„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Streeck spricht von einem „Zeitgeist“ der 1960er und 1970er Jahre, womit er „die damals weit und breit und bis erstaunlich weit nach links herrschende Vorstellung“ meint, „dass die kapitalistische Ökonomie zu einer technokratisch beherrschbaren Wohlstandsmaschine geworden war“. (Vgl. Streeck 3/2013, S.36) Das beschränkt sich allerdings nicht nur auf diesen Zeitraum. Noch heute erweist sich Streeck zufolge die „Vorstellung einer technokratischen Beherrschbarkeit von Politik und ganzen Gesellschaften als erstaunlich enttäuschungsfeste Arbeitshypothese oder gar als Ideologie im Sinne einer notwendigen Illusion.“ (Vgl. Streeck 3/2013, S.213f.) Wir können das aktuell in der Euro-Krise ‚bewundern‘, in der die Regierungschefs der wirtschaftlich führenden EU-Länder, allen voran die deutsche Kanzlerin mit ihrer TINA-Politk („There ist No Alternative“ (vgl. Streeck 3/2013, S.88)) ein Krisenmanagement zur Schau stellen, das ganze Verlierergesellschaften mit ihrer staatlichen Souveränität ins demokratische Aus manövriert.

Es ist ein kybernetischer Zeitgeist, der kybernetische Traum von einer reibungslos funktionierenden Maschinerie, bei der gelegentlich nur einige wenige Stellschrauben neu nachjustiert werden müssen. Niklas Luhmann hat diesen Traum geträumt und ihm den Namen „Systemtheorie“ gegeben. Nicht zuletzt die Gesellschaft hat er als ein System beschrieben, das nicht aus Menschen besteht, wobei er allerdings nicht vergaß, auch den Menschen selbst als eine komplexitätsreduzierende Maschine zu beschreiben. Gesellschaften und Menschen unterscheiden sich von Maschinen darin, daß sie sich selbst beobachten, also von sich Beobachtungssysteme zweiter Ordnung abheben. Sie können selbst Hand an sich legen und die eigenen Stellschrauben neu justieren.

Streeck bezieht sich in seinem Buch kein einziges Mal auf Niklas Luhmann, was durchaus kein Mangel ist. Aber kein Soziologe kommt wohl an einem Gesellschaftsbegriff vorbei, in dem Gesellschaften auf sich selbst reagieren. So auch Streeck: „Gesellschaften beobachten die Tendenzen, die in ihnen am Werk sind, und reagieren auf sie.“ (Vgl. Streeck 3/2013, S.15) – Ohne an dieser Stelle schon einzelne gesellschaftliche Interessengruppen als Akteure namhaft zu machen, legen die ‚Gesellschaften‘ dabei Streeck zufolge einen außerordentlichen „Erfindungsreichtum“ an den Tag, „der über die Fantasie von Sozialwissenschaftlern weit hinausreicht“. (Vgl. ebenda)

Nimmt man hinzu, daß sich die Gesellschaften immer schon in einem dynamischen (Un-)Gleichgewicht befinden, in dem vorhandene Entwicklungstendenzen durch „entgegenwirkende Ursachen“ „verlangsamt, abgelenkt, modifiziert oder aufgehalten“ werden (vgl. Streeck 3/2013, S.15f.), so bekommt man den Eindruck einer Schwarmintelligenz (vgl. meinen Post vom 22.08.2011), deren anonyme Lösungskompetenz weit über die bewußte Urteilskraft einzelner, sich öffentlich artikulierender Bürgerinteressen hinausgeht – bzw. hinter sie zurückreicht, um sie im Sinne einer unsichtbaren Hand zu dirigieren.

Die Frage ist: wer bzw. was beobachtet hier wen? Wer ist das eigentliche Beobachtungssubjekt hinter all den scheinbaren, miteinander interagierenden Beobachtungssubjekten, die Streeck in seinem Buch aufzählt? Streeck spricht von zwei verschiedenen Interessensgruppen: dem Kapitalisten bzw. „Profitabhängigen“ (Streeck 3/2013, S.48) oder einfach das „Marktvolk“ (Streeck 3/2013, S.119) und dem Arbeiter bzw. „Lohnabhängigen“ (Streeck 3/2013, S.48) oder einfach das „Staatsvolk“ (Streeck 3/2013, S.120) Die Form, in der sich das Staatsvolk selbst beobachtet, ist die national verfaßte Öffentlichkeit, also die Demokratie. Wobei sich diese Selbstbeobachtung im Zuge der Globalisierung nationaler Institutionen – und damit ihrer weitgehenden Überführung in supranationale Einrichtungen – immer mehr in eine von Hollywood bzw. von der Kulturindustrie geprägte Form öffentlicher Unterhaltung verwandelt (vgl. Streeck 3/2013, S.28, 165), also kaum noch als Selbstbeobachtung bezeichnet werden kann.

Die Form, in der sich das Marktvolk selbst beobachtet, wird von Streeck nicht thematisiert, es sei denn man versteht die Vertreter der von Streeck so genannten „Standardökonomie“ (Streeck 3/2013, S.80, 93, 96, 240 u.ö.) als eine Form der Selbstbeobachtung des Marktvolkes. Letztlich geht aber auch hier die Beobachtungsrichtung nicht auf ‚sich selbst‘, sondern auf das Verhalten des Staates und seines Volkes. Die Standardökonomie beschreibt das Beobachtungsverhalten des Marktvolks, das im Unterschied zum Staatsvolk nicht national gebunden und das deshalb international beweglich ist und auf die kleinsten Anzeichen von seinen Profit reduzierenden Aktivitäten des Staatsvolkes reagiert, um ihm sofort sein ‚Vertrauen‘ und damit sein Kapital zu entziehen, um es woanders sicherer und profitabler anzulegen. (Vgl. Streeck 3/2013, S.119f.) – Mit Selbstbeobachtung hat das nun wirklich nicht viel zu tun.

Wenn Streeck also der Frankfurter Schule zurecht vorwirft, daß sie den Fehler gemacht habe, das Kapital „nur als Apparat und nicht als Agentur“, also nicht als eigenständigen Interessenvertreter in ihre Gesellschaftsanalysen mit einzubeziehen (vgl. Streeck 3/2013, S.44), und daß sie es nur als Störfaktor und nicht als positiv gestaltende gesellschaftliche Kraft berücksichtigt hatte (vgl. ebenda), so steckt in diesem Unvermögen doch zumindestens so viel Wahrheit, als dieses ‚Kapital‘ aufgrund seiner fehlenden Selbstbeobachtung eben doch eher einer ‚blinden‘ Naturkraft ähnelt. Auch die Agenten des Kapitals selbst, die ‚Profitabhängigen‘ (ein schönes Wort, das manches ins rechte Licht rückt), hegten ja immer schon große Sympathien für die Evolution, durch deren Naturhaftigkeit sie sich in ihrem Handeln gerechtfertigt fühlen.

Mit der Frage nach dem eigentlichen Subjekt hinter den gesellschaftlichen Interessengruppen und ihrer scheinbaren ‚Selbstbeobachtung‘ möchte ich darauf hinaus, daß weder die Profitabhängigen noch die Lohnabhängigen Subjekte ihrer eigenen Interessenvertretung sind, vergleichbar dem selbstbewußten Bürger im demokratisch verfaßten Staat. Hinter den Profitabhängigen und den Lohnabhängigen verbirgt sich ein abgründigeres, hinter einem Schleier verborgenes Interesse: das Geld selbst. (Vgl. meinen Post vom 05.12.2012) In Streecks Buch ist nur an ganz wenigen Stellen vom Geld die Rede, meistens nur in abgeleiteter Form vom „Finanzkapitalismus“. An einer Stelle ist auch mal vom „ganz und gar virtuelle(n)“ Geld der „Zentralbanken“ die Rede (vgl. Streeck 3/2013, S.225), oder wieder an anderer Stelle vom „synthetischen Geld()“ (vgl. Streeck 3/2013, S.229). Gerade die Beschreibung von den sich selbst beobachtenden Gesellschaften, die auf sich selbst reagieren, bedarf mit Blick auf die Rolle des Geldes in ihnen der Korrektur: Es ist das Geld in den scheinbar nur ‚sich selbst‘ beobachtenden Gesellschaften, das auf sich selbst reagiert.

Diesem blinden Fleck in Streecks Analysen entspricht es auch, daß er die Problematik der mit dem Kapitalismus untrennbar verknüpften Wachstumsideologie nur am Rande anspricht und nur in einer Fußnote auf ein Buch von Meinhard Miegel (2010) verweist. (Vgl. Streeck 2/2013, S.185) Das Geld bildet nicht nur den blinden Fleck in Streecks Analysen, sondern eben auch in der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, so ängstlich sie auch darauf zu schauen scheint, wie das Kaninchen auf die Schlange. Das Geld ist nämlich ein Agent eigener Art, weil es die Bedürfnisnatur des Menschen so durchdrungen hat, daß dieser zwischen seinen Bedürfnissen und dem Geld nicht mehr unterscheiden kann. Und daß er zu dieser Unterscheidung nicht mehr fähig ist, bemerkt er nicht. Dazu aber in einem der folgenden Posts mehr.

PS: Aus aktuellem Anlaß stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Geheimdienste in der Gesellschaftsselbstbeobachtung spielen. Haben wir es mit einem gesellschaftlichen Unbewußten bzw. mit einem Unterbewußten zu tun, wie es das ‚Geheim‘ im Titel dieser Informationsagenturen andeutet? (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Ist es also prinzipiell geheim oder ist es potentiell auch bewußt, wenn Whistleblower und investigative Journalisten die geheim sein sollenden Informationen ans Licht der Öffentlichkeit zerren, wo sich doch ansonsten regulär parlamentarische Ausschüsse um die Belange der nationalen Sicherheit kümmern? Welchen Status hat diese globalisierte Gesellschaftsselbstbeobachtung, in der bei wechselnden Rechtsverhältnissen die Daten von im eigenen Land durch die Verfassung geschützten Staatsbürgern von Partnerdiensten, die diese Staatsbürger legal ausspionieren dürfen, wiederum mit Daten über Staatsbürger aus deren Ländern, ebenfalls vor ihren eigenen Gemeindiensten geschützt, eingetauscht werden können? Was sagt uns das über das nationale Recht in einer globalisierten Welt? Und was sagt uns das über das Geld?

Wie das Kantische „Ich denke“ sind diese Gesellschaftsbeobachter mit ihrem universellen Wissen-Wollen bei allen gesellschaftlichen Interaktionen dabei: keine digitale Kommunikation ohne transatlantische Apperzeption.

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