„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

III. Griechenland als seinsgeschichtlicher Ursprung: Eros und Aphrodite (S.329-341), Homeros und die Schrift (S.342-350), Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift (S.351-359), Im Kielwasser der Odyssee (S.360-376), Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands. Ent-fernen heißt die Götter nähern (S.377-390), Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung (S.391-395)

1. Phänomenologie der Abwesenheit
2. Das ‚Gestell‘ als Vereinigung von Denken und Sein

Ich hatte schon in zwei Posts zu Marcus Knaup (vom 10.07. und 11.07.2013) Aristoteles’ Begriff des Hylemorphismus diskutiert. Dabei war es um den Aristoteles zufolge unauflösbaren „Verbund“ von Stoff und Form, von „physis und logos“ (vgl. Kittler 2013/2008, S.385), von „Hard- und Software“ (vgl. Kittler 2013/2008, S.389) gegangen, der dann „im Denken nach Aristoteles“ (vgl. Kittler 2013/2008, S.385), insbesondere seit Descartes, im Materie-Geist-Dualismus auseinanderfiel. Im neuzeitlichen Positivismus blieb von diesem Dualismus nur noch ein monistischer Materialismus übrig, in dem der Geist keine Rolle mehr spielte.

Das hat sich inzwischen aber in einer „Postmoderne“, die gegenüber der Moderne „seinsgeschichtlich etwas völlig Neues“ darstellt, wieder geändert. Zumindestens irgendwie und dann doch wieder nicht; Kittler laviert um das Eingeständnis eines solchen Rekurses auf ‚Geist‘ bzw. Software herum. In den neuen Techno-Disziplinen der „Kybernetik, Logistik und Informationsverarbeitung“, die „keine menschenbetriebenen Wissenschaften mehr“ sind, sondern als „Dinge unter Dingen“ laufen – also als „Internet der Dinge“ (vgl. meinen Post vom 15.11.2013) –, sind „Logik und Physik“ jedenfalls wieder eins. (Vgl. Kittler 2013/2008, S.385f.) Diese Rückkehr zum hylemorphistischen Einssein von „Denken und Sein“ bezeichnet Kittler mit Heidegger als „Ge-stell“. (Vgl. Kittler 2013/2008, S.386; vgl. hierzu auch meine Posts vom 23.04. bis zum 30.04.2013)

Von einer ganz ähnlichen Koinzidenz von Postmoderne und Wildem Denken wußte übrigens auch schon Lévi-Strauss zu berichten. (Vgl. meine Posts vom 18.05. und vom 21.05.2013)

Seltsamerweise führt Kittler zufolge dieses neue Einssein von Denken und Sein, von Form und Stoff aber nicht zu einer Renaissance der Philosophie aristotelischer Prägung, sondern zum „Ende der Philosophie“ schlechthin, das paradoxerweise „nach einem Denken (ruft), das die Bahnen der Technik in ihrer Gänze durchmißt: von ihrem Anfang, nämlich dem griechischen Begriff techne, bis hin zu ihrer Vollendung im modernen Computersystem, wie es nach Heidegger Wirtschaft und Industrie, Wissenschaft und Politik ‚in Betrieb‘ setzt (und dringend um Kriegstechnologie zu ergänzen wäre).“ (Kittler 2013/2008, S.386f.) – Es bleibt ungewiß, ob die grammatische Konstellation mit dem Singular ein Versehen ist oder von Kittler bewußt gewählt wurde. Jedenfalls ist das Subjekt dieses Satzes, in dem etwas „in Betrieb“ gesetzt wird, nicht „Wirtschaft und Industrie, Wissenschaft und Politik“, sondern das Computersystem.

Damit ist klar, daß diese Rückbesinnung auf Hylemorphismus und Wildes Denken unter den Bedingungen des Gestells alles andere ist als ein Rekurs auf eine mythische bzw. logische (was in diesem Fall dasselbe ist) Arché. Wo die Pythagoreer und Aristoteles noch die Zahlen als Gegenstände bzw. die Gegenstände als Physis verstanden bzw. wahrnahmen, zählt in der von Kittler beschriebenen Postmoderne nur noch die Information: „Heute hingegen, schreibt Heidegger, ist anstelle einer Logik, die Philosophen erforschten und lehrten, eine Logistik getreten, die ihrerseits mit der Kybernetik zusammenfällt, anders gesagt, mit Norbert Wieners mathematischer Theorie rückgekoppelter Schaltkreise ... ein herausforderndes Stellen,() das der Physik ihren kantischen Begriff von Gegenständen entwendet und sie auf mathematische Entwürfe reduziert.“ (Kittler 2013/2008, S.385)

Zur Gegenstands- und Informationstheorie der Wahrnehmung vergleiche meine beiden Posts vom 25.10.2011.

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