„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. Dezember 2013

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

1. Heidegger
2. Blanchot

Christian Sternard stellt in seinem Beitrag „Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes“ (Nebulosa 4/2013, S.81-93) zwei eng miteinander zusammenhängende Konzeptionen zum Verhältnis von Autor bzw. Urheber und Kunst-Werk von Martin Heidegger und Maurice Blanchot einander gegenüber, die sich nur gering, aber dennoch um ein entscheidendes Moment voneinander unterscheiden. Bei diesem Moment handelt es sich um die Frage nach dem Verhältnis von Werk und Autorschaft. Sternad richtet diese Frage insbesondere auf dessen „ontologische Struktur“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.83)

Folgt man Sternad, so sind bis in unsere Gegenwart hinein Rezensionen und Kommentare zu literarischen Neuerscheinungen – oder auch die regelmäßig anläßlich von Jubiläen herausgegebenen Biographien wie die gerade zu Goethe erschienene Biographie von Rüdiger Safranski („Kunstwerk des Lebens“ (2013)) – „Ausfluss einer langen Tradition der Hochschätzung gegenüber der autonomen Subjektivität, welche die Welt dem planerischen Geist des Subjekts unterwirft, mindestens jedoch die Welt – hier verstanden als die Vorhandenheit der Dinge – ausschließlich vom Subjekt her versteht.“ (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.84)

Das „ontologische Modell“ einer autonomen Subjektivität reduziert Sternad zufolge die „Seinsweise der Kunstwerke“, so daß „das genuin eigene Wesen des Kunstwerkes nicht nur nicht näher bedacht wird, sondern vielmehr auch gar nicht näher bedacht werden kann“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.84) Kurz: das Kunstwerk wird zum bloßen Medium der ‚Beseelung‘ durch den Künstler. (Vgl. ebenda)

Martin Heidegger kehrt nun diese Bewertung radikal um. Im Werk ‚spricht‘ sich nicht mehr die subjektive Befindlichkeit eines Künstlers aus, sondern das Werk ist selber expressiv, und der Künstler wird zum Medium seines „Zuspruchs“. Heidegger konzipiert das Kunstwerk „als ein vom Künstler unabhängiges ‚Geschehen der Wahrheit‘“, „als Zuspruch von Wahrheit, welcher mittels des Künstlers zugleich im und durch das Werk hindurch seinen Ausdruck findet.“ (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.82f.)

Wir sollten uns dabei nicht von der rätselhaften Verdopplung zweier im Dienste der Wahrheit stehender Medien, ‚Künstler‘ und ‚Werk‘, verwirren lassen. Ontologien verleiten anscheinend dazu, das ursprüngliche Sein immer weiter nach hinten bzw. nach unten zu verlegen, vergraben unter möglichst vielen vom Sein abhängigen Schichten des Scheins. Der Einfachheit halber wollen wir es dabei belassen, das Kunstwerk selbst als „unabhängiges ‚Geschehen der Wahrheit‘“ zu verstehen, und darauf verzichten, die Wahrheit selbst noch einmal zu ontologisieren.

Wir können festhalten, daß Heidegger die Expressivität des Künstlers in seinem Werk von den Füßen auf den Kopf stellt und das Werk im Künstler – „geschehnishaft als Zuspruch des Seins“ (Nebulosa 4/2013, S.83) – expressiv werden läßt. Dabei weist die Expressivität des Kunstwerks alle Merkmale einer gebrochenen Intentionalität auf, wie sie Plessner beschrieben hat (vgl. meinen Post vom 29.10.2010): „Ohne Zweifel besteht das wohl wichtigste Charakteristikum des Kunstwerkes darin, dass es sich nie vollends vereinnahmen lässt, es also weder in der Intention des Künstlers, noch in der Interpretation des Betrachters restlos aufgeht.“ (Nebulosa 4/2013, S.84)

Der Künstler kann seine künstlerische Intention nicht vollständig umsetzen, weil – wie bei Plessner – das Medium, die Sprache, das Material, seinen Versuchen Widerstände entgegensetzt, sondern weil es das Werk als Werk auszeichnet, über einen „konstitutiven Sinnüberschuss“ zu verfügen und es deshalb „nicht in der ontologischen Struktur der Subjektivität (Künstler oder Betrachter) begraben“ werden kann. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.85) Sprache und Material widersetzen sich dem Künstler nicht umständehalber, also aufgrund der dem Künstler nicht restlos verfügbaren Kontextualität seines Werkes und seines Werkschaffens – auch hier hätten wir es mit einem Sinnüberschuß zu tun, der aber nicht ontologisch am Werk selbst haften würde –, sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Werk, das aufgrund seiner „eigenwillige(n) Selbstzweckhaftigkeit“ „in den Bann zieht“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.85)

Im Rahmen einer vom Autor her begründeten Expressivität bildet das Werk möglicherweise eine ‚Spur‘ oder es stellt einen ‚Wegweiser‘ dar. Als Spur verweist es zurück auf die Intentionen eines Autors, und als Wegweiser verweist es auf einen Zweck, der nicht in ihm selber liegt. Wenn das Werk aber seinen Zweck in sich selber hat, der sich durch den Autor hindurch verwirklicht, ist es weder Spur noch Wegweiser. Es ist keinen Subjekten mehr ‚dienlich‘ (vgl. Nebulos 4/2013, S.85), sondern die Subjekte dienen ihm.

An dieser Stelle fällt auf, daß Sternad es versäumt, auf die Nähe des ‚Werks‘ zum „Gestell“ – „Werksein heißt: eine Welt aufstellen.“ (Nebulos 4/2013, S.86) – einzugehen, dessen Wirkungsweise ja ähnlich subjektlos und anonym ist wie die des Werks. Jedenfalls ist im Zusammenhang des Kunstwerks auffällig oft von einem ‚Stellen‘ die Rede, von einem Auf-Stellen und von einem Aus-Stellen. Hier wäre es wünschenswert gewesen, zu klären, inwiefern das Werk eben kein Gestell ist. Ein möglicher Hinweis auf die Besonderheit des Kunstwerks wäre Heideggers Begriff der ‚Erde‘: „Nun ist jedoch am Werk auch zugleich zu sehen, dass es nicht in seiner Autopoiesis eine Welt aufstellt, sondern in einer schon bestehenden Welt ausgestellt wird. Heidegger wählt zur Verdeutlichung der Rückgebundenheit eines Kunstwerkes den etwas eigentümlichen und für manches Auge zurecht seltsam anmutenden Begriff der ‚Erde‘.“ (Nebulos 4/2013, S.86)

Der Hinweis auf eine „Rückgebundenheit“ des Kunstwerks an eine „schon bestehende() Welt“ würde es wieder in einen Kontext einbetten und es in seiner mystisch-mysteriösen Autonomie einschränken. Der Begriff der „Erde“ bekäme so etwas Lebensweltliches. Der Autor wäre nicht mehr einem priesterlichen Dienst am Kunstwerk unterworfen, sondern wir hätten es beim Kunstwerk lediglich mit einer produktiven, sinnstiftenden Auseinandersetzung mit seiner Lebenswelt zu tun.

Stattdessen verleiht Heidegger aber der Erde selbst den Charakter eines ‚Gestells‘: „Im Werk tobt ein Streit zweier gegenwendiger Bewegungen, welcher den Seinscharakter des Werkes ausmacht: ‚Das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde‘().“ (Nebulosa 4/2013, S.87) – Die ‚Erde‘ bildet also keineswegs einen Ursprung aus sich selbst, sie wird nicht als Phänomen eigenen Rechts ernstgenommen, sondern sie wird als etwas Her-Gestelltes thematisiert. Damit ist sie aber nichts anderes als das Gestell selbst, das uns in seiner ganzen Künstlichkeit zum Schicksal geworden ist. Und das Werk macht diese Situation des Menschen in seiner Welt als ein Wahrheitsgeschehen sichtbar, dem gegenüber wir den ‚Streit‘ immer schon verloren haben.

Maurice Blanchot setzt Heideggers Analysen zum Kunstwerk fort, modifiziert sie aber zugleich. Dazu mehr im nächsten Post.

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