„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 29. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326)

1. Seele
2. Technik und Geld
3. Intelligente Infra-Struktur
4. Statistisches Generieren von ‚Sinn‘
5. Software oder nicht Software?

Vieles, was Kittler schreibt, verstehe ich einfach nicht. Nicht nur die mathematischen Formeln, sondern auch viele seiner mit Subjekten und Prädikaten ausgestatteten Behauptungen. Bei den Formeln habe ich ohnehin den Eindruck, daß sie nur dazu dienen, die ‚Leute‘ am Mitdenken zu hindern.

Einer der Sätze, die ich nicht verstehe, steht gleich im Titel des entsprechenden Aufsatzes: „Es gibt keine Software“ (1992). Bei seinen verschiedenen, unverständlichen Erörterungen zu diesem Satz, demzufolge es sich bei allen wesentlichen Computerprozessen um reine Hardware-Prozesse handelt, gewann ich allerdings den leisen Verdacht, daß es um die schlichte Binsenwahrheit geht: nämlich daß es in der ‚Natur‘ bzw. auf materieller Ebene keine Informationen gibt, sondern nur Deformation und Transformation. (Vgl. meinen Post 18.08.2011) Auch Kittler verweist auf das „Defizit der Natur“, in der – wie Kittler John von Neumann zitiert – keine „Ja-Nein-Organe im strengen Sinn des Wortes existieren.“ (Vgl. Kittler 2013/1990, S.232-252: 235)

Sicher: viele sogenannte ‚Natur‘-Wissenschaftler ignorieren diese schlichte Binsenwahrheit. Aber deshalb braucht Kittler wirklich nicht solche intellektuellen Verrenkungen zu betreiben, die letztlich nur verschleiern, daß auch Kittler mit jenen ‚Natur‘-Wissenschaftlern davon ausgeht, daß „die Natur selbst zur Universalen Turingmaschine“ geworden ist. (Vgl. Kittler 2013/1992, S.285-299: 287) – Wie das damit zusammenpaßt, daß es in dieser Natur keine Ja-Nein-Organe gibt, bleibt unerläutert.

Damit wiederholt Kittler, was er in seinem Aufsatz über Alan Turing (1990) geschrieben hat: „Künstliche Intelligenzen, statt weiter daran gemessen zu werden, was sie nicht können, eroberten die Gesamtheit dessen, was sie können. Und das war nicht Naturwissenschaft, sondern Strategie.“ (Kittler 2013/1990, S.244) – Mit diesem Satz verabschiedet Kittler die ‚alte‘ Naturwissenschaft, die noch an Naturphänomenen interessiert gewesen war, und setzt an ihre Stelle, in Kontinuität zur Herkunft der modernen Nachrichtentechniken aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, den ‚Feind‘ und den nicht erkenntnisorientierten, sondern strategischen Umgang mit ihm. (Vgl. ebenda)

‚Strategie‘ ist nämlich genau das, was künstliche Intelligenzen ‚können‘, so Kittler/Turing, während physikalische Phänomene nicht dazu gehören, was sie können. Turing nämlich, so Kittler, mißt die künstliche Intelligenz nicht mehr am Beispiel des Menschen – ein Vergleich, der immer nur zur Feststellung von Defiziten auf Seiten der künstlichen Intelligenz führen kann –, sondern er definiert sie über das, was sie können, nämlich rechnen und simulieren. Und der bevorzugte Gegenstand dieser Berechnungsprozesse ist die Spieltheorie (vgl. Kittler 2013/1990, S.237), in der es letztlich immer um das Verhalten von Konkurrenten, also um ‚Feinde‘ geht, die mit ihren wechselseiten Erwartungserwartungen auf den jeweils größten persönlichen Vorteil aus sind.

Etwas Ähnliches hatte wohl Martin Wagenschein im Sinn gehabt, der begnadete Didaktiker der Physik und Mathematik, als er mit seinem Unterricht noch versuchte, Physik zu betreiben und nicht Kybernetik. Mit antiquiert-pädagogischem Pathos forderte er, die Phänomene zu retten (1975), um bei seinen Schülern, insbesondere bei den ‚Unbegabten‘ unter ihnen, wieder das Interesse am Fach zu wecken. Auch Norbert Bolz verweist darauf, daß die Informatik und nicht mehr die Physik die „Fremdreferenz“ der Mathematik bilde. (Vgl. meinen Post vom 25.04.2013)

Um so weniger verstehe ich, wieso Kittler stur darauf herumreitet, daß es keine Software gäbe, sondern nur Hardware. Alles, was er über Algorithmen zu sagen weiß, läuft darauf hinaus, daß sie Maschinen dazu befähigen, „bei Erfüllung einer vorgegebenen Bedingung oder Zwischenrechnung selbst über die folgenden Befehle und d.h. ihre Zukunft (zu) bestimmen“. (Vgl. Kittler 2013/1990, S.234) – Die IF-THEN-Struktur bildet demnach eine sich an wechselnde Umstände anpassende Befehlskette – Kittler spricht hier von „freiem Gehorsam“ (ebenda) –, die eine Vergangenheit berücksicht und diese im Falle von Flakgeschützen sogar auf eine Zukunft hin extrapolieren kann. Wir haben es hier also ganz und gar nicht mit bloßen Hardware-Prozessen zu tun, die auf rein synchroner Ebene Zufallsentscheidungen treffen, indem sie elektrische Ströme mal so und mal anders schalten.

Die strikte Synchronizität – und als solche funktionieren bloße Hardwareprozesse, wenn ich das richtig verstanden habe – läuft letztlich darauf hinaus, daß die Algorithmen mit ihrer rekursiven Potenz (IF-THEN-Verknüpfungen) für die Künstliche Intelligenz keine Bedeutung haben. Ohne Algorithmen, also ohne Software, kann sich Künstliche Intelligenz aber nicht mehr auf ein „IF“ zurückbeziehen. Ein schlichter Gedächtnisspeicher, der auch nicht anders als ein analoges Tonbandgerät funktionieren würde, reicht dazu nicht aus. Ohne Algorithmen würde er nur speichern, aber keine Verbindungen knüpfen. Gäbe es also tatsächlich keine Software, so gäbe es auch keine algorithmischen Prozeduren mehr. So ist es aber offensichtlich nicht. Kittler widerlegt sich selbst, wenn er einerseits von Algorithmen spricht und andererseits behauptet, es gäbe nur Hardware in Form von Schaltungen bzw. „binäre(n) Entscheidungen“. (Vgl. Kittler 2013/1990, S.236)

Alles das stelle ich natürlich mit allem gebührenden Respekt vor Kittlers technologischer Expertise fest, mit der ich einfach nicht mithalten kann. Ich schreibe nur, was ich mit meinem Laien-Verstand begriffen habe; und wahrscheinlich habe ich gar nichts begriffen.

Daß es keine Software gibt, widerspricht auch einem zentralen Vorwurf, den Kittler der Microsoft Corporation macht, die mit dem Argument der „Anwenderfreundlichkeit“ Benutzeroberflächen installiert, die den Anwender mit ihrer kryptologisch gesicherten „Einwegfunktion“ daran hindern, auf die Hardware zuzugreifen. Bezeichnenderweise gipfelt dieser Vorwurf darin, daß „die Industrie“ den Möchtegernprogrammierer „mittlerweile dazu verdammt, Mensch zu bleiben“. (Vgl. Kittler 2013/1991, S.272-284: S.273) – ‚Software‘ steht also für Bewußtsein und für Mensch. Es gibt die Software also doch. Es soll sie nur nicht geben, so wie es auch den sogenannten Menschen nicht mehr geben soll.

Die Behauptung, daß es keine Software gibt, hat also keinen empirischen, sondern einen moralischen Sinn. Es geht Kittler um den von Software unbehinderten Zugang zur Hardware. Kittler will nicht die „Froschperspektive“ (Kittler 2013/1991, S.272) einnehmen und die eigentlichen Herren der digitalen Welt, wie etwa Microsoft, von unten her blöde anquaken. Er will die jungfräuliche Hardware mit seiner eigenen Software beschreiben. Kurz gesagt: Er will sich – trotz seiner zahlreichen gegenteiligen Behauptungen – als Mensch behaupten. Eigentlich sympathisch.

Interessant wird es übrigens nochmal am Schluß des Aufsatzes zu Alan Turing. Dort schreibt Kittler 23 Jahre vor Edward Snowden – und beweist damit, wie sehr wir antiquierten Menschen mit unserer antiquierten Öffentlichkeit hinter dem tatsächlichen technologischen Prozeß hinterherhinken – über die NSA: „Ihre Spionagesatelliten fangen Telephonie, Telegraphie und Mikrowellenfunk, also die Post aller Erdteile ab, ihre Computer entschlüsseln eventuell eingeschaltete Codiermaschinen, Scrambler usw. speichern die Botschaft automatisch ab und durchforsten sie automatisch nach verdächtigen Schlüsselwörtern.“ (Kittler 2013/1990, S.252)

Was für Snowden aber Anlaß für Landesverrat und Flucht war, begrüßt Kittler als eine konkrete Utopie: „Wenn alles, was Leute auf diesem Planeten reden, in Bits aufgegangen sein wird, ist Alan Turings Universale Diskrete Maschine vollbracht.“ (Ebenda)

Gegen diese konkrete Utopie leistet Snowden seinen Widerstand: ecce homo!

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