„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 22. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene 
  12. Anklänge
Mauthner hätte ein Phänomenologe sein können, der die Dinge als Erscheinungen, als Phänomene, ernstnimmt. Es gibt Stellen in seinem Buch, die den Kern des phänomenologischen Vorgehens auf den Punkt bringen. Wie Lambert Wiesing („Das Mich der Wahrnehmung“ (2009); vgl. meine Posts vom 04.06. bis 05.06.2010) hebt Mauthner die Passivität des Wahrnehmungserlebnisses hervor: „In der Wirklichkeit sind es immer die Sinne des Subjekts, welche einen Eindruck von außen erfahren, in der Wirklichkeit ist also das Beobachten, z.B. das Sehen, immer etwas Passives.“ (Mauthner 2/1906, S.298)

An anderer Stelle verweist Mauthner auf die biologische Universalität von Erlebnisqualitäten, in denen er auch wieder das passive Moment, das Erleiden von Außenwelteindrücken hervorhebt: „Es ist kein Zufall, daß ‚Empfindung‘ mit αίσυησις, παυος, passio, sensation (französisch und englisch), feeling übersetzt oder ausgedrückt worden ist. ‚Erlebnis‘ wäre ein gutes deutsches Wort dafür, wenn es nicht schon wieder durch Schulmißbrauch nichtssagend geworden wäre. ... Was irgend lebt, erlebt irgend etwas.“ (Mauthner 2/1906, S.312f.)

Mauthner geht sogar so weit von „Tatsachen des Bewußtseins“ (Mauthner 2/1906, S.472) bzw. von „Tatsachen unseres Seelenlebens“ (Mauthner 2/1906, S.236) zu sprechen, was sich zunächst wie eine contradictio in adjecto anhört, da Tatsachen immer als im engeren Sinne ‚empirische‘, d.h. physikalische Tatsachen verstanden werden. Nimmt man aber ‚Tatsachen‘ als eine Zusammenfügung aus ‚Tat‘ und ‚Sache‘, so haben wir es hier eher mit Erlebnisqualitäten zu tun, als mit Physik. Wie glücklich oder unglücklich so eine Formulierung auch immer sein mag, so spricht sie doch immerhin den Phänomenen des Seelenlebens eine objektive Qualität zu. Die Seele ist eben doch mehr als nur ein „leeres Wortgespenst“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.243)

An wieder anderer Stelle bezeichnet Mauthner „(p)sychische Ursachen“ als „alltäglichste Tatsachen“, was auf eine Verbindung seelischer Phänomene mit der Lebenswelt hinauslauft, die ich in diesem Blog immer wieder als ein Bewußtseinsphänomen dargestellt habe. (Vgl.u.a. meine Posts vom 23.01. und 05.02.2011 und vom 09.01.2012)

Mauthner ist sich auch durchaus über den phänomenalen Charakter dieser Bewußtseinstatsachen im Klaren, die man, so Mauthner, „seit zwei Jahrtausenden“ als „Bilder“ bezeichnet: „Von Platon bis Taine handelt alle Psychologie von diesen Bildern. Wir haben vergessen, daß ίδεα ein Bild, eine Gestalt bedeutete, und daß die Metapher des Bildes irgendwie mitverstanden wird, wenn wir es in allen philosophisch eingeschulten Sprachen, mehr oder weniger verblaßt, für die Urbilder der Dinge oder für ihre Urformen, dann für die Zielformen des Denkens oder Handelns, endlich (in der Umgangssprache) für allgemeine Erinnerungen gebrauchen.“ (Mauthner 2/1906, S.236f.)

Allerdings schränkt Mauthner die Erlebnisqualität dieser bildhaften Wahrnehmungen, ihre Gestaltqualität, gleich wieder ein, wenn er anmerkt, „daß wir uns überhaupt nichts mehr bei dem Begriffe Bild denken können, sobald von Wahrnehmungen des Geruchs, des Geschmacks u.s.w. die Rede ist.“ (Vgl. Mauthner 2/1906, S.237) – Anders als Plessner, der diese Sinneseindrücke auf ihre spezifische Bewußtseinsqualität hin befragt, verstummt Mauthner an dieser Stelle. Ihm fällt nichts weiter dazu ein.

Anstatt die Phänomene auf sich wirken zu lassen, sie gleichsam in die Hand zu nehmen und zu ertasten, sie in ihrer ganzen Dinghaftigkeit auf sich wirken zu lassen, beschränkt sich Mauthner darauf, die Unmöglichkeit zu konstatieren, genau das zu tun: „Wir können an die Gegenstände nicht unmittelbar heran, wir besitzen von ihnen nur unsere Ideen und Vorstellungen, können diese also immer nur mit sich selber, nie mit ihrem Ding-an-sich vergleichen. Bliebe also nichts übrig, als in der Wahrheit die Übereinstimmung unserer Ideen und Sätze miteinander zu sehen, die formale Wahrheit. ... die Übereinstimmung der Begriffe oder Worte mit sich selbst, d.h. mit ihrer Anwendung durch den objektiven Menschengeist ist – der Gebrauch der Sprache ...“ (Mauthner 2/1906, S.694)

Mauthner stößt niemals bis zu den Phänomenen vor, weil er immer an der Grenze bzw. im Filter der Sprache hängenbleibt. Anstatt wie Husserl eine Tasse im Geiste hin und her zu drehen, dreht Mauthner immer nur das Wort ‚Tasse‘ im Geiste hin und her und übt dabei mit den Sprechorganen die zugehörigen sprachmotorischen Nervenbahnen auf dieses Wort ein.

Die Phänomene werden von Mauthner letztlich nur als Worte ernstgenommen, als Verbaldinge: „Was sind das für Dinge? Keine Dinge. Hypostasen, Abstraktionen, von Verben gebildet. ... es gibt keine Verbaldinge in der Wirklichkeit.“ (Mauthner 2/1906, S.320) – Daß es Verbaldinge aber in der Wirklichkeit nicht gibt, sondern eben nur Phänomene, ist für ihn kein Grund, zu glauben, auf eine Grenze seiner Sprachkritik gestoßen zu sein.

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2 Kommentare:

  1. Im zweitletzten Absatz hast du Plessner geschrieben, anstatt Mauthner. Plessner dreht das Wort "Tasse" im Geiste hin und her.

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  2. Danke für die Korrektur! Wird sofort umgesetzt!

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