„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 29. Dezember 2013

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit Hegels Phänomenologie, die eigentlich gar keine ist. Eigentlich haben wir es bei Hegels „Phänomenologie des Geistes“ mit einer reinen Begriffslogik zu tun, wobei Hegel der ‚Bewegung‘ der Begriffe einen phänomenalen Status verleiht, der verschleiert, daß sich in seinem fest gefügten Gedankengebäude gar nichts bewegt: Zenons Pfeil bleibt zitternd in den Fugen des Mauerwerks stecken.

Frank Engster deckt in seinem Beitrag „Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx“ (Nebulosa 4/2013, S.33-48) dieses Phänomenologiemißverständnis auf, wenn er festhält, daß Hegels Phänomenologie damit beginnt, „zu zeigen, dass die unmittelbare Gegenständlichkeit zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand ein Schein ist. Sie macht den Schein durchsichtig, indem sie zeigt, dass diese unmittelbare Gegenständlichkeit je überwunden ist, weil sie dasjenige maßgebliche Dritte voraussetzt, das diese Gegenständlichkeit allererst eröffnet: das Selbstbewusstsein ...“ (Nebulos 4/2013, S.43) – Ein Denken, das damit beginnt, zu zeigen, daß alles Nicht-Denken Schein ist, anstatt im Nicht-Denken des Scheins den Grund allen Denkens zu sehen, hat sich jeden phänomenologischen Zugang zum Gegenstand selbst versperrt.

Ein Denken, das immer nur um sich selbst kreist, wird nicht dadurch ‚geerdet‘, daß man es in sich selbst zu begründen versucht. Letztlich kann ein solches Denken immer nur in Tautologien resultieren. Frank Engster zeigt genau das bei Hegel, Marx und der Naturwissenschaft, in der es trotz ihrer streng objektiven, ‚geistlosen‘ Methodik ganz ordentlich hegelt. Er outet „die Technik des Messens und der Gegenstandskonstitution“ als den „blinden Fleck“, den die Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften gemeinsam haben. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.33)

Am Anfang jeder Wissenschaft steht eine „erste, anonyme und einseitige“, sprich ‚bewußtlose‘ „Gabe“ im Marcel Maussschen Sinne. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.34, Fußnote 1) Aber diese ‚Gabe‘ kommt uns weder von einem Anderen her, noch kommt sie einem Anderen zu. Als ‚Gabe‘ erweist sich dieses ‚Geben‘ eines Maßes lediglich aufgrund seines Vor-Gegebenseins, zugleich bewußtlos und ausgegrenzt aus der Gesamtheit dessen, der es entstammt.

Das Grundprinzip, auf das Engster alle Maße zurückführt, ist das des ausgeschlossenen Dritten (vgl. Nebulosa 4/2013, 38, 43), das auf bewußtlose Weise das Selbstverhältnis von ‚Natur‘ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.34ff.), „Geist“ (vgl. Nebulosa 4/2013, 37ff.), ‚Sein‘ (S.39ff.) und ‚Wert‘ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.42ff.) reguliert bzw. ‚reflektiert‘. Aus der Natur werden Naturkonstanten wie z.B. die Lichtgeschwindigkeit oder bestimmte Referenzkörper ausgegrenzt und zum Maß für Naturphänomene gemacht: „Das (Ab-)Geben des Maßes besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass den Naturverhältnissen ein spezifisches Quantum entnommen wird, sodass es paradoxerweise dieses Quantum ist, das als Maßstab zur Messung derselben Naturverhältnisse eingesetzt wird, denen es entnommen wurde und die dadurch erst gegenständlich sowie durch Werte eindeutig bestimmbar werden.“ (Nebulosa 4/2013, S.35)

In der „Phänomenologie des Geistes“ grenzt Hegel vom Bewußtsein ein Selbstbewußtsein ab, das „gerade durch die Trennung“ zum Maß wird, „denn erst durch Selbst-Entfremdung tritt dasjenige Selbstbewusstsein ein, das die Erfahrungen zu einem Gegenstand für das Bewusstsein macht, das aber auch das Bewusstsein selbst zu einem Gegenstand werden lässt, sodass das Bewusstsein das eigene Reflektieren begreift und reflexiv wird; dafür muss es das Bewusstsein in aller Erfahrung beständig so an es selbst halten, dass die Identität des Bewusstseins zum Subjekt des Wissens des Gegenstandes wird und aus seiner subjektiven Erfahrung objektives Wissen bildet, während das Selbstbewusstsein zum gemeinsam ausgeschlossenen Dritten von Subjektivität und Objektivität wird.()“ (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.38)

In der „Wissenschaft der Logik“ beschreibt Hegel, wie das Sein „als die Qualität des Bestimmens selbst“ (Nebulosa 4/2013, S.40), in „Gleichgültigkeit“ umschlägt, in „eine Objektivität, die nichts als sich selbst ausgesetzt“ ist und die „unmittelbar und bewusstlos durch sie selbst bestimmt“ ist. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.45) Diese bewußtlose Gleichgültigkeit gegenüber der Gesamtheit der Qualitäten des Seins bildet, wenn ich das richtig verstanden habe, die Quantität, die Grundlage allen Messens.

Marx wiederum beschreibt den Tauschwert ebenfalls als ein über ein ausgeschlossenes, maßgebendes Drittes begründetes Selbstverhältnis, „qua Ausschluss irgendeiner beliebigen Ware“, die als „ideelle Einheit fixiert“ wird: „Für diese eine ausgeschlossene Ware steht die Geldware.“ (Nebulosa 4/2013, S.44) Auch im „Geld“, als „Maß des Wertes“ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.37), waltet ein „bewusstlose(s) Selbstbewußtsein“, das für die „überindividuelle Subjektivität der kapitalistischen Gesellschaft“ steht (vgl. Nebulosa 4/2013, S.45).

Die von Engster beschriebene tautologische Kreisfigur des Maßgebens als Selbst-‚Gabe‘ deckt die überraschende innere ‚Geistigkeit‘ der naturwissenschaftlichen Objektivität auf. Sie ist letztlich trotz all ihrer so viel gerühmten Empirie nicht realitätshaltiger als die von den Naturwissenschaftlern so gering geschätzten Geisteswissenschaften. Eine ‚Natur‘, die ‚an sich selbst‘ gemessen wird, indem sie an von ihr entnommenen Maßstäben gehalten wird, ist genauso „unmittelbar wie bewusstlos reflexiv“ (Nebulosa 4/2013, S.45), wie der menschliche ‚Geist‘ oder die Ökonomie.

Was mir in Engsters Analyse dieser Abspaltungsprozesse fehlt, ist der Hinweis auf die Notwendigkeit einer nicht-tautologischen Begründung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Daß alles auf die „weitere Entwicklung der Kritik des Naturbegriffs bzw. des Geistes bzw. der Gesellschaft“ ankommt (vgl. Nebulosa 4/2013, S.48), reicht mir als Ausblick nicht aus; erst recht nicht, wenn sich eine solche Kritik mit dem Nachweis begnügt, „dass durch das naturwissenschaftliche Maß, durch das Selbstbewusstsein, durch den Begriff und durch das Geld mit der Identität der Natur bzw. der Subjektivität bzw. der Objektivität bzw. der Gesellschaft auf spekulative Weise gerechnet werden kann.“ (Vgl. ebenda)

Wo Rechnen für die Gebiete des Seins und der Natur noch angehen mag, ist es jedoch für das Gebiet der politischen Ökonomie, wo Maß-Gabe und Sinn-Stiftung interferieren, völlig untauglich. (Vgl. hierzu meinen Post vom 21.12.2013)

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