„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 17. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Immer wieder bin ich in diesem Blog auf das Problem der Korrelation von Bewußtseinsphänomenen mit lokalen Ereignissen im Gehirn zu sprechen gekommen. (Vgl. meine Posts vom 19.03.2011, 27.07.2012 und vom 06.06.2013) Zu solchen Versuchen gehört auch, die beiden Gehirnhälften als neuronale Substrate zweier verschiedener Bewußtseine zu verstehen, wie Arthur Ladbroke Wigan in seinem Buch „The duality of the mind“ (1844), dessen zentrale These darin besteht, „dass es sich bei unserer rechten und linken Gehirnhälfte möglicherweise nicht um zwei Teile eines Organs handelt, sondern um zwei einzelne Gehirne, jedes mit eigenen Gefühlen, Gedanken und Impulsen.“ (Draaisma 2012, S.145)

Das erinnert ein wenig an Julian Jayenes Thesen zur bikameralen Psyche (1976), denen zufolge das Gehirn aus einer befehlenden Hemisphäre und einer ausführenden Hemisphäre besteht. Ganz ähnlich unterscheidet Wigan beide Hemisphären, wenn auch mit einer etwas anders gelagerten Wertung: die eine Hemisphäre, die rechte, ist das dunkle Bewußtsein, das uns zu amoralischen Handlungen verführt, die andere Hemisphäre, die linke, ist das gute Bewußtsein, das diese dunklen Antriebe unterdrückt. (Vgl. Draaisma 2012, S.146f.)

Die „Einheit“ des Bewußtseins geht also bei Wigan aus einem Unterdrückungsakt hervor: die linke Hemisphäre läßt die rechte Hemisphäre einfach nicht zu Wort kommen. Ansonsten aber haben wir es mit einer klaren 1:1-Korrelation zu tun, in der der linken und der rechten Hemisphäre je ein Bewußtsein zugeordnet wird: „Jedes Gehirn selektiert, interpretiert und registriert nach eigenem Ermessen und vergisst gemäß eigener Gesetze. Die Erfahrungen und Erlebnisse des einen Gehirns sind nicht die des anderen. Sind beide Gehirne intakt und gesund, bleiben Diskrepanzen zwischen beiden Gedächtnissen begrenzt. Sie führen doppelt Buch, aber ohne allzu große Unregelmäßigkeiten. Erst wenn das eine Gehirn angegriffen ist – oder beide Gehirne krank werden –, entstehen Probleme.“ (Draaisma 2012, S.147)

Draaisma positioniert sich zu Wigans These klar und eindeutig: „Dass Hirnhälften abwechselnd ein- und ausgeschaltet sein können oder jeweils ihre eigenen Erinnerungen und Vorstellungen haben, wie Wigan dachte, stimmt nicht.“ (Draaisma 2012, S.162)

Ich wäre da mit einem so definitiven Urteil etwas zurückhaltender, denn von Delphinen ist bekannt, daß sie genau das tun, wenn sie schlafen: sie schalten eine Hemisphäre ab, während sie mit der anderen wachbleiben. Dennoch wird hier noch einmal deutlich, wie Neurophysiologen seit den frühesten Anfängen der Gehirnforschung immer wieder versuchen, das Bewußtsein zu lokalisieren. Eine solche Lokalisierung in Bezug auf die Hemisphären bzw. auf eine bestimmte Hemisphäre kommt aber schon deshalb nicht in Frage, weil Menschen durchaus auch mit nur noch einer Gehirnhälfte problemlos bei vollem Bewußtsein weiterleben können, mit der gleichen Mischung zwischen ‚dunklen‘ und ‚hellen‘ Bewußtseinsmomenten. Es ist mit den zwei Gehirnhälften wohl eher so wie mit zwei Kerzenflammen: sie erzeugen ein einziges Licht und nicht zwei verschiedene Lichter.

Wenn Draaisma aber Wigans These für falsch hält, stellt sich die Frage, wieso er ihr dennoch ein ganzes Kapitel widmet. Was ist so bemerkenswert an seiner Interpretation der zwei Hemisphären, abgesehen davon, daß sie falsch ist? –  Draaisma sieht in Wigans zwei Gehirnen einen Vorläufer von Freuds Zweiteilung des Bewußtseins in ein seiner selbst bewußtes und in ein unbewußtes Bewußtseinsmoment. Im ‚Unterdrücken‘ der rechten Hemisphäre, so Draaisma, „ist schon etwas von der Achse zu lesen, entlang der ein halbes Jahrhundert später viele der in Duality aufgeführten Phänomene aufgeteilt werden würden, der Achse zwischen bewusst und unbewusst. Diese Achse bestand nicht mehr aus einer neurologischen Zweiteilung, obwohl noch lange danach gesucht werden würde, auch von Freud selbst.“ (Vgl. Draaisma 2012, S.167)

Draaisma sieht Wigans neurophysiologische Pionierarbeit vor allem darin motiviert, daß er in den zwei Gehirnen eine „Metapher“ für persönliche Probleme gesehen hatte (vgl. Draaisma 2012, S.165fff.), mit der er versucht habe, „Ordnung“ in sein eigenes Leben zu bringen (vgl. Draaisma 2012, S.147). Letztlich sei seine zwei-Gehirne-Hypothese Ausdruck der „viktorianischen Erziehung“, die wie die „Sprache, in der Wigan das Verhältnis zwischen beiden Gehirnen beschreibt, ... vor Hierarchie und Disziplin (strotzt)“. (Vgl. Draaisma 2012, S.163)

Letztlich ist es wohl genau diese Neigung, persönliche und gesellschaftliche Zusammenhänge auf das Gehirn zu projizieren und entsprechende Korrelationen vorzunehmen, die Wigan zu einem Vorläufer der heutigen Neurophysiologen macht. Denn nichts tun letztere lieber, als aus ihren Studien Antworten für alle möglichen gesellschaftlichen Probleme herauszulesen.

Insofern nehme ich mir an dieser Stelle auch die Freiheit, die zwei ‚Gehirne‘ als eine Metapher für meine anthropologische These zu nehmen, daß das Selbst-Bewußtsein eine besondere Form des bei-sich-Seins bildet. Die eine Hemisphäre ist in diesem Sinne ‚bei‘ der anderen Hemisphäre und steht ihr zur Seite. Alle Bewußtseinsprozesse beinhalten diese Zweiteilung in eine Ebene, in der etwas geschieht, und in eine Ebene, in der das, was geschieht, beobachtet wird; allerdings nicht von vornherein in einem kontrollierenden Sinne, sondern in Form einer Achtsamkeit, die nicht behindert, sondern zuläßt.

Das Bewußtsein ist ein Licht, das aus verschiedenen Quellen gespeist wird und sich nicht auf ein neurologisches Korrelat zurückführen läßt.

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