2012) besprochen. (Vgl. meine Posts vom 09.11. bis 22.12.2012)

Engster sieht seinen eigenen Beitrag zur Kapitalismuskritik deshalb darin, „sich auf die Entwicklung der ersten, vorrangigen und zugleich herausgesetzten Bestimmung des Geldes als Maß des Werts“ zu konzentrieren, „aber so, dass die zwei weiteren“ – also seine Bestimmungen als Mittel und Methode – „wie gefordert, immanent so daraus hervorgehen, dass sie dadurch die Maßbestimmung erst, gleichsam im Nachhinein, einlösen.“ (Vgl. Engster 2014, S.91) Schon im Titel seines Buches sind diese drei Bestimmungen, die Geldfunktionen, aufgeführt, die das Geld Engster zufolge für die kapitalistische Gesellschaft hat: Maß, Mittel und Methode. Mit ‚Maß‘ ist das ‚Ideal‘ gemeint, im Sinne eines sich durch sich selbst begründenden Selbstverhältnisses. Engster spricht in diesem Zusammenhang auch passenderweise von einer „Tautologie“. (Vgl. Engster 2014, S.110, 118f.) Ich komme darauf im nächsten Post zurück.

Mit ‚Mittel‘ ist gemeint, daß der Austausch und die Zirkulation der Waren nur mithilfe des Geldes funktionieren: „Indes setzt die Realisierung des gesellschaftlichen Verhältnisses ein, indem das Maß zum Tauschmittel wird und die Arbeiten in Form des Austausches und Zirkulierens ihrer Resultate, der Waren, auf praktische Weise ins Verhältnis setzt und vermittelt.“ (Engster 2014, S.28) Das Geld ist also gleichermaßen ein Ideal bzw. eine ideelle Einheit (vgl. Engster 2014, S.88, 93) wie ein reales Tauschmittel.

Schließlich ist das Geld auch eine Methode, womit Engster meint, daß das Geld sich selbst produziert: „Geld als Geld“ bzw. „Kapital“ (vgl. Engster 2014, S.93). In den Waren und ihrer Produktion geht es demnach nur scheinbar um diese Waren selbst; tatsächlich aber bilden deren Austausch und die Zirkulation nur eine „Produktionsweise“ des Geldes: es geht also um mehr Geld, um Profit. (Vgl. Engster 2014, S.94) ‚Methode‘ nennt Engster diese Geldfunktion, wie ich vermute, weil die griechische Wortbedeutung, ‚Weg‘, auf den Zeitcharakter des Produktionsprozesses verweist. Im Produktionsprozeß wird wie beim Zurücklegen eines Weges Zeit verbraucht, und mit dieser Zeit ‚rechnet‘ das Geld: „Der Zusammenhang zwischen Maß, Messung und gemessener Qualität ist zeitlich, er begründet eine ‚Ökonomie der Zeit‘.“ (Engster 2014, S.148)

Die wichtigste Funktion, mit der alles beginnt, auch die Philosophien von Hegel und Marx selbst, ist Engster zufolge das Maß, das bei Hegel mal das Bewußtsein („Phänomenologie des Geistes“), mal das Sein bzw. die Objektivität („Wissenschaft der Logik“) und bei Marx das Geld ist. Was das bedeutet, erschließt sich am besten am Beispiel der Naturwissenschaft, deren Maße alle der ‚Natur‘ entnommen sind, so daß diese Natur mit sich selbst gemessen wird, so wie Hegel sich das Bewußtsein durch sich selbst begründen läßt, oder wie bei Marx, wo der Gesamtheit der Waren eine bestimmte Ware entnommen wird, die Geldware, um die Waren so sich selbst bewerten zu lassen: „Die Eigentümlichkeit des Anfangs besteht somit darin, dass auch im Kapital das Geld am Anfang steht und gewissermaßen den Standpunkt der Kritik markiert ...“ (Engster 2014, S.86)

Einen solchen „reinen, voraussetzungslosen Anfang“ (Engster 2014, S.112) nimmt auch die Naturwissenschaft, wenn sie ihre Maße der Natur entnimmt und im Meter als dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs die Erde sich selbst messen läßt. Das Maß ist, so Engster, der „blinde Fleck der Naturwissenschaft“, das „ihr Objekt, die Natur“ konstituiert, „indem sie“, also die Natur, „so an sich selbst gehalten ist, dass sie zur Natur erst wird, nämlich indem sie ihrem eigenen Verhältnis ausgesetzt ist.“ (Vgl. Engster 2014, S.118)

Mit dem Maß fängt also alles an. Und für das Geld bedeutet diese Heraussetzung als Maß und seine Gegenüberstellung zunächst den Waren gegenüber, dann sich selbst gegenüber, daß es im Austausch und der Zirkulation der Waren „identisch gehalten“ wird, (vgl. Engster 2014, S.122, 147), so daß es am Ende dieses Produktionsprozesses zu sich selbst zurückkehren kann (vgl. Engster 2104, S.111).

Die drei Geldfunktionen sind also durch zwei Übergänge miteinander verbunden. (Vgl. Engster 2014, S.89f.) Der erste Übergang, von der ersten zur zweiten Funktion, ist der von der Idealität als Geld zur Realität als Ware, der zweite Übergang besteht in der Rückkehr des Geldes zu sich selbst, was Engster mit der Formel G-W-G' wiedergibt: „Geld-Ware-Geld+Profit“. (Vgl. Engster 2014, S.111) Im letzten Übergang, also in der Rückkehr des Geldes zu sich selbst, erweist sich die Realität des Warenverkehrs, die Engster in der Formel W-G-W (vgl. Engster 2014, S.92) zusammenfaßt, als Schein:
„Dadurch werden zudem die realisierten Warenwerte zu einem Schein herabgesetzt, denn durch die Realisierung der Warenwerte wird die produktive Kraft ihrer Produktion ermittelt und ins Verhältnis gesetzt. Genauer gesagt, ermittelt das Geld auf blinde Weise in den Waren die produktive Kraft der Verwertung von Arbeit und Kapital, und in diese Verwertung war das Geld selbst ausgelegt. Die Realisierung des Wertverhältnisses der Waren ist also gleich in dreifacher Hinsicht ein notwendiger Schein: Erstens, weil die Zirkulation der Waren ihre Produktion realisiert; zweitens, weil die Verwandlung der Waren in Werte bereits die Zurückverwandlung des Geldes aus seiner Entäußerung und Auslegung in die Produktion ist und das Geld seinen Selbstbezug als Kapital (er-)schließt; und drittens, weil das Geld in der Realisierung der Warenwerte und in seiner Rückkehr aus der Entäußerung in die Produktion die produktive Kraft der Verwertung ermittelt.“ (Engster 2014, S.89)
Die „Produktion“ ist übrigens selbst Teil des Warentausches, insofern die Arbeitskraft als Ware in den Produktionsprozeß eingeht und überhaupt der ganze Produktionsprozeß im Warentausch ‚resultiert‘, wobei sich eben im zweiten Übergang erweist, daß der eigentliche Produktionsprozeß in der Selbstverwertung des Geldes besteht.

Dabei allerdings wird die Selbstverwertung des Geldes nur möglich über die vorangegangene Aus-einander-legung in Arbeit als Substanz des gesellschaftlichen Verhältnisses und in Ware als Form des gesellschaftlichen Verhältnisses, eines Verhältnisses also, das wiederum das Geld selbst ist. (Vgl. Engster 2014, S.82, 97, 110 u.ö.) Das Geld wird also in den Produktionsprozeß in des Wortes zweifacher Bedeutung ‚ausgelegt‘: ‚vorgestreckt‘ im Sinne eines Kredits und ‚auseinandergelegt‘ als Produktionsprozeß, damit es sich anschließend mit einem mysteriösen Mehrwert zurückgewinnen kann. – „Und doch verwirklichen sich der kapitalistische Selbstbezug des Geldes und die Verwertung des Werts nur durch jenen Schein; die Realisierung des Tauschwerts im Austausch der Waren und das Wesen des Maßes als Mittel dieses Austauschs ist für die Vermittlung wesentlich.“ (Engster 2014, S.94)

Diese Notwendigkeit, daß sich das Geld ‚auslegen‘ muß, macht den ‚Schein‘ des Warentausches, also die zweite Geldfunktion, zu einem notwendigen Schein. Hier passiert etwas Merkwürdiges, was mit der Ökonomie der Zeit und ihrer Identität zusammenhängt. Im Übergang zum Tauschwert wird das Geld als Mittel des Austauschs zum „Wesen des Maßes“. Diese Aussage läßt sich nur verstehen, wenn man auf die Etymologie des Wortes ‚Wesen‘ achtet: es leitet sich von der Vergangenheitsform ‚ge-wesen‘ ab. Das ‚Maß‘ bleibt also als vergangenes bzw. gewesenes Ideal in der Realisierung bzw. ‚Vermittlung‘ (Mittel), also in seiner Spezifizierung zum „Preis“ (vgl. Engster 2014, S.144), erhalten bzw. es wird, wie Engster sich ausdrückt, ‚identisch gehalten‘. Wir haben also im Selbstverwertungsprozeß des Kapitals einen ständigen Vergangenheits- und Zukunftsbezug, der einen Kreislauf gewährleistet, eine „Ökonomie der Zeit“.

Auch Engsters Hinweis auf das Kapital als „tote() Arbeitszeit“ (Engster 2014, S.66) gibt dem ‚Wesen‘, das im Austausch und in der Zirkulation der Waren umtreibt und als „Wert zurückkehren und verwertet sein wird“ (Engster 2014, S.111), eine spekulative Note, der allerdings durch die grammatische Konstruktion (Futurum II) jedes Risikobewußtsein ausgetrieben worden ist.

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Samstag, 15. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

1. Methode

Ich hatte schon in meinem Post vom 29.12.2013 darauf hingewiesen, daß ich erhebliche Schwierigkeiten habe mit einer ‚Phänomenologie‘, die den Schein als Schein nicht ernstnimmt, sondern als ‚falsch‘ denunziert. Nun, da mir Frank Engsters Buch „Das Geld als Maß, Mittel und Methode“ (2014) vorliegt, wird mir nochmal klarer, worin meine Schwierigkeiten genau liegen. Ich werde deshalb meine folgenden Kommentare zu Engsters Buch damit einleiten, daß ich zwischen Phänomenologie und Dialektik zu differenzieren versuche, indem ich die Dialektische Methode als eine Form des Strukturalismus darstelle.

Ich hatte in dem erwähnten Post mein Unbehagen geäußert, daß Frank Engsters Darstellung sich in den Grenzen einer tautologischen Begründung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses bewege. Um dieses menschliche Selbst- und Weltverhältnis angemessen thematisieren zu können, bedürfe es aber, so meinte ich, einer Differenzierung zwischen Maßgabe und Sinnstiftung. Ich wollte darauf hinaus, daß im Unterschied zu Messungen, die sich ihr ‚Maß‘ vom Gegenstand leihen, wie z.B. die Referenzobjekte der Naturwissenschaften wie das ‚Urmeter‘ in Paris, als der zehnmillionste Teil des Viertels des meridialen Erdumfanges, und so den Gegenstand wie eben die ‚Erde‘ sich selber messen lassen, die Sinngebung des Menschen ein Aspekt seiner exzentrischen Positionalität ist. Er muß seinem Leben einen Sinn geben, weil er eben nicht mit sich identisch ist.

Auch Engster spricht zwar von einer Heraus-Setzung des Maßes aus seinem Gegenstand, den er mißt. Das führt aber zu keiner Exzentrik. Im Vorwort des Buches, das mir in den nächsten Tagen und Wochen zur Besprechung vorliegt, heißt es: „Wir können unsere eigene Vergesellschaftung wie einen gegebenen äußeren Gegenstand zum Objekt der Kritik machen, wenn wir uns mit dem Geld auf den Standpunkt einer gleichsam aus der Gesellschaft herausgesetzten Werteinheit stellen ...“ (Engster 2014, S.14)

An diesem Satzausschnitt möchte ich mich nun in meinen folgenden Überlegungen orientieren, um mir einen ersten Zugang zur Methodik des Buches zu erschließen, dessen formelhafte, feststehende Phrasen, die in immer neuen Variationen zu komplex verschachtelten Sätzen zusammengefügt werden, mich an mathematische Gleichungen erinnern. Zugleich beschwören sie Erinnerungen an unsägliche Hegel- und Marxlektüren aus meiner Studentenzeit herauf, in der wir uns in Seminaren und privaten Arbeitsgruppen die Köpfe heiß diskutierten, uns gegenseitig mit Begriffsschablonen bombardierend, von denen zumindestens ich kaum ein Wort verstand. Und ich unterstelle einmal, daß es vielen meiner Kommilitonen, die sie so eifrig verwendeten, nicht anders ging.

In dem zitierten Satz wird offengelegt, was uns Studenten damals verborgen blieb. Wir haben es mit dem Setzen eines Axioms, dem ‚Geld‘ – oder wahlweise die ‚Ware‘ oder das ‚Kapital‘ –, zu tun, von dem aus ein mathematisch geschlossenes System von Formeln möglich wird, das wir als „kapitalistische Gesellschaft“ zu bezeichnen gewöhnt sind. Dieses Axiom ermöglicht es uns also, zu verstehen, was die Gesellschaft ‚ist‘. Um zu verstehen, was es bedeutet, ein Axiom zu setzen und von ihm her zu bestimmen, ‚was‘ etwas ‚ist‘, möchte ich kurz zeigen, wie Phänomenologen vorgehen, wenn sie so etwas wie ‚Gesellschaft‘ zu thematisieren versuchen.

In der Phänomenologie unterscheidet Blumenberg zwischen Phänomenen, denen eine Anschauung entspricht: ‚Gegenstände‘ im eigentlichen Sinn des Wortes, die uns gegenüber ‚stehen‘ und die wir in den Blick nehmen können, und ‚Phänomenen‘ wie ‚Welt‘ oder ‚Geschichte‘, in denen wir uns immer schon befinden und die wir nicht von außen in den Blick bekommen können. (Vgl. meinen Post vom 09.09.2011) Sie haben keinen Außenhorizont. Diese ‚Gegenstände‘ beinhalten einen Absolutheitsanspruch: sie enthalten alles, aber sie sind selbst in Nichts enthalten. Dazu gehört auch die ‚Gesellschaft‘ bzw. die ‚Vergesellschaftung‘. Bei Engster heißt das, daß das Geld einen „unhintergehbaren wie unüberbietbaren Universalismus“ darstellt. (Vgl. Engster 2014, S.44) Wir haben es also beim Geld mit einem Letztbegründungsanspruch zu tun. (Zu Letztbegründungsansprüchen vgl.u.a. meine Posts vom 11.07.2012, 09.12.2012, 07.05.2013, 17.12.2013)

Die Methode des Phänomenologen, mit Totalitäten wie ‚Gesellschaft‘, ‚Welt‘, ‚Geschichte‘ umzugehen, besteht darin, Metaphern für diese Phänomene zu finden und sie von diesen Metaphern her zu ‚denken‘. Das macht Blumenberg z.B., indem er die ‚Welt‘ am Beispiel der Buchmetapher („Die Lesbarkeit der Welt“ (1979)) thematisiert. Das Prinzip dieser Methode besteht darin, Phänomene wie die ‚Welt‘ oder die ‚Gesellschaft‘ trotz ihres Absolutheitsanspruchs als Phänomene ernst zu nehmen. Ihre ‚Scheinhaftigkeit‘ ist zwar nur eine abgeleitete, metaphorische, aber sie ist keine falsche, sondern nur eine verborgene, die sich nicht von sich aus ‚zeigt‘. Sie ‚zeigen‘ sich nur als sich Verbergendes, Entziehendes, Abwesendes.

Hegel und Marx hingegen verwenden ein anderes Verfahren. Sie behandeln die Gesellschaft nicht als ein Phänomen, sondern als falschen ‚Schein‘, dessem wahren ‚Sein‘ man durch eine dialektische Logik auf die Spur zu kommen versucht. Zu diesem Zweck setzen sie ein Axiom wie den ‚Geist‘ oder das ‚Geld‘, den sie aus der Gesellschaft heraussetzen, um ihn als Standpunkt zu verwenden, auf den sie sich stellen, so daß sie von ihm her die Gesellschaft in den Blick bekommen können. ‚Begründet‘ wird dieser Standpunkt durch die ‚Entwicklung‘ der Gesellschaft als einer ‚Struktur‘, die den falschen Schein, den sie notwendigerweise erzeugt, Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit (vgl. Engster 2014, S.93), erklärt. – Wer sich über die Gleichsetzung von freiem Warentausch und Menschenrechten wundert, sei auf die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der EU und der Schweiz verwiesen, wo die EU auf der Unauflösbarkeit von freiem Personenverkehr und freiem Warenverkehr besteht.

Ich spreche ausdrücklich von ‚Struktur‘, ungeachtet dessen, daß Engster von einem ‚Prozeß‘ spricht. Ich habe nämlich den Verdacht, daß die Prozeßhaftigkeit der Vergesellschaftung selbst noch zum falschen Schein gehört. Tatsächlich will Engster mit seinem Buch ausdrücklich „keine geschichtliche, sondern eine logisch-systematische Begründung“ des Kapitals liefern. (Vgl. Engster 2014, S.34; vgl. auch S.55f.) Diese Begründungsform versagt aber dort, wo es mit der „kommunistischen Revolution“ um historische „Ereignisse“ geht, die sich aus den gegebenen historischen Bedingungen nicht herleiten lassen. Engster macht dies deutlich, indem er auf die grammatische Konstruktion des Futurum II zurückgreift, als nachträgliche Strukturierungsmöglichkeit (und damit Stillstellung) einer diachronischen Kontingenz: eine ‚historische‘ Begründung für die Revolution ergibt sich erst, wenn sie eingetreten sein wird. (Vgl. Engster 2014, S.53f.)

Tatsächlich bewegt sich in der kapitalistischen Gesellschaft gar nichts, es sei denn im Sinne eines Hamsterrades, das sich um sich selbst dreht, aber nicht vorwärtskommt. Die eigentlichen ‚Prozesse‘ spielen sich außerhalb dieses Hamsterrades ab: nämlich in einer Naturwelt, deren Ressourcen sich verbrauchen und deren Gleichgewichte sich neu konstituieren, möglicherweise dann demnächst auch ohne den Menschen. Jedenfalls wird die Zeitlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise durch eine Verschränkung globaler und lokaler Ereignisse auf eine Weise ‚von außen‘ widerfahren, daß sie sich nicht mehr so einfach als ein der kategorialen Logik immanenter „produktive(r) Umgang mit der Zeit“ darstellen lassen wird. (Vgl. Engster 2014, S.57)

Zurück zum falschen gesellschaftlichen Schein (Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit): seine durchgeführte, erfolgreiche Erklärung – freier Warenverkehr = freier Personenverkehr – verifiziert das Axiom, von dem die dialektische (Gedanken-) Bewegung ihren Ausgang genommen hatte. Wir haben es also mit einem Kreislauf bzw. Zirkel der Erklärung zu tun, der wiederum der Zirkulation des Geldes entspricht. Dieser Zirkel ist nicht vitiös, sondern entspricht lediglich dem Selbstverwertungsprozeß des Geldes. Falscher Schein (Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit) und wahres Sein („exzessives Verwertungs- und Ausbeutungsverhältnis“ (Engster 2014, S.931)) bilden also die zwei Seiten derselben Sache: der (kapitalistischen) Gesellschaft.

Die dialektische Logik beinhaltet also notwendigerweise eine Ideologiekritik: nämlich die Unterscheidung zwischen wahrem Sein und falschem Schein. Diese Ideologisierung ist der Phänomenologie fremd, für die alle Phänomene gerade als Schein ernstzunehmen sind. Ist die Phänomenologie deshalb unkritisch? Blumenberg suggeriert so etwas, wenn er behauptet, daß die Phänomenologie keine Ethik kenne. (Vgl. meinen Post vom 26.09.2012) Levinas hat aber gezeigt, daß es sehr wohl eine phänomenologische Ethik gibt: sie besteht vor allem darin, den Blick von etwas abzuwenden oder jemandem zuzuwenden. Nehme ich jemanden als ‚Antlitz‘ wahr, wende ich mich ihm als Person zu. Versuche ich, etwas hinter dem ‚Antlitz‘ ‚dingfest‘ zu machen, das wahrer oder richtiger als das Antlitz ist – daß ‚Personen‘ eigentlich nur ‚Waren‘ sind –, so wende ich mich von jemandem ab und mache ihn zu einem Etwas.

So gehen Strukturalisten vor: indem sie Strukturen an die Stelle von Phänomenen setzen, dezentrieren sie diese Phänomene und dekonstruieren in der letzten Konsequenz auch alles Menschliche. Was ist also die ‚Wahrheit‘ an der Ideologiekritik? Sie macht die Strukturen in den gesellschaftlichen Verhältnissen sichtbar. Die Gesellschaft ist ein ‚Verhältnis‘ (ensemble) von Individuen, so sehr, daß sie Marx zufolge nicht aus Individuen besteht – und Luhmann zufolge nicht aus Menschen –, sondern ‚rein‘ dieses ‚Verhältnis‘ und seine Struktur ist und nichts anderes. (Vgl. Engster 2014, S.58, Anm.14) Alles, was sich davon empirisch ‚zeigt‘, ist ‚Phänomen‘ und deshalb falsch!

Die Ideologiekritik macht also Strukturen ‚sichtbar‘, die ansonsten unsichtbar sind, weil sie sich nicht ‚zeigen‘. Zugleich aber macht sie blind für das subjektive Erleben dieser Strukturen und seine Wahrheit. Denn wir erleben ‚die‘ Gesellschaft nicht als Struktur, sondern als Sinn. Mit anderen Worten: die Gesellschaft ist für den Menschen eine Lebenswelt und keine Struktur. Vielleicht bedarf es so etwas wie einer phänomenalen Strukturanalyse (vgl. meinen Post vom 02.11.2013), die beiden Ebenen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander gerecht wird: der Unwahrheit wie der Wahrheit des Scheins.

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Mittwoch, 12. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie und Kasuistik

Ich habe schon in meinem Post vom 09.02.2014 darauf hingewiesen, daß der Werkzeuge gebrauchende Mensch seine eigene Phänomenologie hat, bei der er sich nicht damit begnügt, die Dinge einfach nur vor seine Augen zu halten und hin und her zu drehen. Dennoch hat diese Phänomenologie aber mit der von Husserl gemeinsam, daß es zu ihr einer inneren „Einstellung“ bedarf (vgl. Crawford 2010, S.100f.), die vor allem passiv und meditativ ist. Crawford spricht von einer „Metakognition“, mit der sich der Mechaniker nicht frontal einem einzelnen, konkreten Problem zuwendet, sondern die Situation als Ganzes, zu der auch die eigene „Denkweise“ gehört, in den Blick zu bekommen versucht:
„In der Kognitionspsychologie gibt es den Begriff der ‚Metakognition‘, der den Versuch beschreibt, einen Schritt zurückzutreten und über die eigene Denkweise nachzudenken. ... Im Gegensatz zur Einschätzung der Kognitionspsychologen ... scheint diese kognitive Kompetenz einer moralischen Eigenschaft zu entspringen. Weder die psychometrischen Intelligenztests noch die beschränkte Beschreibung der Intelligenz als ‚Verarbeitungsfähigkeit‘ – die auf der Annahme beruht, unser Verstand könne die aufgenommenen Erfahrungsdaten einfach wie ein Computer verarbeiten – werden ihr gerecht.“ (Crawford 2010, S.131f.)
Crawford beschreibt diese Metakognition in der folgenden Geschichte als einen zen-artigen Bewußtseinszustand. Er hat gerade viele vergebliche Versuche hinter sich, eine Ventilabdeckung von der Zylinderbank eines Motorrades zu lösen: „Ich steuerte auf einen vertrauten Punkt zu, an dem, nachdem ich alle Niederungen der Raserei und Verzweiflung durchschritten hatte, eine sonderbare Ruhe Besitz von mir ergreifen würde. Meine Tätigkeit war mittlerweile auf eine autistische Wiederholung von Handgriffen reduziert, die sich schon vor langer Zeit als nutzlos erwiesen hatten. Dann plötzlich fiel die Ventilabdeckung aus der Halterung. Das ist eine Erfahrung, die mir durchaus vertraut ist, und um bei der Montage und Demontage von Dingen mit einer unergründlichen fernöstlichen Aura Zeit zu sparen, habe ich mir angewöhnt, mich in einen Zenartigen Zustand der Resignation zu vertiefen, bevor ich mich an die Arbeit mache.“ (Crawford 2010, S.158)

Crawfords Hinweis auf die „Montage und Demontage von Dingen mit einer unergründlichen fernöstlichen Aura“ bezieht sich möglicherweise nicht nur auf die japanische Herkunft dieser speziellen Motorradmarke, einer „83er Honda Magna V45“ (Vgl. Crawford, S.152), sondern ist vielleicht auch ein versteckter Hinweis auf Robert Pirsigs „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ (1976). Dort gibt es eine Stelle in der Pirsig, der eine Zeitlang als Autor von Bedienungsanleitungen arbeitet, schreibt – ich zitiere aus dem Gedächtnis – : „Zum Zusammenbauen eines japanischen Fahrrades bedarf es großer innerer Gelassenheit!“

Wir haben es also in Crawfords Phänomenologie mit einer Form der „disziplinierte(n) Beobachtung“ (Crawford 2010, S.34) zu tun, wie sie der Husserlschen Meditation entspricht. Wie schwierig so eine disziplinierte und genaue Beobachtung und Wahrnehmung tatsächlich ist, zeigt Crawford, wenn er beschreibt, wie er ein menschliches Skelett möglichst realitätsgetreu nachzuzeichnen versucht. Statt das Skelett zu zeichnen, zeichnet er nur Variationen jener Halloweenfiguren, wie er sie von Hollywood und aus Comics kennt:
„Seit meiner Kindheit war ich mit Abbildungen des menschlichen Skeletts vertraut, doch sosehr ich mich auch bemühte, das Knochengerüst zu zeichnen, das dort vor mir stand, brachte ich statt des Objekts lediglich ein Symbol des Objekts zu Papier. ... Offensichtlich muss man dazu die normale Wahrnehmung, die sich weniger auf die konkreten Informationen als auf vorhandene Konzepte stützt, ausschalten. Wir haben eine Vorstellung von einem Ding, die in gewisser Weise unsere sinnliche Wahrnehmung des eigentlichen Dings vorwegnimmt.“ (Crawford 2010, S.123f.)
Um die Phänomene selbst so wahrzunehmen, wie sie sich uns geben, und nicht wie wir sie uns denken, müssen wir also innerlich ‚leer‘ werden und alle unsere Vorurteile und festen Absichten, die uns in eine bestimmte Richtung lenken, aufgeben, und jenen Zustand der inneren Resignation erreichen, den Crawford als zen-artig beschreibt.

Dieser Zustand ist beim Mechaniker und Handwerker das Ergebnis einer langen Erfahrung und Übung. Alle konkreten Erwartungen aufzugeben und sich ganz dem Phänomen zu überlassen, bedeutet für den Mechaniker nämlich, daß er sich einem intuitiven Prozeß überläßt, der ein ganz besonderes ‚Wissen‘ in ihm aktiviert. Crawford spricht hier vom „intuitive(n) Urteil der praktisch Tätigen“, das an die Stelle von „Regeln“ und „abstrakten Symbolen“ tritt. (Vgl. Crawford 2010, S.217) Wir haben es also immer noch mit ‚Wahrnehmung‘ zu tun, aber eben nicht mit der ‚normalen‘, die Symbole an die Stelle der Phänomene setzt, also Halloweenfiguren statt wirkliche Skelette, sondern eben mit der „sinnliche(n) Wahrnehmung des eigentlichen Dings“. Statt sich auf bloße Symbole, nämlich auf Regeln und formale Abstraktionen zu konzentrieren, versucht der Mechaniker am defekten Motorrad die typischen Muster zu erkennen, die ihm Hinweise auf die Ursache des Defekts geben können. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Wir haben es hier mit einer ganz besonderen Form der Gestaltwahrnehmung zu tun. Zur ‚Gestalt‘ des Motorrades gehört nämlich nicht nur das Motorrad selbst, auf das sich der Mechaniker ‚einstellt‘, sondern auch die in Frage kommende Situation, in der der vorliegende Defekt auftreten konnte. Zur Meditation bzw. Metakognition des Mechanikers gehört es also, daß er sich komplexen und gleichzeitig typischen Situationen zuwendet, wobei die Typik dieser Situationen nicht auf Regeln zurückführbar ist, sondern nur auf die durch Erfahrung erworbene „Kenntnis von Mustern und Ursachen“. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Der Mechaniker ist also „mit typischen Situationen vertraut, von denen er eine implizite , unbewusste Kenntnis hat“, und dieses „implizite Wissen“ ermöglicht ihm eine „Mustererkennung“ (vgl. Crawford 2010, S.210), mit deren Hilfe er „jene Bestandteile einer Situation“ identifizieren kann, die „wir außer Acht lassen können“: „Was Bestandteil der Situation ist, kann nicht durch die Anwendung von Regeln festgestellt werden, sondern erfordert jene Art von Urteilsvermögen, das sich auf Erfahrung stützt.“ (Crawford 2010 ,S.53)

Wenn ein Mechaniker etwa das Zündungsproblem eines älteren Autos zu beheben versucht, wird er, wenn er selbst gerade „in einer jener regnerischen Wochen ... ständig den Schlamm von seinen Stiefeln wischen und immer wieder das klamme Hemd wechseln muss“, nach einem Zerstäuber greifen, mit dem er die Kontaktstellen von Feuchtigkeit befreien kann. Rieselt ihm jedoch der Sand „aus den Fugen eines Geländewagens auf der Hebebühne“ ins Haar, so „wird er wahrscheinlich vermuten, dass der Fahrer in den nahe gelegenen Dünen unterwegs gewesen ist, weshalb er stattdessen nach seinem Druckluftkompressor greifen wird, um den Verteiler zu reinigen.“ (Vgl. Crawford 2010, S.215f.)

Die „Situationsbedingtheit“ des Denkens, das der Mechaniker an den Tag legt (vgl. Crawford 2010, S.217), zeigt, daß seine Phänomenologie in einer subtilen Kasuistik besteht, wie ich es in diesem Blog als spezifisch pädagogische Denkform diskutiert habe. (Vgl. meine Posts vom 07.09. bis 10.09.2013) Es gibt also nicht nur zwischen Handwerk und Medizin Analogien (vgl. Crawford 2010, S.111), sondern auch zwischen Handwerk und Pädagogik.

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Dienstag, 11. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Wenn Crawford von Bildung spricht, unterscheidet er im Grunde zwei verschiedene Bildungssysteme: eines, das Selbstverliebtheit und Selbstbefangenheit fördert, und eines, das das in sich selbst befangene Selbst für die Wirklichkeit öffnet und es wirklichkeitsfähig macht. Für das erste Bildungssystem sind alle Menschen gleichwertig, während für das andere Bildungssystem alle Menschen gleich sind. Mit Gleich-Wertigkeit kommt ein Meßkriterium zur Anwendung, das die Menschen austauschbar macht und ihre „Rangunterschiede“ nivelliert. (Crawford 2010, S.259) Die ‚Werte‘, die hier zur Anwendung kommen, sind gleichsam Standards, wie wir sie aus der automatisierten, industriellen Produktion und aus der Medientechnologie kennen.

Der Medientheoretiker Friedrich Kittler unterscheidet zwischen ‚Standards‘ und ‚Stilen‘, wobei sich der Begriff des Standards auf medientechnische Verfahren bezieht, die menschlichen Sinnesorgane zu täuschen. So bilden z.B. die 24 Einzelbilder pro Sekunde des klassischen Zelluloidfilms einen Standard, den wir mit unseren menschlichen Augen als ununterbrochenen Ereignisverlauf wahrnehmen. Die heutigen Standards bilden HD, Super-HD und 3D-Projektion. ‚Stile‘ hingegen beziehen sich auf die menschliche Persönlichkeit, als Individualität. So können wir an Gemälden oder an literarischen Texten immer einen Stil unterscheiden, mit dem wir diese Werke auf einen bestimmten Künstler zurückführen können.

Das sagt schon alles über die Bildungsstandards, wie sie die deutsche Kultusministerkonferenz eingeführt hat. Im Grunde bestehen diese Bildungsstandards in verschiedenen Kompetenzrastermodellen, die wiederum nach verschiedenen Fächern, Jahrgangsstufen und nach übergreifenden, allgemeinen Bildungsprinzipien ausdifferenziert sind. Letztlich aber handelt es sich bei diesen tabellenartig zusammengestellten Rastern lediglich um Stichwortlisten, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie – wie auf einer Weiterbildungsveranstaltung oder im Workshop einer Tagung von Erziehungswissenschaftlern – auf Zuruf zusammengestellt und von einem Moderator mehr oder weniger willkürlich geordnet worden sind. So unterscheidet z.B. das Kompetenzrastermodell des hessischen Kerncurriculums zur Lernkompetenz u.a. zwischen Orientierungskompetenz, Richtungskompetenz und Problemlösungskompetenz, die in den zugehörigen vier Spalten auf vier verschiedene Entwicklungsstufen hin ausgelegt werden. Mein Problem dabei ist, daß ich nicht erkennen kann, inwiefern sich diese angeblich so verschiedenen Kompetenzen überhaupt unterscheiden. Diese Minimaldifferenzen, so es sie denn überhaupt gibt, werden nun aber auch noch vierfach untergliedert, und die arme Lehrerin, der arme Lehrer, sind nun dazu verpflichtet, im Unterricht am Lernverhalten ihrer Schüler zu beobachten, auf welcher Ebene dieser Untergliederungen, A, B1, B2, und C, sie sich gerade befinden!

Die Kompetenzrastermodelle bilden, drucktechnisch ausgedrückt, ‚Bleiwüsten‘, über DinA-4 Formate verteilte Tabellenraster, eng bedruckt in kleinster Schriftform. Es bleibt den Lehrerinnen und Lehrern überlassen, die stichwortartigen Hintereinanderreihungen in ein nachvollziehbares pädagogisches Konzept zu übersetzen und auf den Unterricht zu übertragen. Was die Kompetenzraster bewirken, ist letztlich nur so etwas wie eine Kompetenzillusion, die gar nicht erst den Verdacht aufkommen läßt, ein Schüler könnte an seinem Lerngegenstand scheitern. Crawford spricht davon, daß die „Betörung durch Kompetenz ... uns die Fähigkeit nehmen (kann), Dinge zu erkennen ...“ (Vgl. Crawford 2010, S.216) – ‚Individuelles Lernen‘ ist das alles besänftigende Stichwort, in dem es nicht etwa um den Lerngegenstand geht, also um das Interesse, das zu wecken Johann Friedrich Herbart zum zentralen pädagogischen Auftrag des Lehrers gemacht hatte, sondern um gleichsam ‚freischwebende‘ Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale.

Das eigentliche Ziel eines Bildungssystems, dem es in diesem Sinne um „Gleichwertigkeit“ und nicht um „Gleichheit“ geht, besteht Crawford zufolge darin, die „führenden Einrichtungen des neuen Kapitalismus“ „mit geeigneten Arbeitskräften zu versorgen, das heißt mit gefügigen Generalisten, deren Einsatzmöglichkeiten nicht durch irgendwelche speziellen Fähigkeiten eingeschränkt werden“. (Vgl. Crawford 2010, S.31)

Der ursprünglich hinter der von Wilhelm von Humboldt und den preußischen Bildungsreformen zu Beginn des 19. Jhdts. eingeführten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung stehende Grundgedanke wird so pervertiert. Humboldt hatte sein Konzept eben nicht damit begründet, die Schüler möglichst lange davon abzuhalten, sich auf Gegenstände festzulegen. Ganz im Gegenteil war das Interesse des Schülers am Gegenstand für ihn ein unverzichtbares Moment der allgemeinen Bildung. Ihm war es vielmehr darum gegangen, die Schüler möglichst lange vor dem Zugriff gesellschaftlicher Spezialinteressen wie z.B. ökonomischen Interessen zu schützen. Innerhalb des vor der Gesellschaft abgeschirmten Bereichs allgemeiner Schulbildung aber sollte es, wie sich Humboldt ausdrückte, für einen künftigen Philologen genau so sinnvoll sein, zu lernen, wie man einen Tisch zusammenzimmert, wie für einen künftigen Tischler, Grundkenntnisse in Altgriechisch zu erwerben.

Dieses Humboldtsche Konzept einer Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung hat nun also unter dem Dogma der „Gleichwertigkeit“ zur pädagogisch begründeten „Befürchtung“ geführt, „der Erwerb bestimmter Fähigkeiten sei gleichbedeutend mit der Festlegung auf ein bestimmtes Leben.“ (Vgl. Crawford 2010, S.31) – Dem setzt Crawford den Begriff der „Gleichheit“ entgegen. Crawford zufolge läßt diese Gleichheit durchaus „Rangunterschiede“ unter den Menschen zu. Diese beruhen nämlich auf dem Streben nach „Vortrefflichkeit“, also dem Wunsch, in irgendetwas wirklich gut zu sein: „Wer die Vortrefflichkeit bewundert, ist prädestiniert, sich von sich selbst zu lösen, was dem egalitären Universalisten nicht möglich ist.“ (Crawford 2010, S.260f.)

Der Universalist ist eher an Prinzipien orientiert als „aufmerksam“, d.h. an Gegenständen interessiert. Wer sich für einen Gegenstand interessiert, setzt seine ganze Aufmerksamkeit, also letztlich seine Persönlichkeit ein, um sich diesen Gegenstand anzueignen. Nur wenn wir interessiert sind, wird unser Urteilsvermögen geweckt und geschärft und damit die Einheit von Denken und Tun. Wiederum bezogen auf den Motorradfahrer schreibt Crawford: „... die Beanspruchung des eigenen Urteilsvermögens weckt die menschlichen Fähigkeiten. ... Voraussetzung für den Einsatz des Urteilsvermögens scheint zu sein, dass für den Benutzer einer Maschine etwas auf dem Spiel steht, dass er ein Interesse an ihr hat.“ (Crawford 2010, S.84)

Das Motorrad, das wie ein Maultier ausschlagen und seinem Fahrer Tritte versetzen kann, kann den Willen dieses Fahrers erziehen, ihn ‚mäßigen‘ und ‚bündeln‘, wie Crawford schreibt, „so dass er nicht länger der Willen eines tobenden Babys ist, das nichts anderes weiß, als dass es etwas will.“ (Vgl. Crawford 2010, S.84)

So gelangt Crawford zu einer neuen ‚Kompetenz‘, die in allen unseren Kompetenzrastermodellen nicht vorkommt: zur Kompetenz, am Gegenstand scheitern zu können. Diese Kompetenz bezeichnet Crawford auch als „stochastische() Fertigkeit“: „Die Beherrschung einer stochastischen Fertigkeit ist durchaus mit der Unfähigkeit vereinbar, das angestrebte Ziel zu erreichen ...“ – wie etwa im Fall eines Arztes die Gesundheit. – „Aristoteles schreibt, es sei nicht die Aufgabe der Medizin, den Menschen gesund zu machen, sondern lediglich, die Gesundheit möglichst zu fördern.() ... Der Grund dafür ist, dass Arzt und Mechaniker das, was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt haben, weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können. Die Erfahrung des Scheiterns wirkt mäßigend auf die Illusion völliger Beherrschbarkeit: Der Arzt und der Mechaniker lernen die Welt täglich als etwas von ihnen Unabhängiges kennen und sind sich daher des Unterschieds zwischen Selbst und Nicht-Selbst deutlich bewusst.“ (Crawford 2010, S.111)

Das Wort ‚Stochastik“ wird normalerweise als ein Oberbegriff für Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik verwendet. Übersetzt ist es einfach nur die ‚Mutmaßungskunst‘ bzw. die Kunst des Verstehens. Um einen Gegenstand zu verstehen, müssen wir uns für ihn interessieren, und das bedeutet wiederum, ihn uns zueigen zu machen: „Es ist bezeichnend für den eigenwilligen Menschen, dass er sehr weit fasst, was seine eigenen Dinge sind. Er handelt so, als gehörten alle materiellen Dinge, die er benutzt, in gewissem Sinne tatsächlich ihm, während er sie benutzt.“ (Crawford 2010, S.79) – Diese ‚Eigenschaft‘, sich die Gegenstände ‚zueigen‘ machen und in Besitz nehmen zu wollen, schreibt Crawford nun aber als eine besondere Charaktereigenschaft den Handwerkern und Mechanikern zu.

Das ist der Kern jener „Vortrefflichkeit“, nach der Crawford zufolge jeder Handwerker strebt. Wo auch immer er Reparaturaufträge annimmt und so treuhänderisch die Verantwortung gegenüber den nominellen Besitzern der reparaturbedürftigen Dinge übernimmt, behandelt er diese Dinge doch immer auch zugleich, als wären sei seine eigenen Dinge. Crawford, dessen ganze Liebe den Motorrädern gilt, beschreibt, wie er eine Zeitlang als Elektriker arbeitete und das Produkt seiner Arbeit, Kabel und Leitungen, letztlich hinter Putz und Verkleidungen verborgen blieb: „Dennoch gebot es mir mein Stolz, den für eine sachkundige Installation geltenden ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Vielleicht würde eines Tages ein anderer Elektriker meine Arbeit zu Gesicht bekommen. Und selbst wenn es nicht dazu kommen sollte, fühlte ich mich meinem Gewissen verpflichtet. Oder besser, der Sache an sich – es heißt, die Handwerkskunst bestünde einfach in dem Wunsch, eine Sache gut zu machen, und zwar um ihrer selbst willen.“ (Crawford 2010, S.25)

Crawford ist nicht blind dafür, daß man auch den Handwerksunterricht, als Kompensation für die ausschließliche Wissensorientierung, noch einmal ideologisieren kann. Als die us-amerikanische Regierung 1917 Handwerksunterricht einführte, führte das u.a. dazu, daß die Arbeiterkinder auf eine Arbeitsethik vorbereitet wurden, die ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprach, und die „Kinder der Manager“ ihre „Vorbereitung auf die Hochschule“ dadurch bereicherten, daß „sie ein Vogelhäuschen für Muttis Küchenfenster bauten“. (Vgl. Crawford 2010, S.45f.)

Dennoch hält es Crawford für sinnvoll, daß Personen in hohen Stellungen in der Wirtschaft und in der Politik in ihrer Schulzeit einmal die Gelegenheit geboten worden ist, sich mit einer „Art des Scheiterns“ vertraut zu machen, „das nicht durch Umdeutung verdrängt werden kann“ (vgl. Crawford 2010, S.262), um dann, natürlich, über dieses Scheitern hinauszuwachsen und Vortrefflichkeit anzustreben, wofür Crawford zufolge kein Unterricht besser geeignet ist als Handwerksunterricht.

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Montag, 10. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Eine Einheit von Denken und Tun gibt es Crawford zufolge bis heute nur im Handwerk: „Ich möchte in diesem Buch für ein Ideal werben, das zeitlos ist, heute jedoch kaum noch Fürsprecher findet: für das handwerkliche Können und die darin zum Ausdruck kommende Einstellung zur von Menschenhand geschaffenen, dinglichen Welt.“ (Crawford 2010, S.10f.)

Wenn Crawford von der „Einstellung“ des Handwerkers „zur von Menschenhand geschaffenen, dinglichen Welt“ spricht, so müssen wir insbesondere auf seine Verwendung des Begriffs „Einstellung“ achten. Der Handwerker hat nicht einfach nur eine ‚Haltung‘ zur Welt, wie ich sie in diesem Blog mit Bezug auf Helmuth Plessners Anthropologie diskutiert habe. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Natürlich ist die „Einstellung“ des Handwerkers zu den materiellen Dingen Teil seiner Haltung zur Welt. Aber auf die Geräte und Apparate, mit denen er sich als Handwerker befaßt, ‚stellt‘ er sich auf eine ganz spezifische Weise ‚ein‘, so wie ein Musiker sich auf sein Musikinstrument einstellt, das er auf seinen Gebrauch in der bevorstehenden Musikaufführung ‚einstimmt‘, also wiederum ‚einstellt‘. Auch der KFZ-Mechaniker ‚stellt‘ den Motor, an dem er gerade arbeitet, neu ‚ein‘ und muß sich genau zu diesem Zweck selbst auf diesen Motor ‚einstellen‘.

Daran wird deutlich, daß der Handwerker eine komplexe, gleichzeitig intellektuelle wie moralische und ästhetische Leistung erbringt: „Ich finde“, schreibt Crawford, „das Konzept der Einstellung hilfreich, um die Wirkung der mechanischen Arbeit auf mich und andere mir bekannte Menschen zu untersuchen. Oder ist es vielleicht so, dass vor allem Menschen mit einer bestimmten Einstellung von der mechanischen Arbeit angezogen werden?“ (Vgl. Crawford 2010, S.100f.) – Crawford spricht von einer „Verquickung von intellektuellen und moralischen Eigenschaften“. (Vgl. ebenda) Die übliche Trennung „zwischen intellektuellen und moralischen Tugenden“ hält er für „nicht angebracht“. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Mit der letzten Bemerkung geht Crawford über das rein Handwerkliche hinaus. Nicht umsonst vergleicht er die Einstellung des KFZ-Mechanikers zum Fahrzeug mit der eines Arztes. Dazu greift er auf den Begriff der „Stochastik“ zurück, der zwar als Obergriff für die mathematischen Gebiete der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik gebräuchlich ist, aber ursprünglich einfach nur die Kunst des Verstehens meint: „Es gibt jedoch noch eine weitere Gruppe von Fertigkeiten, die Aristoteles als ‚stochastisch‘ bezeichnet. Ein Beispiel ist die Medizin. Die Beherrschung einer stochastischen Fertigkeit ist durchaus mit der Unfähigkeit vereinbar, das angestrebte Ziel zu erreichen (in diesem Fall die Gesundheit). Aristoteles schreibt, es sei nicht die Aufgabe der Medizin, den Menschen gesund zu machen, sondern lediglich, die Gesundheit möglichst zu fördern.() ... Der Grund dafür ist, dass Arzt und Mechaniker das, was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt haben, weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können.“ (Crawford 2010, S.111)

Stochastik steht also Crawford zufolge für das menschliche Urteilsvermögen, das „zugleich kognitiv und moralisch“ ist (vgl. Crawford 2012, S.112), also für die Einheit von Denken und Tun. Es geht Crawford um eine grundlegende anthropologische These: ‚Intelligenz‘, die wir üblicherweise mit unserem abstrakten Denkvermögen gleichsetzen, ist immer schon eine praktische Intelligenz bzw. „handelndes Denken“ (vgl.S.210-233). Denken und Tun bilden eine Einheit und lassen sich nicht auf einen abstrakten Intelligenzquotienten reduzieren. Insbesondere wenn wir einem jungen Menschen helfen wollen, sich für einen künftigen Beruf zu entscheiden, lautet Crawford zufolge die für diesen jungen Menschen „entscheidende Frage nicht unbedingt, welchen Intelligenzquotienten er hat, sondern ob er behutsam oder gebieterisch ist“ (vgl. Crawford 2010, S.100), also welches Temperament und welche Persönlichkeit er hat.

Wenn man ihm außerdem einen Tip geben soll, welche beruflichen Tätigkeiten eine ökonomische Zukunft haben, sollte man ihm Tätigkeiten empfehlen, die sich nicht auf Regeln reduzieren lassen. Tätigkeiten, die sich auf Regeln reduzieren lassen, können durch Algorithmen oder durch billigere Arbeitskräfte ersetzt werden. Was sich aber niemals auf Regeln reduzieren läßt, ist das Handwerk, weil es von „jene(r) Art von Urteilsvermögen“ abhängt, wie sie mit der Einstellung des Handwerkers zu seiner Arbeit verbunden ist: „Man brauchte eher Gespür als Regeln.“ (Crawford 2010, S.41) – Und dieses „Gespür“ erlangt der Handwerker nicht durch das Befolgen von Regeln, sondern durch „Erfahrung“. (Vgl. ebenda)

Regeln und Algorithmen sind Verfahren, die bei der Problemlösung helfen sollen. Probleme zu lösen ist aber oft erst der zweite Schritt. Zunächst muß man das Problem finden, das gelöst werden soll: „In vielen Fällen geht es ... weniger um Problemlösung als um Problemfindung. ... Im Allgemeinen müssen wir unter einer Vielzahl von Informationen jene finden, die von Bedeutung sind. Wenn wir herausfinden können, welcher Art das Problem ist, wissen wir, welche Bestandteile einer Situation wir außer Acht lassen können. ... Was Bestandteil der Situation ist, kann nicht durch die Anwendung von Regeln festgestellt werden, sondern erfordert jene Art von Urteilsvermögen, das sich auf Erfahrung stützt.“ (Crawford 2010, S.53)

Wenn ein Motor Öl verliert, haben wir das eigentliche Problem noch lange nicht gefunden. Es gehört zu den Standardproblemen, die wir auch im Motorradhandbuch nachschlagen können, das uns verschiedene Lösungen anbietet. Tatsächlich muß die eigentliche Ursache für den Ölverlust immer noch gefunden werden, bevor man sich für eine der vorgegebenen Lösungsvorschläge entscheidet oder man sich notfalls eine andere, nicht im Handbuch vorgesehene Lösung ausdenken muß. Um die Ursache für den Ölverlust zu finden, bedarf es wiederum einer genaueren Kenntnis der Umstände, des Fahrers, der speziellen Motorradmarke und der für Ölverluste typischen Situationen, die zu diesem Fahrer und dieser Motorradmarke passen.

Das Urteilsvermögen, diese Einheit aus Denken und Tun, das jedes Handwerk auszeichnet, beruht also auf Intuitionen und implizitem Wissen, die sich nicht mit Regeln und Algorithmen erfassen lassen. (Vgl. Crawford 2010, S.219) Und um dieses Urteilsvermögen zu aktivieren, bedarf es neben der Erfahrung in erster Linie des Interesses: „Voraussetzung für den Einsatz des Urteilsvermögens scheint zu sein, dass für den Benutzer einer Maschine etwas auf dem Spiel steht, dass er ein Interesse an ihr hat. Dieses entspringt der körperlichen Auseinandersetzung mit einer harschen Wirklichkeit, mit einer Wirklichkeit von der Art, die ausschlägt“ (Crawford 2010, S.84) – wie ein Maultier, wie Crawford schreibt (vgl. Crawford, S.80ff.). Und er meint das wortwörtlich, wenn man etwa bei älteren Motorrädern den Kickstarter betätigte und dabei immer befürchten mußte, einen ‚Tritt‘ gegen das Schienbein zu erhalten.

Wie sehr dieses „Konzept des impliziten Wissens“ (Crawford 2010, S.219) durch die Schnittstellen-Ideologie digitaler Kommunikationstechnologien pervertiert wird, zeigt die Bewerbung eines Mercedesmodells, das „als ‚vollkommen intuitiv‘ bezeichnet“ wird. Was meint hier ‚intuitiv‘? Es geht dabei um eine Schnittstellenideologie, die dem Benutzer das Selberdenken abnehmen will: „Bei elektronischen Geräten finden die physikalischen Abläufe auf einer Ebene statt, auf der sie sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen. Die ‚Schnittstelle‘ des Computers fügt eine weitere Abstraktionsebene hinzu, da sie den Benutzer obendrein gegen die von Menschen entwickelte Logik des Programms abschirmt, das die Software antreibt. ... Die Schnittstelle soll ‚intuitiv‘ sein, das heißt, sie soll nach Möglichkeit verhindern, dass sich zwischen den Absichten des Benutzers und ihrer Umsetzung eine Kluft auftut.“ (Crawford 2010, S.85)

Um einen Mercedes zu fahren, der „vollkommen intuitiv“ ist, brauchen wir eigentlich keine besonderen Kenntnisse. Anstatt über Erfahrungen und Kenntnisse zu verfügen, fügen sich die verschiedenen ‚Schnittstellen‘ des Fahrzeugs, von den Armaturen über die Steuerung bis hin zu Schaltungen, Hebeln und Pedalen wie von selbst dem unbedarften Zugriff des „Idioten“ (vgl. Crawford 2010, S.130), wie sich Crawford ausdrückt, dem tatsächlich nicht einmal mehr ein Ölmeßstab zur Verfügung steht, während ihn stattessen bei niedrigem Ölstand eine Warnleuchte (vgl. Crawford 2010, S.86), von Crawford auch als „Idiotenlicht“ bezeichnet, darauf hinweist, daß es Zeit ist, eine Werkstatt aufzusuchen: „... in einer unergründlichen kulturellen Logik ist Idiotie zu etwas Wünschenswertem umgedeutet worden ...“ (Crawford 2010, S.87)

‚Intuition‘ und Urteilsvermögen werden so zum Gegenteil dessen pervertiert, was sie eigentlich bedeuten, nämlich die Einheit des Denkens und Handelns, von Intellekt, Moralität und Ästhetik, die Crawford mit Situationsbezogenheit, Ortsbezogenheit und öffentlicher Verantwortung verbindet. Die  intuitive Schnittstellentechnologie hingegen macht uns blind für unsere tatsächlichen Abhängigkeiten von einer funktionierenden technischen Infrastruktur.

Der Handwerker, etwa ein KFZ-Mechaniker, ist eben kein „Idiot“, der kein „Interesse“ an dem Motorrad hat, das ihm der Kunde in die Werkstatt schiebt und das er, anstatt es zu reparieren, durch seine oberflächlichen Diagnosen und Reparaturversuche nur noch mehr beschädigt, zu Lasten der Geldbörse des Kunden. (Vgl. Crawford 2010, S.129ff.) Der KFZ-Mechaniker muß vielmehr ein Gleichgewicht finden zwischen seiner eigenen, wie Crawford schreibt, „metaphysischen“ Wißbegier, die ihn dazu verleiten könnte, den technischen Problemen eines Motorrades zu sehr auf den Grund zu gehen, und den finanziellen Möglichkeiten des Kunden. Er muß die Interessen des Kunden treuhänderisch verwalten, was u.U. bedeuten kann, auf eine teure Grundsanierung zu verzichten, die bei älteren Motorrädern mit ihren verrosteten Schrauben und unzugänglichen, verletzlichen Gummidichtungen immer auch die Gefahr einer zusätzlichen, für den Kunden sich möglicherweise als teuer herausstellenden Beschädigung beinhaltet. Stattdessen sollte er in solchen Fällen besser in Erwägung ziehen, nur dafür zu sorgen,  daß das Motorrad noch einige tausend bis zehntausend Kilometer durchhält. (Vgl. Crawford 2010, S.159ff.)

Der KFZ-Mechaniker muß also, wie alle Handwerker, nicht nur die „Selbstbefangenheit des Idioten“, sondern auch die „eingeschränkte Sicht“ des bloß „Wissbegierigen“ überwinden und einer öffentlichen Verantwortung gerecht werden. (Vgl. Crawford 2010, S.164) Das gilt nicht nur für seine Verantwortung für den jeweiligen einzelnen Kunden, sondern auch für eine kommunale Gemeinschaft von Nachbarn und Mitbürgern, wenn z.B. Elektriker dafür sorgen, daß lebensnotwendige Infrastrukturen vor Ort, von denen alle abhängen, funktionieren: „Wir sind gar nicht so frei und unabhängig, wie wir gedacht hatten. Reparaturarbeiten, die die Infrastruktur (die Kanalisation unter der Straße oder das Stromnetz darüber) unterbrechen, machen den Menschen ihre gemeinsame Abhängigkeit bewusst.“ (Crawford 2010, S.29)

Genau diese Art von Tätigkeiten ist es, die niemals durch Automatisierung oder durch Algorithmen ersetzt werden kann. Wie virtuell unsere um Narzißmen kreisende Lebenswelt tatsächlich geworden ist, zeigt sich spätestens dort, wo der nächste große Stromausfall stattfindet. Ob unsere alltäglichen Lebenserhaltungsgeräte nun „made in China“ oder von sonst wo sind, wird irrelevant sein gegenüber der Frage, wie qualifiziert und wie verantwortungsvoll die Reparaturtrupps sind, die die Leitungen wieder instandsetzen sollen.

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Sonntag, 9. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Matthew B. Crawford spricht von der Notwendigkeit einer „neuartige(n) Anthropologie“, die sich der Frage zuwendet, „wie das menschliche Dasein durch die Interaktion des Menschen mit seiner Welt mittels seiner Hände bereichert“ wird. (Vgl. Crawford 2010, S.89) Eine solche Anthropologie gibt es aber schon: nämlich die von André Leroi-Gourhan. (Vgl. meine Posts vom 01.03. bis zum 24.03.2013) Crawford fragt: „... was wäre, wenn wir von Geburt an instrumentell, das heißt pragmatisch ausgerichtet wären und wenn der Einsatz von Werkzeugen tatsächlich grundlegend dafür wäre, wie der Mensch in der Welt lebt? ... Der frühe Heidegger betrachtete die ‚Handlichkeit‘ als den Modus, in dem sich uns die Dinge der Welt in ihrer ursprünglichsten Form zeigen.“ (Crawford 2010, S.95)

Der Werkzeuge gebrauchende Mensch hat offensichtlich seine eigene Phänomenologie. Ihm „zeigen“ sich die Dinge nicht einfach dadurch „in ihrer ursprünglichsten Form“, daß wir sie in die Hand nehmen und vor unseren Augen hin und her drehen, wie es der meditierende Husserl tun würde. Schon hier liegt in den Dingen eine ‚Transgredienz‘, wie Plessner sich ausdrückt: sie widersetzen sich dem geradehin auf sie gerichteten Blick, indem sie ihm ihre Rückseiten verbergen. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Wir müssen sie drehen und wenden, um diese Rückseiten in den Blick zu bekommen.

Das ist Crawford noch zu ‚oberflächlich‘. Das Drehen und Wenden des Gegenstandes vor unseren Augen geht ihm noch zu leicht ‚von der Hand‘. Sein eigentliches ‚Wesen‘ offenbart sich erst, wenn wir es unserem Gebrauch zuführen wollen, – wenn es uns dienstbar sein soll. Erst wenn wir es mit Werkzeugen bearbeiten, zeigt es sich in seiner Widerspenstigkeit als etwas, das wir nicht ‚konstruiert‘ haben.

‚Konstruiert‘ meint in diesem Fall etwas ganz Schlichtes und Einfaches: es meint, daß wir den Gegenstand, mit dem wir uns auseinandersetzen, nicht selbst hergestellt haben. Das gilt so auch für alte, gebrauchte VW-Motoren: „Ich entsinne mich, dass mich mein Freund John, der sich selbst mit amerikanischen Muskelautos herumschlug, einmal nach dem Konstruktionsplan des VW-Käfers fragte. Es war wohl ein besonders frustrierender Tag, denn ich zischte nur: ‚Konstruktion? Niemand hat dieses Auto konstruiert.‘“ (Crawford 2010, S.108)

Zwar hat irgendwann jemand zweifellos „dieses Auto“ konstruiert. Aber durch den jahrzehntelangen Gebrauch hat es sich verändert. Es wurde gefahren, es trat Verschleiß auf und es ist an ihm herumgebastelt worden; es wurden nicht standardgemäße Ersatzteile eingebaut, ursprünglich eingebaute Teile wurden ‚repariert‘, also bearbeitet und neu eingestellt, etc. Nichts davon steht im Konstruktionsplan. Der Mechaniker ist gezwungen, der unbekannten Geschichte dieses VW-Käfers mit Intuition und Einfallsreichtum zu begegnen.

Crawford vergleicht die Tätigkeit des Mechanikers mit der eines Arztes. Beide haben das, „was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt ..., weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können. Die Erfahrung des Scheiterns wirkt mäßigend auf die Illusion völliger Beherrschbarkeit: Der Arzt und der Mechaniker lernen die Welt täglich als etwas von ihnen Unabhängiges kennen und sind sich daher des Unterschieds zwischen Selbst und Nicht-Selbst deutlich bewusst.“ (Crawford 2010, S.111)

Der KFZ-Mechaniker scheitert beim Reparieren alter Fahrzeuge immer wieder an der Komplexität ihrer ‚Lebensgeschichte‘. Und es ist genau dieses ‚Scheitern‘, das ihn von seiner Selbstbezogenheit und Selbsteingenommenheit befreit und ihn wirklichkeitsfähig macht. Wenn wir beim Reparieren eines alten VW-Motors scheitern, tut „sich zwischen den Absichten des Benutzers und ihrer Umsetzung eine Kluft“ auf, „die uns vor Augen führt, dass die Wirklichkeit von uns unabhängig ist“: „Wenn alles funktioniert, wird sich der Benutzer seiner Abhängigkeit ... nicht bewusst.“ (Vgl. Crawford 2010, S.85) – Diese Kluft entspricht dem Plessnerschen „Hiatus“, der von einer Brechung des Intentionsstrahls spricht, wenn unsere Bedürfnisse nicht unmittelbar zur Befriedigung führen. (Vgl. meine Posts vom 24.10. und vom 29.10.2010) Erst in diesem ‚Scheitern‘ unserer Intentionen an der Wirklichkeit, werden wir uns unserer selbst bewußt.

Crawford zufolge hängt das Gefühl von ‚Autonomie‘ bzw. von Eigenständigkeit, Eigenwilligkeit und Stolz von der durch den Gebrauch der eigenen Hände ermöglichten „Gestaltungsfähigkeit“ des Menschen ab. (Vgl.u.a. Crawford 2010, S.17) Paradoxerweise werden wir uns aber unserer Gestaltungsfähigkeit erst durch die Widerspenstigkeit der Materialien bewußt, die wir bearbeiten, also durch unsere Abhängigkeit von ihnen. Damit vertritt Crawford einen an Jean-Jacques Rousseau erinnernden Standpunkt, der ebenfalls von der „Erziehung durch die Dinge“ spricht, die die Grundlage für die künftige Autonomie des Erwachsenen legt. (Vgl. meinen Post vom 04.09.2013) Gerade weil die Dinge ‚stumm‘ sind und dem Kind, das sich mit ihnen auseinandersetzt, keine Auskunft geben, d.h. sich ihm widersetzen, ist es gezwungen seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, während es im Umgang mit Erwachsenen ständig mit ‚Belehrungen‘ bombardiert wird und kaum Gelegenheit bekommt, selber zu denken.

Genau in diesem Sinne schreibt auch Crawford: „Da die Maßstäbe handwerklichen Könnens nicht der Überzeugungskunst, sondern der Logik der Dinge gehorchen, verleiht die Unterwerfung unter diese Maßstäbe dem Handwerker möglicherweise eine gewisse seelische Robustheit, die ihn unempfänglicher macht für die von geschäftlichen und politischen Demagogen geweckten phantastischen Hoffnungen.“ (Crawford 2010, S.30f.)

Das ist der Grund, warum Rousseau es für sinnvoll hält, schon in der späten Kindheit, also noch vor der Pubertät, mit einer Handwerksausbildung zu beginnen. Der ursprüngliche Titel von Crawfords Buch lautet deshalb auch „Shop Class for Soulcraft“ (2009). „Shop Class“ steht für Handwerksunterricht an der Schule, und „Soulcraft“ läßt sich eigentlich nicht übersetzen. Es läuft auf eine Art Zen-Bewußtsein hinaus, wie es von Robert Pirsig in „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ (1976) beschrieben wird.

Wir leben allerdings in einer Welt, für die Virtualität einen hohen Stellenwert hat. (Vgl. Crawford 2010, S.11) Die technischen Produkte, mit denen wir täglich Umgang haben, verbergen ihren inneren Mechanismus vor uns. Gewährleistungsansprüche sind daran gebunden, daß die Nutzer ihre Geräte nicht öffnen, um sich an der Mechanik zu vergehen: „Die Befestigungen, die kleine Haushaltsgeräte zusammenhalten, sind mittlerweile oft nur noch mit geheimnisvollen Schraubenziehern zu lösen, die nicht überall erhältlich sind – offenbar sollen die Neugierigen und die Zornigen daran gehindert werden, das Innenleben dieser Maschinen zu erkunden.“ (Crawford 2010, S.10)

Auf den fehlenden Ölmeßstab in neueren Mercedesmodellen habe ich schon in meinem letzten Post hingewiesen. Man denke auch an unsere Computerfestplatten, die vor unserem Zugriff durch Verschlüsselungscodes geschützt sind. (Vgl. meinen Post vom 29.11.2013) Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die Dinge, mit denen wir Umgang haben, uns tatsächlich gehören, und Crawford fragt: „Was ist verlockend daran, von der Beschäftigung mit unseren eigenen Dingen befreit zu werden?“ (Crawford 2010, S.16)

Die Antwort ist einfach: indem die fürsorglichen Unternehmen den Nutzer daran hindern, sich an ihren Geräten zu ‚vergreifen‘, vermitteln sie ihm eine Autonomieillusion. Denn insofern der Nutzer daran gehindert wird, an der Reparatur seiner Geräte zu scheitern, und ihm ‚garantiert‘ wird, daß der Hersteller für Reparatur und Ersatz der Geräte aufkommt, bleibt sein am Konsum gewöhnter Narzißmus unbeschädigt. Mit dieser Autonomieillusion geben wir uns zufrieden, wie Crawford schreibt, weil wir – „paradoxerweise“ – zwar „narzisstisch genug“ sind, „aber nicht stolz genug“. (Vgl. Crawford 2010, S.98)

Crawfords Fazit, mit dem ich diesen Post beenden will, lautet deshalb: „Das Problem besteht ... darin, dass wir mittlerweile in einer Welt leben, die unsere ursprüngliche Instrumentalität eben nicht hervorruft. Aufgrund der Vorherbestimmung der Dinge aus der Ferne haben wir zu selten Gelegenheit, etwas zu tun.“ (Crawford 2010, S.95f.) – Es ist eine Welt, die unsere Anthropologie, unsere „ursprüngliche Instrumentalität“, ständig mißachtet, gerade weil sie uns systematisch daran hindert, an ihr zu scheitern.

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Samstag, 8. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Matthew B. Crawford führt in seinem Buch mit dem unschön verdeutschten Titel „Ich schraube, also bin ich“ (2010) die gegenwärtige gesellschaftliche Verfassung auf die Trennung von Denken und Tun zurück, wie sie von Frederick Winslow Taylor  (1856-1915) theoretisch durchdacht und von Henry Ford (1863-1947) in Form der Fließbandproduktion erstmals praktisch umgesetzt worden ist. (Vgl. Crawford 2010, S.47 und S.55ff.) Diese Trennung von Denken und Tun erinnert an die von Karl Marx beschriebene gesellschaftliche Arbeitsteilung, wie sie schon in den noch handwerklich organisierten, frühneuzeitlichen Manufakturen vorweggenommen wurde. Allerdings setzt Crawfords Trennung von Denken und Tun auf einer analytisch tieferen Ebene an als Marxens Arbeitsteilung. Wo Marx mit der berühmten Formel „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ den arbeitsteiligen Produktionsprozeß ins Zentrum stellt und diesen damit aufwertet, verweist Crawford auf die noch grundlegendere Entwertung des Tuns selbst durch seine Trennung vom Denken: „... wo immer es gelungen ist, das Denken vom Tun zu trennen, hat diese Trennung zur Entwertung der Arbeit geführt.“ (Crawford 2010, S.55)

Indem Marx den Arbeitsprozeß zum eigentlichen Sein aufwertet, trennt er ihn zugleich vom Bewußtsein und setzt dieses so zum bloßen Schein herab. Durch Taylor und Ford wird dann aber die marxistische Bewertung von Bewußtsein und Sein, von Denken und Tun umgekehrt: das Denken wird als wissenschaftliches Prinzip, als Rationalitätsprinzip, das die Technologien der Arbeitsteilung überhaupt erst ermöglicht, aufgewertet, und das Tun, also die Produktion, wird automatisiert und seines humanen Potentials beraubt. Es ist nicht etwa einfach nur die Inbesitznahme der Produktionsmittel durch den Kapitalisten, die den eigentlichen Produzenten, den Arbeiter, als ‚Arbeitnehmer‘, vom sogenannten ‚Arbeitgeber‘ abhängig macht. Es ist vielmehr die Trennung zwischen einem Management, dem das Planen und Denken übertragen wird, und dem Produzenten, dem Arbeiter, der nur noch als ausführendes Organ bzw. Werkzeug wahrgenommen wird, die diesen Arbeiter seiner Souveränität beraubt: „Der Arbeitgeber sammelt also das verstreute handwerkliche Können und gibt es in Form detaillierter Instruktionen, die benötigt werden, um einen Teil dessen zu bewerkstelligen, was nun ein Arbeitsprozess ist, wieder an die Arbeiter weiter. ... Taylor verlangte, die Arbeiter sollten ‚von aller geistigen und Schreibarbeit befreit werden und nur für die Ausführung‘ sorgen, während ‚jegliche Leitungs- und Überlegungsarbeit‘ in einer Planungs- oder Entwurfsabteilung gebündelt werden solle.“ (Crawford 2010, S.57f.)


Überblickten die vorindustriellen Handwerker noch einen Arbeitsverlauf von Anfang bis Ende und legten sie in der Auseinandersetzung mit den widerspenstigen Materialien Erfindungsgeist und Geschicklichkeit an den Tag, wurden sowohl die Materialien (Holz, Leder, Metall etc.) wie auch die Handwerker mittels der neuen wissenschaftsbasierten Technologien ihrer Geschichte und ihrer Individualität beraubt und in rationalisierten Arbeitsprozessen ‚abstrahiert‘, d.h. einer zentralen Planung durch ein wissenschaftlich geschultes Management verfügbar gemacht. Als Henry Ford die Taylorschen Ideen in seinen Fabriken umsetzte, hatte er deshalb ein Problem: die Handwerker, die es gewohnt waren, sich im Umgang mit den widerspenstigen Materialien zu bewähren, fühlten sich weniger durch die Enteignung der Produktionsmittel, als vielmehr durch die Enteignung des Denkens als inhärentem Bestandteil ihrer Arbeit gedemütigt.

Sie verließen massenhaft die neuen Fabriken. Nur hundert von tausend eingestellten Arbeitern ertrugen die Monotonie des Fließbands: „Was für Menschen waren jene 100 Arbeiter, die es in der neuen Fertigungsstraße aushielten? Vielleicht spürten diese Arbeiter weniger Abneigung gegen die neue Art der Arbeit, weil sie weniger Stolz auf ihre eigenen Fähigkeiten empfanden und daher leichter zu lenken waren.“ (Crawford 2010, S.60)

Diese Arbeiter waren zwar einerseits leichter ‚lenkbar‘ durch ein Management, das ihnen das Denken abnahm; zugleich aber waren sie auch disziplinloser, und ihre Arbeit hatte weniger ‚Qualität‘. Zu wenig Qualität sogar für die abstrakten Standards einer Montagestraße, wie ein Ökonom im Jahre 1915 feststellte, der sich über das „minderwertige und zügellose Volk“ beklagte, das den „effiziente(n) Handwerker(n) mit Selbstachtung“ nicht das Wasser reichen könne: „Es erübrigt sich zu sagen, dass es den sogenannten ‚wissenschaftlichen Betriebsführern‘ weniger um die ‚Selbstachtung‘, sondern vor allem um die ‚Effizienz‘ ging, aber beide Begriffe waren voneinander abhängige Bestandteile derselben Formel.“ (Crawford 2010, S.46)

Die industrielle Trennung von Denken und Tun setzte sich dann zugleich paradoxer- wie konsequenterweise auch in jener Sparte fort, die aus jener Trennung als neue Klasse von Lohnabhängigen hervorging: die der Büro- und Wissensarbeiter. Standen die Büro- und Wissensarbeiter in gewisser Weise auf der Seite des Denkens und Wissens den Industriearbeitern gegenüber, auf die sie mit einem entsprechenden Standesdünkel herabschauten, wurden doch bald sie selbst auch einer weiteren Trennung von Denken und Tun unterworfen: auch die Büroarbeit wurde ‚rationalisiert‘. Rationalisierung meint in diesem Fall, daß ihnen wie zuvor schon den Industriearbeitern das Denken abgenommen wurde: „Auch die Bürotätigkeiten sind der zunehmenden Umwandlung in Routineabläufe und damit der Entwertung ausgesetzt, die derselben Logik gehorcht, die vor hundert Jahren die manuelle Produktion traf: Die kognitiven Elemente der Tätigkeit werden den Fachleuten entzogen, in ein System oder einen Prozess eingebunden und anschließend einer neuen Klasse von Mitarbeitern – Büroangestellten – übergeben, welche die Fachleute ersetzen.“ (Crawford 2010, S.64f.)

Das Wissen der Fachleute, also der Wissensarbeiter, wurde ähnlich wie die manuellen Fertigkeiten der Handwerker mechanisiert, diesmal nicht durch das Fließband, sondern durch Algorithmen: „Algorithmen können das implizite Wissen des Experten simulieren.“ (Crawford 2010, S.220) – Das Wissen wurde also in Denkanweisungen und Regeln zerlegt und mechanisiert, so daß die neue Klasse von Bürowissensarbeitern dieses ‚Wissen‘ nicht mehr verstehen mußten. Sie brauchten das schon klassifizierte Wissen lediglich zu verwalten, was effizienter war, als es zugleich auch durchdenken zu müssen.

Sahen sich die Arbeiter in der Fließbandproduktion aufgrund der Trennung von Denken und Tun ständig bedroht, von Maschinen ersetzt zu werden, ergeht es nun der neuen Klasse von Bürowissensarbeitern nicht anders. Da sie selbst nicht verstehen müssen, was sie tun, sind auch sie durch Maschinen ersetzbar. – Crawford verweist auf Searles Gedankenexperiment von einem in einem Raum eingesperrten Mann, der kein Chinesisch kann, aber aufgrund einer in Englisch verfaßten Anleitung chinesische Papiere, die durch einen Schlitz in den dunklen Raum reingeworfen werden, in andere chinesische Schriftzeichen übersetzt, die er ebenfalls nicht versteht und die er durch den Schlitz wieder rauswirft. (Vgl. Crawford 2010, S.230f.) Computer können diese Arbeit genauso gut und sogar besser verrichten.

So wirkt sich schließlich die durch die Trennung von Denken und Tun herbeigeführte Entwertung des Tuns auch auf das Denken selbst aus. Das Denken selbst wird durch seine Rationalisierung und Mechanisierung entwertet, und mit dem Denken auch der Mensch: „Es gibt ein ganzes Forschungsgebiet, das auf der Vorstellung beruht, dass wir Computer sind.() Zudem verwandelt sich der Computer in ein Ideal, dem gegenüber das wirkliche Denken durch die Anwendung einer verkehrten Logik zunehmend mangelhaft wirkt.()“ (Crawford 2010, S.221f.)

Die Trennung von Denken und Tun wirkt sich auch auf das Konsumverhalten des Menschen aus. Die einer ständigen Entwertung unterworfene Berufstätigkeit kann den Menschen nicht mehr befriedigen. Um den Büromenschen mit seiner sinnlosen Büroarbeit zu versöhnen, bedarf es einer geschickten Bedürfnismanipulation. Diese Bedürfnismanipulation erstreckt sich einerseits auf die Büroarbeit selbst, andererseits auf das Konsumverhalten.

Wo der Handwerker noch seine Befriedigung bzw. seinen „Stolz“, wie Crawford schreibt, in seiner Auseinandersetzung mit den widerspenstigen Materialien fand, sind dem Büromenschen und dem Wissensarbeiter aufgrund der Trennung von Denken und Tun nicht nur die Materialien abhanden gekommen, in denen das Resultat ihrer Arbeit ihre objektive Bewertung finden könnte. Auch das Denken selbst wird nicht mehr von ihnen selbst verantwortet. ‚Befriedigung‘ kann der Büroarbeiter nur noch im sozialen Umgang mit seinen Kolleginnen und Kollegen und der Chefin bzw. dem Chef finden. Für diesen sozialen Umgang ist nun das Management verantwortlich, und das bevorzugte Mittel, den sozialen Umgang zu regulieren, ist die Teamarbeit: „Die vorherrschende ‚Teamarbeit‘ macht es schwierig, individuelle Verantwortung einzuschätzen, und eröffnet den Managern, die mittlerweile als Therapeuten oder Lebensberater getarnt auftreten, verblüffende neue Möglichkeiten, ihre Mitarbeiter zu manipulieren.“ (Crawford 2010, S.19)

Die objektive Bewertungsgrundlage von im Produktionsprozeß bearbeiteten Materialien wird in der Büroarbeit durch die Führungsqualitäten von Managern und durch die Instabilität und Willkürlichkeit von Gruppendynamiken ersetzt und setzt die Mitarbeiter einer ständigen Verunsicherung aus. (Vgl. Crawford 2010, S.209)

Eine weitere Möglichkeit der Bedürfnismanipulation eröffnet sich über die „Konsumkultur“. (Vgl. Crawford 2010, S.16f.) Auch hier wird der Zusammenhang von Denken und Tun außer Kraft gesetzt, indem „Werbepsychologen“ sich das durch die sinnlose Büroarbeit hervorgerufene „Streben nach ‚Authentizität‘“ zunutze machen. (Vgl. Crawford 2010, S.44) Mittels eines ausgeklügelten Marketings wird dem Konsumenten suggeriert, er könne beim Einkaufen oder in seiner Freizeitgestaltung selbst über seine Interessen und über seine Bedürfnisse bestimmen. Wo er aber glaubt, selber zu denken und selber zu entscheiden, haben die Marketingexperten ihm die Freizeitgestaltung längst aus der Hand genommen.

Daß das Shopping eine Ersatzbefriedigung für eine fehlende berufliche Selbstverwirklichung darstellt, ist inzwischen schon ein Allgemeinplatz. Die Fertigprodukte, die wir im Einkaufszentrum kaufen oder über das Internet bestellen und deren Funktionsweise wir nicht verstehen und auch nicht verstehen sollen (vgl. Crawford 2010, S.9f., 86f.), befriedigen nicht in erster Linie ‚unsere‘ Bedürfnisse. Wir haben es hier nicht mit „dauerhaften Gebrauchsgegenständen“ zu tun, aus denen uns „‚die Vertrautheit der Welt‘ erwächst, ‚ihrer Sitten und Gebräuche, die den Umgang von Mensch und Ding wie den zwischen den Menschen regeln‘“, wie Crawford Hannah Arendt zitiert. (Vgl. Crawford 2010, S.27) – „Selbstverwirklichung und Freiheit gehen immer damit einher, dass man etwas Neues kauft, nie damit, dass man etwas bewahrt.“ (Crawford 2010, S.89)

Darüber hinaus gibt es aber noch die Suggestion des ‚Bastlers‘, der in seiner Freizeit seine eigenen Projekte verfolgt, sein Motorrad wartet oder im Garten arbeitet. Crawford spricht hier von einem regelrechten „Handwerkskonsum“. (Vgl. Crawford 2010, S.44) Die Konsumindustrie versorgt den Hobbyhandwerker mit Baukästen, Werkzeugen und Bastelanleitungen, „Accessoires“, die Authentizität vorgaukeln sollen: „Das Ziel des Herstellers ist es, ein umfangreiches Sortiment von Accessoires an den Mann zu bringen, die auf so viele verschiedene Arten zusammengestellt werden können, dass die Kombination ganz sicher die ‚unverwechselbare Persönlichkeit‘ des Besitzers ausdrücken wird. Man beachte die Umdeutung, die es ermöglicht, vom gestaltenden Handeln ... zur Persönlichkeit zu springen, das heißt zur Manifestation eines Selbst, dessen Unabhängigkeit durch die Möglichkeiten, die ihm angeboten werden, verwirklicht wird.“ (Crawford 2010, S.94f.)

Ein anderes Beispiel, das Crawford anführt, ist der Teddybär, den sich Kinder in einem Einkaufzentrum selbst aus Einzelteilen am Computermonitor zusammenstellen können. (Vgl. Crawford 2010, S.97) Auch hier wird suggeriert, das Kind könne sich kreativ seinen eigenen Teddybären basteln. Tatsächlich aber kann das Kind, so wie auch der erwähnte Hobbybastler, nur aus vorgegebenen Angeboten wählen. Man denke hierbei auch an die Computerspiele, in denen sich die Spieler ihre Helden selber zusammenstellen können. Crawford hält nüchtern fest: „Doch zu wählen ist nicht dasselbe wie zu gestalten, gleichgültig, wie viel ‚Kreativität‘ vom Marketing suggeriert wird.“ (Crawford 2010, S.95)

Auch die Konsumkultur beruht also auf einer Trennung von Denken und Tun, in der das Denken von den Marketingexperten übernommen wird und das nachvollziehende Tun dem Konsumenten überlassen bleibt.

Ein weiteres Feld, auf dem die Trennung von Denken und Tun sich auswirkt, bildet die Globalisierung. Internationale Konzerne – Crawford bringt das Beispiel des fehlenden Ölmeßstabes in neueren Mercedesmodellen – verteilen die Verantwortung für ihre ‚Produkte‘ auf viele verschiedene Ebenen, die dem Kunden nur noch eine anonyme „Gewährleistung“ bieten:
„Zwischen Autobesitzer und Mechaniker stehen Betriebseinheiten, die nur im abstrakten rechtlichen Sinn eine Persönlichkeit haben: der Vertragshändler, der den Techniker beschäftigt, die Daimler AG in Stuttgart, die den Serviceplan und die Gewährleistung in der Bilanz hat, und schließlich die Mercedes-Aktionäre, die einander nicht kennen und kollektiv das finanzielle Risiko streuen, das mit dem Ölmangel des Motors einhergeht. Dieses kollektive, nicht konkret sichtbare Interesse am Ölstand des Motors vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Es gibt keine einzelne Person mehr, die dafür verantwortlich ist. Wenn wir dies unter dem Gesichtspunkt der ‚Globalisierung‘ betrachten, stellen wir fest, dass die Tentakel dieses sonderbaren Tiers mittlerweile nach Dingen tasten, die einst eindeutig uns gehörten, wie zum Beispiel nach dem Ölstand im Motor unseres Autos.“ (Crawford 2010, S.86f.)
Was die Mitarbeiter betrifft: auch wenn man ihnen über die soziale Beruhigungspille „Teamarbeit“ suggeriert, daß es der Firma um ihr ganz persönliches Potential, ihr ‚Humankapital‘ gehe (vgl. Crawford 2010, S.70f.), ändert das nichts an ihrer jederzeitigen Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit durch billigere Arbeitskräfte in Billiglohnländern wie Indien oder China. Gedacht und geplant wird eben nur auf Managementebene. Die automatisierten Produktionsabläufe können überall auf der Welt stattfinden, und wo sie stattfinden, orientiert sich ausschließlich am maximalen Profit.

Grundlage dieser alle Lebensbereiche durchziehenden fundamentalen ‚Arbeitsteilung‘ ist das wissenschaftliche Weltbild, das sich mit einer mathematischen Modellierung der Naturprozesse begnügt. Diese Wissenschaft huldigt einem Konstruktivismus, in dem nicht mehr das Denken der physischen Welt angepaßt wird, wie in der handwerklichen Technik, sondern die Welt idealisierten Denkprozessen unterworfen wird. Als Beispiel für so eine Idealisierung bringt Crawford eine Situation, in der er sich mit einem alten VW-Vergaser herumärgert. Sein Vater, von Beruf Physiker, möchte ihm gerne helfen, versteht aber nichts von alten VW-Vergasern und sagt: „Wusstest Du, dass man einen Schnürsenkel immer lösen kann, indem man an einem Ende zieht, selbst wenn er doppelt verknotet ist?“ (Crawford 2010, S.107)

Neben dem offensichtlichen Umstand, daß diese Bemerkung zum Problem mit dem Vergaser überhaupt nicht paßt und eher Ausdruck der Verlegenheit des Vaters darüber ist, seinem Sohn nicht helfen zu können, ist auch der Sachverhalt selbst, den er zum Ausdruck bringt, völlig weltfremd. Jeder, der einmal einen Schnürsenkel doppelt verknotet hat, weiß, daß sich die doppelte Schlaufe nicht einfach öffnen läßt, wenn man an einem Ende zieht. Die Behauptung von Crawfords Vater funktioniert nur in einer mathematischen Welt mit idealisierten Schnürsenkeln. Das ist die Welt der Wissenschaft, die sich für die wirklichen Schnürsenkel nicht interessiert: „... ich begann zu begreifen, dass die Denkweise meines Vaters, der Physiker war, nicht geeignet war, die Wirklichkeit zu bewältigen, mit der ich es bei jenem alten VW zu tun hatte.“ (Crawford 2010, S.108)

Der wissenschaftliche Konstruktivismus geht von „wirklichkeitsferne(n) Idealvorstellungen“ aus. Seine „geistigen Konstruktionen“ sind „leichter verständlich als die materielle Wirklichkeit“ und sie eignen „sich insbesondere besser für die mathematische Darstellung“. (Vgl. Crawford 2010, S.109) – Genau diese ‚wissenschaftliche‘ Einstellung zur Wirklichkeit ist es aber, die den Technologien zugrundeliegt, mit deren Hilfe wir produzieren, konsumieren und kommunizieren. Die Trennung des wissenschaftlichen Denkens von der materiellen Welt ermöglicht die Trennung des Denkens vom menschlichen Tun.

Crawford, der selbst eine Zeit lang in einem sogenannten „Think-Tank“ gearbeitet hat (vgl. Crawford 2010, S.13f., 144f.), kommt deshalb zu dem Ergebnis, daß die durch die Trennung von Denken und Tun herbeigeführte wechselseitige Entwertung von Denken und Tun nicht zuletzt auch in der „weite(n) akademische(n) Welt“ dazu geführt hat, „dass dieses Gewerbe dem Denken feindlich gesinnt“ ist. (Vgl. Crawford 2010, S.139) – Mit dieser Feststellung befindet sich Crawford übrigens in guter Gesellschaft. Schon Heidegger wies darauf hin, daß die ‚Wissenschaft‘ nicht ‚denkt‘. (Vgl. meinen Post vom 23.04.2013)

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